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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Johann kann es dem Kutscher bescheinigen. In Thalerscheinen natürlich, und Du, Dore, sorge für Abendbrod.“

Die Kinder waren eingetreten. Ein behaglich durchwärmtes Zimmer nahm sie auf, die Tante winkte ihnen an’s Licht zu treten. Hell fiel der Lampenschein auf die beiden Aeltesten, Liddy und Elly standen im Schatten eines großen Lehnstuhls.

„Wie alt bist Du?“ fragte die Tante Hasso.

„Vierzehn Jahr.“

„Und Ursula?“

„Fünfzehn,“ lautete die Antwort.

„Weißt Du schon, was Du werden willst?“ wandte sie sich wieder an den Ersten.

„Jäger oder Landwirth,“ entgegnete er ohne sich zu besinnen.

Ein mißtrauischer Blick schoß aus Rosinens Augen.

„Spukt Dir etwa Gülzenow im Kopf?“ fragte sie rauh. „kann’s vererben, wem ich will, ich kann es alle Tage verkaufen, darauf mache Dir keine Rechnung.“

Hasso antwortete nicht. Der ehrliebende Knabe fühlte sich halb verletzt, halb verlegen durch einen Ton, der fremd wie nicht in seine Welt gehörig in sein Ohr klang.

„Landwirth werden ohne sichern Güterbesitz? Unsinn!“ fuhr die Tante fort.

„Was man nicht hat, kann man erwerben,“ sagte Hasso mit rasch erwachtem Selbstbewußtsein, „wenn man keine eigne Wirthschaft hat, arbeitet man in fremder,“ setzte er bescheiden hinzu.

Seine ehrliche Miene, der offene Blick, mit dem er die Tante ansah, besänftigte diese.

„Gut, wir wollen sehen, was sich aus Dir machen läßt,“ sagte sie freundlicher und fuhr dann, Ursula’s kleine gedrungene Gestalt, ihre wenig hübschen Züge mit bedenklichem Kopfschütteln betrachtend, fort. „Für Dich wird’s eine Stiftsstelle thun, eine Leibrente oder etwas Derartiges. Wo hast Du nur Dein Gesicht her? Von Vater und Mutter nicht, das waren schöne Leute.“

„Ich denke, vom lieben Gott,“ sagte Ursula gelassen.

„Nun, so bedank’ Dich bei ihm!“ lautete die rasche Entgegnung.

Dann winkte Tante Rosine den Zwillingen, näher zu treten.

„Euch kenne ich ja noch gar nicht,“ sagte sie. „Ihr armen Dinger wurdet nach des Vaters Tode geboren, und seit er todt war, was sollte ich da bei Euch! Kommt, laßt Euch ansehen. Himmlischer Gott, wie seltsam!“ rief sie aus, als jene schüchtern und verlegen dem Gebot gehorchten. „Ihr gleicht Euch ja, wie ein Tropfen Wasser dem andern. Kommt her, Ihr Blumen an einem Stengel, Ihr blauäugigen Goldköpfchen! Was Ihr für hübsche Narren seid, und nun diese Aehnlichkeit! O, so etwas amüsirt mich, Ihr allerliebstes kleines Spielzeug Ihr, so recht zum Verziehen geschaffen!“

Sie setzte sich auf einen Lehnstuhl, zog die Kinder zu sich heran und betrachtete sie mit bewundernden Blicken.

In der That rechtfertigte der holde Anblick wohl die Bewunderung, wenn auch allerdings nicht den lauten unverständigen Ausdruck derselben. Die Kinder waren wunderhübsch. Sie sahen mit ihren rosigen Gesichtern und blonden Haaren in der düstern Trauerkleidung gerade aus wie zwei Moosrosenknospen, die lauschig aus der dunkeln Umhüllung des Mooses herausblicken. Eine genau wie die andere, nur der dunkle kleine Leberfleck, den Elly über dem rechten Auge hatte, machte es möglich sie zu unterscheiden.

„Ihr hübschen Affen, Euch werde ich lieb haben!“ sagte die Tante und küßte die Kinder. „Könnt Ihr schon was, seid Ihr schon in die Schule gegangen?“

„Zu Schwester Ursula,“ lautete die Antwort der Kleinen.

„So, das ist ja gut, wenn Du dazu zu brauchen bist,“ sagte die Tante mit einem wohlwollenden Blick auf Ursula. „Was habt Ihr bei Ursula gelernt?“

„Lesen, schreiben, rechnen, decliniren –“

„Laßt’s gut sein, Kinder,“ fiel die Tante aufgeheitert dazwischen. „Ihr könnt ja schon sehr viel. Vielleicht lernt Ihr auch noch singen und dann ist vollends Alles gut.“

„O wir können schon, können schon,“ versicherten die Zwillinge und stimmten gleich, die Wahrheit der Aussage zu bekräftigen, unaufgefordert eines der lieblichen Kinderlieder an, die sie von der Mutter gelernt, als diese gesund war und womit sie ihr manche bange Leidensstunde verkürzt hatten. Die feinen Stimmen klangen hell wie eine silberne Glocke, nicht ein unreiner Ton beleidigte das musikalische Ohr der Tante. Sie sang leise mit, auch Hasso und Ursula folgten aus alter Gewohnheit. Hasso’s hoher Knabentenor und Ursula’s weicher Alt vollendete die Harmonie. Tante Rosine küßte die Kinder nach der Reihe, als das Lied aus war.

