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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

schlug das Herz schon von der Angst befreit hoch auf – er folgte dem rasch gehenden Bedienten unmittelbar hinter dem General.

„Wo steht Eure Halbbrigade in diesem Augenblick?“ fragte dieser, vor seiner Thür sich plötzlich um- und wieder zu Wilderich wendend.

„Sie ist in Hanau angekommen, Citoyen General!“ versetzte Wilderich auf gut Glück, da er fühlte, daß er mit einer Antwort keinen Augenblick zögern dürfe.

„Wann?“

„Gestern Abend!“

„In Hanau?“

„Zu Befehl!“

„Wie heißt Euer Divisionsgeneral?“

„Ney.“

„Und Euere Halbbrigade führt?“

„Major de la Rive!“ antwortete in steigender Beklemmung Wilderich, die Namen mit dem Muth der Verzweiflung hervorstoßend.

„Was habt Ihr bei dem Schultheißen zu melden?“

Wilderich stockte jetzt.

„Ich habe ihm einen Brief von einem gefallenen Cameraden zu bringen, der mich bat, ihn sofort zu überbringen, da Gefahr im Verzuge sei!“ sagte er endlich.

„Seid Ihr deshalb Eurer Abtheilung von Hanau hierher zuvorgeeilt?“

„Zu Befehl, Citoyen General!“

Der General trat auf die Schwelle der Thür, welche der Bediente ihm unterdeß diensteifrig aufgeworfen hatte … Wilderich sah ihn schon mit unsäglicher Erleichterung im nächsten Augenblick verschwinden – aber der General sagte, halb den Kopf zurückwendend, mit einem kalt trocknen Tone:

„Folgt mir!“

Wilderich konnte nicht anders als gehorchen. Er trat in das große, nach vorn auf die Straße hinausgehende Zimmer, das Prunkgemach des Hauses, das jetzt dem Commandanten als Empfangszimmer diente – der General winkte ihm mit der Hand heran, dem Fenster näher zu treten, dann sagte er:

„Gebt mir den Brief Eures gefallenen Cameraden.“

„Citoyen, General … Sie werden mich entschuldigen … ich habe dem Sterbenden gelobt, ihn nur dem Schultheißen selbst …“

„Ihr seid sehr gewissenhaft, mein lieber Exempt von den dritten Chasseurs zu Pferde! Ich achte das. Geht also hinauf, Euren Brief dem Schultheißen zu übergeben – da ich jedoch ein wenig neugierig geworden, was in dieser Depesche sein mag, die so eilig zu bestellen ist, so werde ich dabei sein. Hierher!“

Der General verließ das Zimmer wieder, schritt draußen über den Vorplatz der Treppe in das zweite Stockwerk zu und nachdem er mit Wilderich oben angekommen, klopfte er an eine Flügelthür, welche unmittelbar über der unten in seine eigenen Zimmer führenden lag.

Noch bevor er ein ‚Herein!‘ vernommen, öffnete er, winkte Wilderich, den er vorausgehen lassen wollte, einzutreten und trat selbst ein.

Der Schultheiß Vollrath bewohnte den über des Generals Empfangszimmer liegenden Raum – ein weites Gemach, das an den Wänden ringsum bis zu drei Viertel der Höhe mit Bücherrepositorien besetzt war. Ueber ihnen standen vergilbte Gypsbüsten, an den Wänden aber hingen eine Reihe alter Familienbilder; ein Paar Lehnsessel, Stühle mit hohen rohrgeflochtenen Rückenlehnen und ein Paar Tische mit Büchern und Schriften und Actenstößen darauf waren die ganze bescheidene Einrichtung dieses Wohngemachs, das nur an der Wand zwischen den beiden Fenstern den strengen und fast düsterm Eindruck, den es machte, verleugnete – hier hingen, wie es schien, allerlei Jugend- und Freundschaftserinnerungen des alten Herrn, zwei Pastellbilder von jungen Frauen, Silhouetten in runden Goldrähmchen, ein Bildwerk aus Haararbeit, das einen Tempel mit einer Thränenweide darstellte, und darunter eine alte, sehr vergilbte rothe Seidenschleife in einem noch älteren, noch vergilbteren Immortellenkranze.

