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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

die Städte ihren Beifall spenden, ist auf dem Boden der Nagelschuhe noch nicht heimisch geworden; nur mezza voce äußert sich dort die Sympathie. „Ja, wenn das der Fortschritt ist,“ sagte Einer, „dann ist's ja soweit nit g'fehlt mit ihm, da sind wir ganz nahe bei einander.“ „Grad so hab' ich mir's immer vorgestellt, aber fürbringen kann ich's halt nit,“ erwiderte ein Anderer. Hier und dort nickten die Leute einander zu, es war nicht nur ein gewisses Verständniß, es war eine Stimmung geschaffen unter denselben. Sie fühlten bereits das, was sie dachten, und diese Stimmung ist der mächtigste Factor, der eine versammelte Menge beherrschen kann.

Um gegen den Strom zu schwimmen, muß man ein guter Schwimmer sein, und die Einfachheit zu besiegen, fordert vielleicht am meisten Kunst. Darauf aber sind „Honoratioren“ nicht vorgesehen. Sie hatten auf eine knüppelhafte wilde Rede gewartet, um ihren Knüppel aus dem Sack zu lassen auf eine liberale Orgie, um dann ihre „patriotischen Phantasien“ an den Mann zu bringen: die Mäßigkeit entwaffnete sie. Sie selber empfanden das, denn keiner von ihnen ergriff das Wort. Unbehaglich schoben sie sich hin und her unter der bewegten Menge, und die äußere Würde reichte nicht mehr aus, um ihr Selbstgefühl zu ernähren. Sie fühlten, daß sie innerlich unbetheiligt – d. h. daß sie überflüssig waren.

Das Schicksal der Wahl aber erschien von dieser Stunde an gesichert, denn als der 12. Mai kam, waren sämmtliche Urwahlen des Bezirkes liberal. So verlief die Agitation zum ersten Wahltag an einem der gefeiertsten Punkte des Gebirgs. Nicht überall hatte die freisinnige Partei frische Vertreter und Wortführer gefunden, und darum war Grund, daß man der Hauptwahl mit Sorge entgegensah. Sie fand am 20. Mai statt.

Denken Sie sich ein kleines Städtlein im bairischen Vorgebirge: durch die Lücken, welche die Gassen bilden, schauen die Berge herein mit tiefblauem Tannenwald. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße sind dicht zusammengerückt, und einige stehen so schief, als ob es ihnen zu enge würde. Manche sind im alten Styl mit dem breiten Vordach und der braunen Altane, andere haben sich modern geputzt und tragen statt des verwitterten Florian ein elegantes Marienbild. Hier und dort thront ein altertümliches Thor oder ein steinerner Bogen und allenthalben ist das Pflaster entsetzlich. Das ist ungefähr die Physiognomie des Städtchens: eine seltsame Mischung von Stadt und Land. Auf dem Marktplatz steht nach alter Sitte der mächtige Brunnen, auch die Amtsgebäude stehen daselbst, und das große Wappen mit dem blauweißen Schild sieht aus, als ob die Häuser eine Dienstmütze trügen. Heute bietet die Stadt ein bewegtes Bild; alle Welt ist auf den Gassen. Auch die besagten Amtsgebäude sind in Uniform, denn eine blauweiße Flagge hängt bis auf die Erde hernieder, und die Buben springen darnach, ob sie die Zipfel erreichen können. Vor den Thüren drängen sich die Gäste – eine wahre Wagenburg ist vor den Wirthshäusern aufgefahren.

Es ist der Vorabend der Landtagswahl. Um die Vorberathungen nicht zu versäumen, sind die meisten Gäste schon Nachmittags eingetroffen, und der Conflict der Meinungen, der Wohnungs- und Nahrungssorgen erzeugt jenes liebliche Durcheinander.

Trotz des Regens stehen die Menschen in dichten Gruppen auf dem Platze. Jede Hausthür ist eine Tribüne, jeder Wirthshaussessel ein Parlamentssitz geworden. Mitten im Knäuel aber steht Einer, der in ungebundener Rede die Lage schildert und für den Gebrauch der Ellenbogen ein feines Verständniß besitzt. Beifallsrufe und Zeichen der Entrüstung unterbrechen den Redner unter seinem Regenschirmzelt, aber er läßt sich nicht unterbrechen; Neugierige aller Sorten umdrängen ihn, aber er läßt sich nicht von seinem Standpunkt verdrängen. Jeder spricht, Jeder hört auf seine eigene Weise. Der Eine hat die Pfeife im Mund, der Andere stemmt die Arme in die Seite, wasserdichte Naturen halten den Regenschirm in der Hand und sind zu faul, ihn aufzumachen. Das ist die Politik des Volkes.

Wenn man die Wahlmänner, die hier gekommen sind, von außen (und noch mehr von unten) betrachtet, so sieht man fast lauter Lederstiefel und schwarze Röcke, das heißt die Mehrzahl der Wahlmänner sind Bauern oder Geistliche, und bei manchen war es schwer, den Unterschied gleich zu entdecken.

