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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


sein möchte, und ich hielt mit meiner Besorgniß nicht zurück. Damit hatte ich indeß das Signal zu einem furchtbaren Sturm gegeben, der über mich hereinbrach. Der Mutterstolz fühlte sich durch meine Aeußerung gekränkt und erhob ringsum energischen Protest. „Ob ich meinen Baby nicht wieder erkennen werde, und wenn Hunderttausende von Kindern da wären!“ schrie mich eine riesige Bäuerin aus Yorkshire an und machte Miene, aus dem Gitter herauszutreten und mir mein Unrecht handgreiflich zu demonstriren, wie mir schien. „Das kann nur ein ‚Foreigner‘ (Ausländer) behaupten,“ eiferte eine Andere, und von rechts und links drangen wüthende Blicke auf mich ein. Schon fürchtete ich eine Scene wie bei Eröffnung der Ausstellung, wo der Unternehmer sich hatte flüchten müssen, und wollte mich meinerseits ebenfalls in Sicherheit bringen, da ward plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit nach anderer Seite hin abgelenkt. In höchster Aufregung drängte sich eine Frau in den Saal, und ein Polizeidiener ihr nach. Ihr Kind, welches sie als „einen sehr schönen, großen kräftigen Knaben“ beschrieb, war der Unglücklichen in der Nacht vorher aus ihrer Wohnung gestohlen worden, und auf der Polizeistation, wo sie davon Anzeige gemacht, hatte man gemeint, vielleicht habe es eine kühne Speculantin genommen und auf die Ausstellung nach Woolwich gebracht, um sich damit einen Preis zu gewinnen. Die Idee schien ganz plausibel zu sein, und da war nun die arme Mutter und ging in ihrer Herzensangst von Kind zu Kind. Sie sah sich jedes einzelne auf das Genaueste an, allein das ihrige war nicht unter den Hunderten, und bitterlich schluchzend zog das Weib unter dem Geleite ihres Schutzmanns wieder ab, von einer Fluth nicht eben liebsamer Titulaturen verfolgt, denn sämmtliche Ausstellerinnen sahen sich durch den Zwischenfall schwer an ihrer Ehre gekränkt.

Inzwischen war es Abend geworden, und einzelne Männer erschienen, um Frauen und Kinder nach Hause zu holen. Wie ich erfuhr, waren das jedoch nicht etwa die Väter der ausgestellten Kleinen, sondern die Brüder oder Vettern der Ausstellerinnen, die Väter hielten sich, vielleicht aus gerechter Scheu, von dem Schauspiele fern. Jedenfalls vermißten wir ihre Abwesenheit nicht. Alle Mütter nämlich, die wir danach fragten, erklärten ohne Ausnahme, ihre Babies seien die leibhaftigen Abbilder der Herren Papas, und wir hatten schon an dem Anblick der Kinder genug, um uns nicht nach dem der Väter zu sehnen.

Auch das Publicum entfernte sich allmählich, wie mich dünkte und wie ich zur Ehre des englischen Volkes constatiren zu können glaube, im Allgemeinen nicht sehr erbaut von der Ausstellung. Wenn es sich des Eindrucks auch nicht klar zu werden schien, ein dumpfes Gefühl mochte Alle durchdringen, daß diese aus bloßer materieller Speculation unternommenen öffentlichen Schaustellungen des Theuersten, was der Mensch auf Erden besitze, wenn sie auch nicht gerade unmoralisch zu nennen sind, doch unseren menschlichsten und darum heiligsten Empfindungen Hohn sprechen.

Ich aber fuhr mit der stolzen Ueberzeugung die Themse hinauf nach Hause, daß dergleichen Kinderausstellungen bei uns in Deutschland niemals Nachahmung finden und noch viel weniger Popularität gewinnen werden, obschon mindestens eine gute Seite derselben sich nicht in Abrede stellen läßt: sie tragen unleugbar dazu bei, daß, wenn gleich lediglich in Aussicht auf mögliche pecuniäre Vortheile, für die nothwendigste Grundlage alles künftigen leiblichen und geistigen Wohlbefindens, die Gesundheitspflege der Kinder, größere Sorge getragen wird, als dies, ohne solchen Anreiz, in den hier zunächst in Frage kommenden Schichten der Gesellschaft sonst der Fall sein würde. Und aus diesem Grunde sei unserm Verdammungsurtheile über die „Baby-Shows“ wenigstens die Abschwächung der „mildernden Umstände“ bewilligt.




Aus der Wandermappe der Gartenlaube.

Nr. 4.0 Bei „Helbigs“ in Dresden.

„Wo treffen wir uns heut’ Abend?“ frug mich ein liebenswürdiger Reisegefährte, dessen Bekanntschaft ich auf der Fahrt von Berlin gemacht hatte, als wir auf dem Bahnhofe in Neustadt-Dresden ausstiegen.

„Doch wohl bei Helbigs,“ lautete meine Antwort.

