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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Elemente ankämpfend heranwächst. Alsdann bewahrt er zwergartigen gedrungenen Habitus, er quält sich zu einem Flachwuchse, die sonderbarsten Verzerrungen bildend, und während er durch alle Steinfugen seine Wurzeln treibt, bereitet er, anstatt sich mehr und mehr zu befestigen, sich selbst mit der Mauer zugleich unvermeidlich Ruin, indem ein gelegentlicher Sturm den ganzen Bau über den Haufen wirft.

Wie aber, möchte der Leser fragen, wenn ein solches Gewächs aufkeimt, ohne überhaupt eine Stütze in nächster Nähe zu haben?

Dann bietet es das Bild der lächerlichsten Einfalt. Es entsteht dann allerdings ein Baum, der anfangs wie jeder andere in Selbstständigkeit gerade und ohne Mißbildung aufwächst. Lange aber unterdrückt er seine angeborenen Triebe nicht, denn aller Consequenz zuwider treibt er, wie unsere kleinere Abbildung zeigt, auch ohne Stütze Arme und Wurzeln aus dem Stamme, sucht endlich an sich selbst sein Würgsystem in Anwendung zu bringen und betrügt sich solcher Art früher oder später um seine eigene Existenz.




Die schlagenden Wetter bei Burgk.

Bericht von der Unglücksstätte.

„Dreihundert Menschen verunglückt in den Kohlenwerken des Plauen’schen Grundes!“ - so lief am Morgen des zweiten August ein dumpfes Gerücht durch unser Dresden und warf einen grellen Mißklang in die eben begonnene Volkslust der bekannten „Vogelwiese“. Es sträubte sich das Herz, die entsetzliche Botschaft zu glauben, bis noch vor Abend authentische Nachrichten die erste Kunde in ihrem ganzen Umfange bestätigten, die Kunde von einem Unglück, wie es in solcher Massenhaftigkeit die Chronik des Bergbaus noch nicht verzeichnet hat, und das in demselben kleinen Sachsenlande, wo der „schwarze Diamant“ nur vor fünfundzwanzig Monaten erst seine Hekatomben gefordert, wo noch lange die Wunde nicht vernarbt ist, welche die Katastrophe von Lugau geschlagen hat!

Der „Plauen’sche Grund“, bekanntlich das hinter dem unweit Dresden gelegenen Dorfe Plauen sich öffnende, von Nordosten nach Südwesten laufende Thal der Weißeritz, welches jetzt die von der sächsischen Hauptstadt über Tharand nach Freiberg und Chemnitz führende Eisenbahn durchschneidet, bildet in seinem mittleren Theile ein sanft gehügeltes stundenbreites Gelände, in welchem sich Haus an Haus reiht und die stattlichen Gebäude der verschiedenen Dörfer und Ortschaften sich gewissermaßen zu einer einzigen ansehnlichen Stadt vereinigen; dieser Plauen’sche Grund zählt zu den bedeutendsten Industriebezirken des gewerbthätigen Sachsens. Zu den umfänglichsten Steinkohlenschachten des ganzes Grundes gehören die etwa dreiviertel Stunde südwestwärts von Potschappel bei dem Dorfe Burgk gelegenen Werke des Freiherrn von Burgk, die von den vorletztes Jahr im Plauen’schen Grunde gewonnenen etwa sechs Millionen Scheffeln Steinkohle allein zwei Millionen und siebenmalhunderttausend Scheffel zu Tage förderten und jetzt mehr als achtzehnhundert Arbeiter beschäftigen. Diese Burgk’schen Gruben nun, und zwar die Schachte „Neue Hoffnung“ und „Segen Gottes“ sind der Schauplatz des entsetzlichen Trauerspiels geworden, welches sicherlich bis in die zweite und dritte Generation hinab den zweiten August des Jahres 1869 zum größten Unglückstag des sächsischen Bergmanns stempeln wird.

Der Morgen war wunderschön, das Thal lag im wonnigsten Sonnenlichte und die Rauchfahnen aus den vielen hohen Fabrikschloten glänzten wie vergoldete Wolken, als ich, von der „Gartenlaube“ zur Unglücksstelle abgesandt, in Potschappel dem Bahnzuge entstieg. Ein alter Bergmannsinvalid harrte auf der Station der ankommenden Fremden und führte sie hinaus nach der Schreckensstätte, um so sich durch das Unglück seiner Cameraden ein paar Groschen zu verdienen.

Etwa eine Viertelstunde über Potschappel erblickt man am Fuße des Windbergs, dem beträchtlichsten Höhepunkte des Plauenschen Grundes, das ansehnliche Dorf Burgk oder Großburgk, mit seinem Schlosse, dem Wohnsitz des Freiherrn gleichen Namens, mit seinen mannigfachen Verwaltungs- und Beamtengebäuden und den vielen schmucken Privathäusern. Rechts an der Straße steht das „Huthaus“, der Versammlungsort der Bergleute, ehe sie anfahren. Kaum hatten wir die Blicke dem in allen Berichten von der Katastrophe genannten grauen Gebäude zugewandt, so sahen wir zwei Rüstwagen langsam die Straße herabfahren und neben und hinter ihnen Gruppen von Männern und Frauen einhergehen.