An und für sich ist der Typus des altbairischen Landpfarrers weder unbekannt, noch zu genauerer Bekanntschaft verlockend, allein in dieser Scala wurde er wahrhaft interessant. Etwa hundert Cleriker waren hier versammelt, von der Gestalt des Falstaff herab bis zum hageren grausamen Shylock. Mit jener Zuversicht, welche bei unfeinen Naturen stets durch die Quantität erzeugt wird, wanderten sie durch die Straßen, bald in eifriger Rede, bald mit nachlässiger Güte an's Publicum sich wendend. Man fühlte, daß die Straße ein politisches Lager war, und wußte, wer das Commando in demselben besaß. Man wußte auch, wer die morgige Schlacht gewinnen würde. Hier und dort fiel die alte, vom Clerus ausgegebene Parolen „Wir wollen nicht preußisch, wir wollen nicht lutherisch werden.“ Der Parlamentär, den die Liberalen sandten, um Vergleiche zu offeriren, kam unempfangen wieder. Tapfer und rührig kämpfte die kleine Schaar, die die Fahne der Freiheit trug, aber der Sieg war den schwarzen Fahnen beschieden.

Wer hier auf der Straße stand, der konnte erkennen, wie das Volk die Politik behandelt. Der Grundfehler aber ist, daß der Begriff des Staates, daß der Sinn für’s Ganze so wenig entwickelt ist. Da der Horizont der Meisten nicht über die Sphäre ihres Hauses oder ihres Geschäftes hinausreicht, so hält Jeder dieselben Maßregeln, die im Hause nöthig sind, auch im Staate für möglich. Jedes Opfer, das der Staat ihm auferlegt, hält der Bauer nicht für ein Opfer, das er dem Ganzen bringt, sondern für eine Belästigung, für eine Chicane, die dem Einzelnen angethan wird, denn Jeder geht vom individuellen statt vom gemeinen Bedürfniß aus.

Diesen Zug haben die Geistlichen wohl erkannt und daran knüpfen sie ihre wirksamste Agitation. Allen gemeinnützigen Bestimmungen, die nicht ihrer Richtung dienen, gewinnen sie die subjective Seite ab und hemmen dadurch die Popularität derselben. So war es beispielsweise beim Schulgesetz. Auf das Heftigste wurde von Seiten des Clerus betont, welche Last hierdurch auf die Eltern, welcher Zwang auf die Familie fällt. Welche Wohlthat es aber ist für ein Land, wenn das Niveau der Volksbildung sich hebt, das ward mit keinem Worte gesagt (und vielleicht auch nicht empfunden).

Dem Clerus fehlt der staatliche Gemeinsinn. Berufs- und gewohnheitsmäßig ist er geneigt, sich mit einer Summe von Einzelnen abzugeben, der geheime Vertrauensmann ihrer Seelen zu sein. Er faßt mehr denn jeder Andere den Menschen als Individuum, und der corporative Begriff (die Vereinigung der Menschen) hat für ihn nur Interesse auf dem religiösen Gebiet. Mit einem Worte: sein Staat ist die Kirche. Bei den meisten Geistlichen wirkt schon die Erziehung in dieser Richtung; bei den wenigsten schafft die persönliche Bildung ein Gegengewicht. Deshalb lag auch der Schwerpunkt clerikaler Agitationen von jeher in der individuellen Pression. Dem Einzelnen gegenüber sind ihre Waffen am wirksamsten, denn sie sind in das feine Gift der Subjectivität getaucht.

Am Abend vor der Wahl war große Versammlung. Auf Tischen und Bänken standen die Hörer, die liberale Partei empfahl ihre Candidaten und lud zu Gegenvorschlägen in collegialer Weise ein. Bürger und Beamte, selbst Bauern traten als Redner auf aber kaum ein einziger Priester. Die geistlichen Herren agitiren nicht gern in Versammlungen, der Intelligenz des Ganzen gegenüber. Nur unter Parteigenossen, nur auf der Kanzel, wo die Einrede fehlt, streben sie nach Massenwirkung, im Verkehr des Lebens aber wenden sie sich stets an’s Ich, und das Ich ist die Achillesferse eines Jeden.

Ohne Täuschung über das, was kommen würde, ging man Abends auseinander – zur ruhelosen Ruhe. Obgleich alle Gasthäuser überfüllt waren, war man dennoch trefflich aufgehoben, denn die Bewohner des Städtchens stellten mit Freuden ihre Räume zur Verfügung. Die meisten waren wohlhabende Bürgerfamilien und die Staatszimmer des Hauses wurden heute geöffnet. An den Wänden hingen die Portraits der Eigentümer, er mit dem Blumenstrauß im Knopfloch, sie mit siedend rothen Wangen, Beide vom „Künstler“ schauerlich mißhandelt. Die Geschichte der heiligen Genofeva in Farbendruck und goldenem Rahmen wirkte ergänzend nach und wurde nur von einigen Heiligenbildern übertroffen. Auf den Betten war eine weiße gehäkelte Decke, auf dem Tisch ein noch niemals gefülltes Tintenzeug – das waren die Zeichen dieser Wohnlichkeit. Ueberall waren die Leute liebenswürdig

und zuvorkommend, überall zeigte sich der Stempel eines

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_617.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)