Hätte die „Gartenlaube“ ihre Leser blos in Deutschland, so brauchte es schwerlich einer Sylbe über das Was? und Wo? dieses allgemeinen Sammelpunktes, denn wer jemals in Dresden gewesen ist oder wem Andere von Dresden erzählt haben, dem ist „Helbigs“ ein ganz ebenso geläufiges Zug- und Schlagwort wie die Sixtinische Madonna oder die Brühl’sche Terrasse. Da indessen auch weit über dem Ocean drüben im Hinterwalde des fernen Westens, ja auf den weitentlegenen Inseln der Südsee und in den Tropenthälern von Java – kurz, überall, wo Deutsche wohnen, die „Gartenlaube“ eine treue Hausfreundin geworden ist, so dürfte eine Erklärung und Feststellung des Begriffs geboten sein.

Um von vornherein allen Illusionen zu begegnen, sei ohne weitere Umschweife gemeldet, daß dies magnetische „Helbigs“ weiter Nichts bedeutet, als einfach eine Restauration. Da jedoch dieselbe eine Lieblingsstätte der Erinnerung für viele Tausende von Fremden bleibt, welche auf kürzere oder längere Zeit in dem großen Gasthof Dresden einsprechen, so darf „Helbigs“ unbedingt auf den Rang eines classischen Bodens Anspruch erheben.

Auf einem der imposantesten und durch hundertfache Abbildungen bekanntesten Plätze der Residenz, westlich, doch in unmittelbarer Nähe der berühmten stattlichen Elbbrücke, dem italienischen Renaissancebau der katholischen Kirche, dem neuen Museum und der Rotunde des Theaters gegenüber, steht, dicht neben dem vornehmen Hôtel Bellevue, eine Reihe von niedrigen kleinen Häusern, einstöckig und so unscheinbar, häßlich und ärmlich wie möglich, bilden sie den auffälligsten Contrast gegen die genannten Prachtbauten. Nur eines, welches seine gegenwärtige Gestalt erst der neueren Zeit verdankt, zeichnet sich durch größere und schmuckreichere Verhältnisse aus, ohne darum das Niveau bescheiden bürgerlicher Wohnlichkeit zu überragen. Diese sieben Häuschen waren mit einigen anderen jetzt längst vom Erdboden verschwundenen einst die Niederlassung der italienischen Architekten, Bildhauer und Maler gewesen, welche August’s des Starken Sohn, der prunkliebende König August der Dritte von Polen, im zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts zum Bau der katholischen Hofkirche berufen hatte, und hießen deshalb bis auf unsere Tage herab „das italienische Dörfchen“. Nachdem die Italiener in ihre Heimath zurückgekehrt oder gestorben waren, siedelten sich in ihrer ehemaligen Colonie mehrere kleine Bier- und Weinschenken und später auch verschiedene künstlerische und literarische Notabilitäten Dresdens an, wie denn u. A. der Maler Vogel von Vogelstein, das erst unlängst hoch betagt verstorbene, als Harfenspielerin gefeierte Fräulein Aus dem Winckell und Helmine von Chezy genial-wunderlich-saloppen Andenkens Jahre lang hier ihr Zelt aufgeschlagen hatten, heute ist’s die Pforte, die Straßenfront oder, besser gesagt, die unschöne Kehrseite des Helbig’schen Etablissements, von dessen heiter-prächtiger Stromfaçade unsere Illustration ein getreues Abbild giebt, das freilich wohl die Linien, nicht aber die fast südlich-warme Farbe des Gemäldes, wie sie die milde Dresdener Landschaft überhaupt kennzeichnet, zur Anschauung bringen kann.

Auch Worte vermögen das nicht. Dennoch wollen wir versuchen, das Panorama unseres wackeren Künstlers durch ein paar Pinselstriche – aus dem Tintenfaß zu coloriren.

Vorerst denke sich der Leser den Complex jener sieben Häuser, welche ein interessantes und pittoreskes Labyrinth von einigen dreißig durch Stufen, Corridore und Gänge verbundenen Zimmern, Galerien, Veranden und Sälen umschließen, durch zierlich geschnitzte und ornamentirte An- und Vorbaue halb schweizerischen, halb gothisch-maurischen Styls zu einem Ganzen von gefälliger Wirkung vereinigt und den breiteren Vorsprung in der Mitte, der zugleich eine geschützte Halle bildet, mit landesfarbigen Flaggen und Wimpeln an hochragenden Masten decorirt; dann folge er mir die schmale Treppe an Häuschen Nr. 7, dem der Brücke am nächsten gelegenen, zum Paradies der „Elbterrasse“ hinab. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, die Zeit, wo man „Helbigs“ in seiner vollster Glorie erschaut. Schier unabsehbar dehnt sich eine ziemlich breite, mit Brettern gedielte Plateform längs der Elbe aus, über welche sie sich, durch eine leichte Balustrade begrenzt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_620.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)