„Da bringen sie die Ersten,“ sprach unser greiser Führer und wischte sich eine Thräne aus dem verwetterten Gesicht. Dann zog er fromm seine Mütze ab und ließ den Zug vorüber.

Ja, es waren die Ersten, die ersten Särge nämlich, die mit den sterblichen Ueberresten von vier der Verunglückten dem nahen Friedhofe von Döhlen zugefahren wurden, zu dessen Kirchspiele Burgk mit seinen Kohlenwerken gehört.

„Die Frau dort,“ flüsterte mir der alte Bergmann zu, „hat mit einem Schlage den Mann, drei Söhne und drei Brüder verloren! Sie ist von Niederhäßlich am südlichen Fuße des Windbergs da.“

Die Frau hatte keine Thränen, mit versteinertem Antlitz wie eine Medusa zog sie ihren Passionsweg, aber dieser stumme Schmerz, diese ergreifende, thränenlose Verzweiflung – sie waren erschütternder, als der laute, erleichternde Jammer der Andern, und die starren Züge der Unglücklichen haben sich meinem Gedächtniß unverlöschlich eingeprägt.

Immer häufiger wurden jetzt die Gruppen uns begegnender jammernder und klagender Frauen und Mädchen. Mit jedem Schritte vorwärts wurde unser Gang zur Stätte des Unglücks schwerer.

Wir bogen jetzt in einen steilen Bergpfad ein und stiegen am Abhange des Windbergs in die Höhe. Endlich stehen wir am Ziele, rechts vor uns ist der „Neue-Hoffnung-Schacht“ und etwa tausend Schritte weiter liegen die Bauten des „Segen Gottes“; dazwischen der lange Stollen, der beide Schächte verbindet.

Es ist ein ausgedehntes Terrain, das wir nun betraten, von jenem unheimlich öden, ruß- und dampfgrauen Anblick, wie er allen dergleichen Kohlengruben und Bergwerken eigen zu sein pflegt. Eine Eisenbahn führt uns zur Linken nach der Station von Potschappel hinunter und zweigt sich in mehrere Nebenschienenwege nach den einzelnen Schächten ab, so daß jeder dieser letzteren seine Producte in directer Communication den großen Verkehrsplätzen draußen zusenden kann. Und auf diesen Bahnen rollen die Kohlenwagen hin und her, schnauben die Locomotiven, pfeifen die Schaffner, als habe es keinen zweiten August gegeben!

Auch die weite Hochfläche ist sehr belebt, aber von einem schmerzlichen Leben. Männer und Weiber sitzen in trübem Hinbrüten auf den Schlackenfeldern, gehen und kommen und nicken sich wehmüthig zu oder schütteln leidbewegt die Köpfe. Weiter vorn am Neuen Hoffnungsschacht aber hat sich dichtgedrängt ein buntes Menschengewühl zusammengeschaart. Gensd’armen und Militärposten sperren die Schachtgebäude und Kohlenschuppen gegen das andrängende Publicum ab, um nur die Angehörigen der Verwundeten zur Schauderstätte zuzulassen.

Auch mir wurde natürlich zunächst der Eintritt in die vom Cordon umzogenen Räume verweigert, bis ich, nach wohl stundenlangem Umherirren von einem Gebäude, einem Schuppen, einer Förderungsbrücke zur andern, mit Hülfe meines Geleiters einen der höheren Bergbeamten ausfindig gemacht und bei ihm mich gehörig legitimirt hatte. Mein Auftrag von Seiten der „Gartenlaube“, ich darf es wohl sagen, verschaffte mir die besondere Berücksichtigung, daß mir ein Steiger zum Begleiter auf einem Gang durch die Werke mitgegeben wurde.

In solchem Geleite trat ich denn meine weitere Wanderung an. Ueber eine Art von Brücke, die zum Transport der Kohlenwagen dient, ging es zunächst dem Lagerschuppen zu. Hier werden die Kohlenvorräthe aufgespeichert, jetzt war er zum Todtenhause umgeschaffen. Welches Schreckbild wartete meiner, sobald ich mir durch die Reihe jammernder Weiber und Kinder Bahn gebrochen hatte, die, gleich einer Schirmwand, die Todten umgaben! Ich habe die Morgue auf dem großen Sanct Bernhard in der Schweiz, habe die Morgue in Paris gesehen, – doch was sind ihre Schrecken gegen die grausige Scene in diesem Kohlenschuppen!


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_542.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2022)