„Nun habe ich, was ich für mein Leben brauche,“ sagte sie und rieb sich vergnügt die Hände.

Dore rief zum Abendbrod. Es war vorzüglich zubereitet und würde ein andermal den Kindern wohl trefflich gemundet haben, aber nach dem Lied regte sich das mühsam unterdrückte Heimweh in den beiden Aelteren und bei den Kleinen meldete sich der Sandmann, der ihnen zuletzt die Körner so grob in die Augen streng daß alles Aufreißen nichts mehr half.

Die Tante machte der Qual ein Ende, indem sie sie sämmtlich zu Bett schickte, die Ermüdung der Reise auszuschlafen und gestärkt zu einem neuen Lebensabschnitt zu erwachen.

Sie selbst wanderte, die Arme gekreuzt, noch lange nachdenklich im Zimmer auf und ab. Es war immerhin keine Kleinigkeit, einen so einsamen Hausstand plötzlich um vier Menschen vermehrt zu sehen, die Alle ihren besonderen Anspruch an Liebe und Fürsorge erhoben. Der Entschluß, die Kinder ihres Bruders zu sich zu nehmen, in einer enthusiastischen Aufwallung gefaßt, war nun ausgeführt. Ein wahrer Gedankensturm ergriff sie, eine Felsenlast neuer Pflichten schwerer Verantwortung fiel auf ihre Seele. Es ist ein so ungeheurer Sprung von einem bloßen Project bis zu dessen Ausführung.

Sie hatte sich Hasso nicht so groß, so, sie wußte selbst nicht wie, gedacht. Es war etwas in Ursula’s ruhiger Miene, was sie beirrte. Sie ahnte ein Uebergewicht, das Uebergewicht, das ein harmonisch gestimmtes Gemüth immer über ein solches behaupten wird, das jeder leidenschaftlichen Regung nachgiebt – sie schaute in eine Tiefe, die ihr fremd, unverständlich war.

„Ach was!“ – Mit einer energischen Bewegung riß sie ihre Haube vom Kopf und warf sie in die entfernteste Ecke des Zimmers. Dann klingelte sie.

Johann trat ein.

„Was sagte der Kutscher, der die jungen Herrschaften hergebracht, zu meinem Neffen? Er ist so lange im Hause gewesen, war der Abschied sehr traurig?“

„Ich kann’s nicht wohl sagen, ich habe nicht hingehört, aber ich glaube, er bat den jungen Herrn, ihn in Dienst zu nehmen, wenn er Herr von Gülzenow sein würde,“ entgegnete Johann mit höchst unschuldiger Miene.

Tante Rosine griff nach dem Kopf, aber die Haube saß nicht mehr auf demselben und das brachte sie zu sich.

„Das ist vorsorglich,“ sagte sie in einem gleichgültig sein sollenden Ton. „Mein Neffe versprach es ihm doch?“

„Ich weiß nicht, ich habe nicht hin gehört, ich denke, der junge Herr werden wohl gesagt haben. ‚Erst haben, Freundchen, dann –‘“

Eine dritte Bewegung der Hand nach dem Kopf.

„Es ist gut, Sie können gehen, Dore soll kommen!“

Dore kam, ihre Herrin zu entkleiden. Die Kinder in dem an das Schlafzimmer der Tante grenzenden Gemach schliefen den tiefen, festen Schlaf der Unschuld, sonst würden die Kleinen, erschrocken über den ungewohnten zänkischen Ton der Unterhaltung, furchtsam die Decken über den Kopf gezogen und Ursula’s Herz mit noch schmerzhafterer Sehnsucht nach dem himmlischen Frieden, der liebevollen Einigkeit der verlorenen Heimath zurückgeblickt haben.


„Der Herr Vormund sind gefälligst ein Esel,“ erklärte Tante Rosine, nachdem sie das Schreiben gelesen, das Hasso ihr am nächsten Morgen im Auftrage desselben überreichte. „Weißt Du, was er mir schreibt?“ fragte sie und sah den Knaben forschend an.

Dieser verneinte.

„Wenn man Dir nur glauben könnte, Jungens lügen alle,“ erklärte die Tante.

„Ich lüge nicht,“ versicherte Hasso.

Die Tante sah ihn noch immer mißtrauisch an.

„Hat er Dir auch nicht erzählt. daß ich sehr reich bin und daß ich die Verpflichtung habe, Euch mein Geld zu vermachen?“ fuhr sie in heftigem Tone fort.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_645.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)