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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Gegend zu, woher der bezaubernde Klang gekommen. Nur der junge unerfahrene Spießer folgt dieser Verlockung, um sich dem Rohr des verborgenen Jägers zum Ziel zu stellen; der alte Bock zeigt sich in unzähligen Fällen als sehr mißtrauischer Verliebter, der den verdächtigen Platz umkreist und sich den Wind vom Anstehenden holt, um ihn sofort mit „Schmälen“ auszuschelten und „flüchtig“ zu werden. Oder er wartet eine Viertel-, ja eine halbe Stunde, ehe er dem Orte langsam zuschreitet, den der „blattende“ Schütze längst verlassen hat, und wo er mit zu Boden gesenkter Nase die erkaltete Fährte des Feindes prüft. In gewitterreichen Sommern hält der Bock, wie überhaupt das Reh, das Entladen des Gewehrs wohl auch einmal für eine Naturerscheinung und bleibt zum Erstaunen des Fehlschießenden stehen.

Noch ehe die eigentliche Brunftzeit beginnt, äußert der Bock seine Erregung schon durch Kämpfe mit Seinesgleichen, sowie durch häufiges Jagen („Treiben“) der Geis, so daß die „Brunftplätze“ oft wie eine kleine Reitbahn in Bogen von einigen Klaftern im Durchmesser zertreten sind und von dem ungestümen Gebahren des Bocks zeugen. Einige Monate nach der Brunftzeit, im November, wiederholt sich, jedoch seltner und in harmloser Weise, das Jagen der Rehe, wodurch man zu der Annahme verleitet wurde, die Brunftzeit falle in diesen Monat, zumal da man es für unwahrscheinlich oder gar unmöglich hielt, daß ein verhältnißmäßig so kleines Thier, wie das Reh, vierzig Wochen „beschlagen“ gehe. Die Meinung der also Irrenden und Getäuschten wurde durch solche Untersuchungen der Geis zwischen dem Monat August und November bestärkt, welche das in dieser Zeit auffallend langsam sich entwickelnde, noch in gebundenem Leben verharrende Ei übersahen. Was der Professor Bischoff mit aller Sorgfalt und Sicherheit durch genaue Erforschung der Entwickelung dieses Eis nachwies, nämlich die wirkliche Begattung im August, überraschte wenigstens die besseren Beobachter nicht, denn auch schon die Wahrnehmung, daß bei dem meisten Wilde gerade die Feist- oder Fettzeit der Brunft vorangeht, diese letztere also eintritt, wenn das Thier in seiner körperlichen Vollkommenheit und Kraft steht, hätte von vornherein die alten Nimrode von ihrer verkehrten Ansicht, daß die wahre Brunft des Rehs in den Vorwinter falle, zurückbringen müssen, abgesehen davon, daß bei dem Bocke dessen beste Kräfte für die Neubildung des Gehörns im Spätherbst und den Winter hindurch verwendet werden.

Wir übergehen die Treibjagden zur Neigezeit des Jahres, wo der Bock das „Gehörn“ abwirft und schon darum und des Schrotschusses halber von dem echten Waidmann mit einem gewissen Widerstreben erlegt wird. Wir lassen ihn im neuen Jahre erst wieder „frisch aufsetzen“ und „ausrecken“ und suchen ihn in der schönsten Jahreszeit auf dem Pürschgange auf.

Der Mai hat das junge, helle Grün dem Walde entlockt, die Waldwege, Wiesen und Lichtungen hauchen den Vollduft ihrer Kräuter aus, unserm jetzt sich gar heimlich haltenden Reh ist im wahren Sinne des Worts der Tisch gedeckt, die Orte der „Aeßung“ grenzen nahe an die Stellen, wo es in Ruhe und Verdauung „plätzt“, wie der deutsche Waidmann treffend das Bloßscharren des Waldbodens zu Stand und Lager bezeichnet. Vorzugsweise ist’s der Bock, der seinem mißtrauischen und vorsichtigen Wesen gemäß sich zurückhält und zu seiner Sicherheit doppelte Vorsichtsmaßregeln anwendet. Büsche und Stämmchen an Schneißen und wildverschlungenen Pfaden tragen die Spuren des „Fegens“, wie man das Reinigen der mit Bast überzogenen frisch aufgesetzten „Stangen“ nennt. Leise „pürscht“ sich auf diesen Pfaden gegen Abend oder früh Morgens der Schütze heran, scharf nach rechts oder links blickend, mit gehobener Büchse, das dürre Reis unter sich, das seine Anwesenheit knackend verräth, sorgfältig vermeidend. Zehn Mal geht er vielleicht vergeblich nach einem "Capitalbock“, endlich führt ihn Ausdauer und Unverdrossenheit doch zum Ziel. Auch der wenn noch so gut „äugende“, „vernehmende“ und „windende“ Bock wird schließlich einmal überlistet, die Kugel fitzt ihm auf dem „Blatt“, und das Gehörn ersten Ranges ziert die Wand der traulichen Stube.