Der Schultheiß Vollrath war ein Mann von über sechszig Jahren. Auf seinem Gesicht sprachen zwei hervorstechende Züge den ganzen Charakter des Mannes aus – die hohe und breite Stirn verrieth seine Intelligenz und Idealität und der weiche Mund eine unendliche Gutmüthigkeit, eine gefährliche Gutmüthigkeit, wenn man anders das schmale, so wenig ausgebildete Kinn als Zeichen jeglichen Mangels an Energie deuten durfte. Er hatte das dünne spärliche Haar hinter die Ohren zurückgestrichen – ein schwarzes Käppchen vertrat die Stelle der großen gepuderten Perrücke, die jetzt auf einem der Actenstöße vor ihm lag. So saß er an seinem Schreibtisch, die Stirn auf den Arm gestützt, wie in Sinnen verloren, mit der linken Hand wie in träumerischem Spiel die goldne Tabatiere drehend, die vor ihm lag. Bei dem hastigen Eintreten der zwei Männer fuhr er wie aufgeschreckt empor.

„General Duvignot,“ sagte er, diesem entgegenschreitend, „Sie sind es … und wen bringen Sie da?“

„Uebergebt jetzt Euren Brief, Chasseur!“ befahl der General trocken mit zornig gerunzelten Brauen.

Wilderich sah, daß er gefangen war. Er hatte von dem Briefe gesprochen – er konnte ihn jetzt nicht mehr zurückhalten. Er konnte auch den Schultheißen, der mit einem wohlwollenden Blicke ihm seine Augen zuwandte, nicht warnen. Er konnte nichts thun, als seinen Brief hervorziehen und, indem er ihn dem Schultheißen übergab, sagen:

„Er ist zu eigenen Händen und ganz privater, nur den Herrn Schultheißen persönlich betreffender Natur.“

Der Schultheiß nahm den Brief entgegen und betrachtete betroffen das Siegel; auch des Generals Blicke hefteten sich auf das Siegel. Der Schultheiß machte, ehe er das Schreiben aufriß, eine Bewegung mit der Hand, um den General einzuladen, Platz zu nehmen.

„Ich danke,“ versetzte dieser lakonisch und blieb, während der alte Herr das Siegel erbrach, stehen.

Wilderich hatte unterdeß Zeit, sich ganz das Gefährliche seiner Lage klar zu machen. Es war offenbar, daß der General Verdacht geschöpft, daß er die Maske, in welcher Wilderich stak, durchschaut … was sollte daraus werden, wenn er den Brief des feindlichen Feldherrn zu lesen bekam? Die Schlinge war um Wilderich zugezogen – sein letztes Hülfsmittel mußten jene erbeuteten Briefe bilden – oder er war verloren …

(Fortsetzung folgt.)




Thier-Charaktere.
Von Karl und Adolph Müller.
8. Aus dem Leben des Rehes.

Wenn irgend ein Thier des heimischen Waldes den Blick des Vorüberwandelnden fesselt, so ist es das Reh. So viel Stolz im Ausdruck verbunden mit Lieblichkeit und Anmuth, so viel Feuer bei sprüchwörtlich gewordener Sanftmuth, so rege Wachsamkeit inmitten des vertrauten Wandels – wie sollten solche in einem Wesen von schöner Gestalt und feinem Gliederbau vereinigte Eigenschaften nicht Theilnahme erwecken? Um so belohnender ist die Aufgabe des Forschers, durch Belauschen der geheimen Züge des Wesens jener schmucken Thiere sich mit demjenigen Theile desselben bekannt zu machen, welcher höheres Interesse erweckt, als Gestalt und Farbe, nämlich mit der Seele in ihren vielfältigen Thätigkeitsäußerungen. Wir brauchen dazu, Gottlob, keinen Zoologischen Garten, sondern können Das nach Waidmannsart in der grünen Natur besorgen.

Die drückende Hitze der zweiten Hälfte des Juli herrscht. Still, wie ausgestorben, ist der Wald. Die Sänger schweigen, denn ihre Gesangszeit hat geendet und der Federwechsel begonnen. Im Schatten eines Stangenortes steht oder sitzt der Rehbock, aber ihn flieht die Ruhe. Der mächtigste aller Triebe beherrscht ihn. Erregt eilt das Blut durch seine Adern und zuweilen durchzuckt’s ihn wie elektrischer Schlag. Mit einem Male springt er auf, lauscht in äußerster Spannung und vorgebeugter Haltung. Jetzt vernimmt er deutlich das „Blatten“ (Rufen) einer vermeintlichen Rehgeis; aber die Erfahrung hat ihn vielleicht gewitzigt, oder es zieht ihn nicht so sehr zur alten Geis, als nach dem jüngern Reh. Er folgt nicht dem lockenden Ton. Da greift die List des verborgenen Schützen zu dem Mittel, den feineren Ton des Schmalrehs nachzuahmen, und nun stürmt der erhitzte Bock der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_548.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2020)