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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

mehrerer Landstädte mit seinem Talent beglückt, welche auf der Landkarte aufzufinden selbst dem geübtesten Geographen einige Mühe verursachen würde, als ihn plötzlich in Mannheim ein wirklicher und veritabler Engagementsbrief an das Hoftheater in Mecklenburg-Schwerin mit den ausschweifendsten Hoffnungen erfüllte. Kölbel (Sturm und Koppe), dessen Theateragentur damals einzig und allein den Verkehr zwischen den Mitgliedern und Bühnenvorständen vermittelte, überraschte Ascher mit der Offerte in Schwerin drei Gastrollen zu geben, jede mit einem Honorar von drei Friedrichsd’or belohnt, und nach dem glücklichen Ausfall derselben mit der Aussicht auf dauerndes Engagement. Das war nun Alles recht schön und gut; allein wie hinkommen, die enorme Strecke aus dem badischen Lande in’s Reich der Stockprügel, eine Reise, die damals noch kein Schienenweg abkürzte? So schlängelte sich der arme Mime zu Fuß, wenige Gulden in der Tasche, freilich auch mit wenig Gepäck beschwert und belästigt, durch ganz Süddeutschland, bis nach Hameln, wo das ganze Vermögen des strebsamen Schauspielers den geringen Effectivstand von einem Thaler auswies. Ein Thaler war selbst damals wenig, der Weg von Hameln nach Schwerin auch zu jener Zeit sehr weit. Vor der Hand wurde der Stellwagen bis Hannover benutzt, dessen Fuhrgeld die riesige Summe von zwanzig Silbergroschen verschlang, so daß Ascher in der Vorstadt Linden in einer kleinen Kneipe, die einem früheren Schauspieler Wutke gehörte, mit fünf Silbergroschen baaren Geldes im Seckel, in der Hauptstadt des Welfenlandes seinen trübseligen Einzug hielt.

In dem Stellwagen hatte ihn ein günstiges Geschick mit einigen Kunstgenossen, einem Tenoristen Pfeiffer – der einige Jahre später in Bremen verunglückte –, dem Theaterinspicienten von Hannover und dessen Frau zusammengewürfelt. Rasch war gegenseitig „das Handwerk“ herausgewittert, und Ascher erhielt den dringenden Rath, sich doch in Hannover dem Intendanten Baron von Schulte und dem Director, dem bekannten Herrn von Holbein vorzustellen, da dem dortigen Hoftheater ein jugendlicher Liebhaber fehle. Jetzt seien zwar noch vier Wochen lang Ferien, allein wenn ihm die Direction ein Engagement zusichere, so wär’ es ja ein Leichtes, darüber hinwegzukommen.

So märchenhaft, und nach dem damaligen Theaterusus mit Recht, dem Wanderkomödianten die Idee vorkam, das Glück könne ihm eine Anstellung am Königlichen Hoftheater zu Hannover in den Schooß werfen – mit derselben Berechtigung konnte er nach seiner Ansicht den Haupttreffer der großen Lotterie ohne Loos erwarten – so blieb er doch in seinem Gasthaus sitzen, hauptsächlich weil er nicht wußte, wo sonst für ihn ein Bissen für den knurrenden Magen, ein Kissen für das müde Haupt zu finden sei. Also wurden zuerst bei Freund Wutke nicht nur die letzten fünf Groschen verkneipt, sondern in Hoffnung auf bessere Zeiten sogar das Budget überschritten. Da das schmale Bündel außer einiger weißen Wäsche und den damals bei jedem Künstler unentbehrlichen Tricots keine salonmäßigen Kleider barg, so lieh ihm der gutmüthige Kneipier den eigenen schwarzen Anzug, um der Entscheidung seines Geschickes standesgemäß entgegen gehen zu können. Der Intendant war mit dem König auf der Jagd, Herr von Holbein verreist. Letzterer würde morgen zurückerwartet. Mit diesem trostlosen Bescheid mußte Ascher an der Schwelle des Kunsttempels umkehren. Das Deficit war einmal da und wuchs, wie heut’ zu Tage in allen Staatshaushaltungen, lawinenartig. Selbst mit dem seltenen Luxus eines Glases Punsch regalirte sich der aufgeregte Wanderer.

Herr von Holbein empfing den Jüngling am folgenden Tag mit kühler Herablassung, gestattete ihm aber, sich Nachmittags im Theater einzufinden, um auf der Bühne einige Scenen aus Don Carlos vorzutragen. Auch der Herr Intendant, der von der Hofjagd zurückgekehrt sei, werde dieser Probe beiwohnen. Mit einem Gefühl, das etwas nach Hochgericht schmeckte, betrat Ascher nach eingenommenem bescheidenen Diner die Bretter, auf denen sich sein Geschick entscheiden sollte.