Und fürwahr, das Gehörn des Bocks verdient einen genauern Blick sowohl wegen seiner Beliebtheit bei Waidmännern, als auch in Hinsicht seiner Entwicklungsstufen und seines eigentümlichen Zusammenhangs mit den Geschlechtsorganen und dies um so mehr, als diese interessante Erscheinung bei unserem heimischen Wilde erst in neuerer Zeit gründlich erforscht worden ist. Bekanntlich heißt der das Gehörn tragende Knochenzapfen des Stirnbeins „Rosenstock“, der ringförmige, perlig-krausige Wulst unmittelbar auf denselben unten an den beiden Stangen aber die „Rose“. Die ersten Anfänge zur Gehörnbildung entstehen erst dann, wenn sich die zapfenförmigen Fortsätze des Stirnbeins gebildet haben. Dies geschieht beim vier Monate alten Kitzböckchen; unmittelbar darauf erfolgt die Bildung der immer höher werdenden Kolben und endlich im Winter das Ausrecken der drei bis vier Zoll hohen unzerteilten, mit schwacher „Rose“ an der Wurzel versehenen „Spieße“. Im December wirft er ab und hat nach Verlauf eines Vierteljahrs zum zweiten Mal bereits wieder aufgesetzt.

Das Abwerfen der Stangen ist bedingt durch das völlige Absterben und Außer-Verbindung-Treten derselben mit den Organen des Körpers. Unter den alten Stangen aber hat sich bereits das Leben eines neuen Gebildes geregt, indem die von Blutadern (Venen) umgebene äußere Kopfschlagader in ihren Verzweigungen sich zu erweitern beginnt, fortwährend sich zu verlängern strebt und der Blutandrang nach den Rosenstöcken, durch die alten Stangen gehemmt, nun das Heraustreten eines ringförmigen Gefäßwulstes um die abgestorbene Rose herum aus dem Hautrande des Rosenstocks bewirkt. Durch diesen Wulst und den weiteren Erguß von Blut in die zackigen Verbindungsflächen zwischen Rosenstock und Stangen werden die letzteren gehoben und gleichsam unterhöhlt und deren Abstoßen auch noch durch die vom vermehrten Blutzufluß erhöhte Hautthätigkeit wesentlich befördert. Aus diesem wulstigen Gefäßringe, der bis zur Reife des Gehörns mit den Kopfadern in Verbindung steht und Nahrung erhält, bildet sich später durch Ausschwitzung von Knochensubstanz die Rose, sowie denn durch baldiges Umwulsten der Flächen, worauf die Stangen saßen, in Gefäßanhäufungen zugleich auch die Grundlage zu einem neuen, durch Säftezuführung immer weiter wachsenden Gebilde, den Kolben, entsteht, aus deren knolliger Masse sich nach und nach gestaltend das Gehörn in den angegebenen Formen entfaltet. Die Stange erscheint beim zweiten Gehörn in der Regel ungefähr in der Mitte getheilt. Die nach vorn gebogene Sprosse ist als Nebensprosse zu betrachten, während der nach hinten in knieförmiger Biegung verlaufende Theil Fortsetzung der Stange selbst ist. Es kann jedoch diese Biegung auch im zweiten Jahre vorhanden sein ohne Nebensprosse. Der dritte Gehörnwechsel findet etwas zeitiger als der zweite statt, und der alte Bock wirft schon im November ab. Bei der zweiten Kniebildung der Stange geht die Biegung wieder der ursprünglichen Richtung gemäß nach vorn, während die neugebildete Nebensprosse nach hinten steht. Der Bock heißt dann „stark“ oder ein „alter Bock“, sollte auch irgend eines der Nebenenden fehlen, denn jene Biegung giebt ihm allein Anspruch auf diese Bezeichnung.

So oft das neugebildete Gehörn vollständig zu Knochen erhärtet, fängt der Bock sich des umhüllenden absterbenden Bastes - nichts weiter als eine Fortsetzung der Haut oder „Decke“ des Thieres in etwas veränderter Gestalt - durch Reiben („Fegen“) zu entledigen an, und im fünften oder sechsten Monate nach dem Abwerfen des alten Gehörns erscheint dann das Thier bewehrt mit der verjüngten Zierde seines Hauptes. Durch das Fegen an der Rinde und dem Baste junger saftiger Holzarten entsteht die verschiedene Farbe des Gehörns, welche nichts als eine Beizung durch den Bastsaft ist. Vornehmlich wählt der Bock in Laubholzwaldungen unter andern den Trauben- oder Hirschhollunder, den Faulbeerstrauch, sowie die Erle zum Fegen. Im Nadelholz fegt er gerne an der jungen Edeltanne und der Lärche, dadurch oft bedeutenden Schaden in den Waldheegen anrichtend, besonders wenn diese beiden Nadelholzarten wie gewöhnlich im Laubholz eingesprengt vorkommen.

Der Spießbock betreibt im Frühjahr das Fegen mit einem Eifer, daß er sich zuweilen bis zur völligen Unvorsichtigkeit hinreißen läßt und in komischer Stellung an Büschen und zarten Stämmchen seinen jugendlichen Uebermuth ausläßt. Kein Wunder, wenn das Gehörn des Bocks durch das Reiben an dem lohreichen Baste der Erle, Edeltanne und Lärche besonders dunkel erscheint: die Lohe gerbt die poröse Substanz des Gehörns eben schwarzbraun. Einen deutlichen Beweis für diese Behauptung geben die anfänglich hell erscheinenden Stangen und ihr allmähliches Dunklerwerden beim fortschreitenden Fegen, sowie das stets hellere Aussehen der mehr gebrauchten Gehörnspitzen („Enden“) im Freileben und des ganzen Gehörns im Gefangenleben des Thieres, bei welch’ letzterem die

Farbe der Stangen sogar abgewaschen werden kann. –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_550.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)