Aus dem Parterreraum, der in undurchdringlicher Finsterniß vor ihm lag, schallte die Bitte des Directors herauf, gefälligst anzufangen. Ein leises Gemurmel rief die Vermuthung hervor, daß der Vorstand des Hoftheaters Gesellschaft mitgebracht habe. Ascher begann nun die einzelnen Scenen, Monologe und Phrasen, soweit sich selbe zusammenhanglos bringen ließen, seinem unsichtbaren Publicum vorzutragen; als sich seinem feinen Ohr das leise Herüberschleichen gegen die Thür und das Knarren der letzteren hörbar machte. „Aha,“ dachte er mit wahrem Galgenhumor, „die hätte ich hinaus gespielt, nun lassen sie mich hier allein Don Carlos declamiren bis in alle Ewigkeit.“ Während einer Pause der Erschöpfung rief ihm Herr von Holbein, der also noch anwesend war, zu: „Bitte, gedulden Sie sich einen Augenblick, ich habe meine Frau holen lassen, damit selbe Sie in einigen Scenen unterstütze.“ –

Herr von Holbein hatte sich nämlich, nach seiner Scheidung von der bekannten Maitressen-Gräfin von Lichtenau, auf’s Neue mit der trefflichen Schauspielerin Johanna Göhring verheirathet. Diese erschien nun, während auf der Vorderbühne mit einer gewissen Feierlichkeit die Lampen angezündet wurden, bei deren Schein man im Zuschauerraum den Herrn Intendanten in Begleitung einiger Kunstfreunde erblicken konnte. Frau von Holbein sprach dem schüchternen Schauspieler – Ascher war zu jener Zeit wirklich schüchtern – Muth ein, und so spielte dieser nebst einigen Don Carlos-Fragmenten noch die große Scene des Mortimer mit der Maria, und einige Bruchstücke aus Holbein’s „leichtsinnigem Lügner“.

Nach dieser Probe erklärte Holbein, daß der Debütant ihm eben so wohl gefallen habe, als dem Herrn Baron von Schulte, daß er aber nicht berechtigt sei, ohne Einwilligung des Kronprinzen, der sich jede wichtige Entscheidung in Theaterdingen vorbehalten habe, ein festes Engagement abzuschließen. Wenn er also das Probespiel nach der Rückkehr des hohen Herrn, die in acht Tagen erfolgen werde, wiederholen wolle, so könne er, wenn er allerhöchsten Ortes gefiele, auf eine dauernde Anstellung rechnen. Das war nun Alles recht schön und gut, aber – acht Tage warten! – Ascher kehrte mit einer nicht zu verkennenden Pantomime und wehmüthig-ironischem Lächeln die leeren Taschen um.

„Das hat nichts auf sich,“ antwortete der Chef, „ich gebe Ihnen fünf Thaler Wartegeld für –“ „die Woche,“ erwartete Ascher zu hören, dem der Schlußsatz „für jeden Tag“ wie Sphärenmusik in die Ohren klang! –

Das ganze Weltall löste sich für Ascher in die harmonischen Worte auf: „fünf Thaler für den Tag.“ Leichte Flügel brachten ihn in die entlegene Kneipe zurück, jubelnd schüttelte er seinen gutmüthigen Wirth mit den Worten: „Fünf Thaler den Tag! Sie sind heute mein Gast für Alles, was gut und – billig ist. Fünf Thaler! Ein Feenmärchen! Nicht wahr, ich träume nicht? Es ist keine Seifenblase, die beim Erwachen zerrinnt? Fünf wirkliche Thaler, ich bin der Rothschild unter den Schauspielern!“ So jubilirten tausend Stimmen in und aus dem jungen Mimen, dessen Angst nur in der Befürchtung lag, der Kronprinz möchte zu früh zurückkommen.

Endlich am neunten Tage meldete der Theaterdiener, Seine königliche Hoheit habe das Probespiel: Scenen aus „Cabale und Liebe“, „Maria Stuart“ und „Leichtsinniger Lügner“ auf heute Mittags ein Uhr befohlen. Als Ascher klopfenden Herzens auf der Bühne erschien, wurde ihm mitgetheilt, daß der Kronprinz die Scenen im Costüm sehen wolle. Da Seine Hoheit, der nachmalige, jetzt verflossene König von Hannover, schon damals nicht sehen – wollte, so hatte jener Befehl allerdings etwas peinlich Komisches an sich.

Das Haus war vollständig erleuchtet, der Thronfolger mit seinem ganzen glänzenden Hofstaat harrte der Dinge, die da kommen sollten. Der Umstand, daß unserm jungen Helden noch an demselben Tage ein zweijähriger Contract mit jährlich achthundert, eventuell tausend Thalern Gehalt, und fünfzig Thaler Wartegeld für die Ferienzeit vorgelegt wurde, bewies, daß man „Allerhöchsten Ortes“ seine Leistungen mit Wohlgefallen aufgenommen habe; und als wirklicher königlich hannoveranischer Hofschauspieler verließ Ascher jubelnd und selig das Haus.

Schon nach seinen ersten Rollen, von denen die Bestätigung des Vertrages abhängig gemacht war (Richard Wanderer und Wildenberg in Raupach’s Geschwister), wurde ihm diese zu Theil, und ein glücklicherer Künstler als er lebte wohl kaum in den weiten Räumen des deutschen Vaterlandes. Armer Junge, schon naht das Mißgeschick und schleicht auf leisen Socken an Dich heran, schleicht heran in Gestalt eines Ereignisses, dem Dein Künstlergemüth mit freudiger Erwartung entgegenjauchzt!

Seydelmann, der große Seydelmann, wurde zum Gastspiel erwartet. Sein erstes Auftreten als Carlos im „Clavigo“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_732.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2022)