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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Hütte gelegt, ohne dieselbe einzudrücken. Er beschloß, sich einen Ausweg an’s Tageslicht zu schaffen, und grub Wochen und Monate, während er sich mit dem Käsevorrath ernährte, der in seiner Hütte lag, und seinen Durst an einem Wasserfaden stillte, der durch dieselbe rieselte. Nach einem Vierteljahre endlich sah er sich am ersehnten Ziel. Bis zum Schatten abgemagert erreicht er sein heimathliches Dorf Avent, wo die entsetzten Einwohner vor ihm als vor einem Gespenst entfliehen, bis ein zitternder Priester es wagt, unter Beschwörungsformeln sich ihm zu nahen, ihn wieder erkennt und den Seinen zuführt.

Als wir auf die walliser Seite hinabstiegen, war es noch ziemlich früh am Morgen, und wir ahnten nicht, daß die Hirten, mit denen wir zusammentrafen, die letzten menschlichen Wesen waren, welchen wir in den nächsten zwölf Stunden begegnen sollten. Wie fröhlich hüpften die Kleinen über Geröll und scharfkantige Steine jetzt hinab in das todeseinsame Thal! Nicht ganz so munter schritten die Großen, ich darf es ehrlich gestehn; doch für die gemarterten Füße gab die kühle Fluth des Sees von Derborence ein erquickendes Bad. Diesen See, den der Bergsturz durch Stauung der Lizerne gebildet, die hinabströmt in’s Wallis, hat Calame durch eines seiner unsterblichen Bilder verherrlicht. Wie ein schwermuthvolles Auge blickt die grüne Tiefe aus der weiten, trostlosen Einöde.

Bis hierher waren wir einem Pfade gefolgt, den hier und da auch ein Touristenfuß betritt, um über den Pas de Cheville in’s Rhonethal zu gelangen. Wir aber gedachten die vor uns sich erhebende steile Gebirgswand zu erklimmen, um von dort aus über den Sanetschpaß in’s Bernerland hinabzusteigen. Keiner von uns hatte eine klare Vorstellung von der Aufgabe, die wir uns gestellt; unser Führer übernahm deshalb jetzt die Leitung des Zuges, ohne daß wir Erwachsenen die Verantwortlichkeit darum minder gefühlt.

Noch einmal ging es über die Felsentrümmer der Diablerets, jetzt aber aufwärts. Nach zwei Stunden befanden wir uns in einem engen Gebirgskessel, in welchem die Milliarden Atome eines aus ungeheurer Höhe herabstürzenden Staubbachs zu einem schäumenden Wasser sich vereinigen. Hier wurde das Mittagsmahl eingenommen. Flugs war das mitgebrachte Fleisch zerschnitten und vertheilt, und wer kein Brod mehr hatte, bekam immer noch etwas von seinem Nachbar; einen kühlenden Trunk schöpfte man aus dem Bach.

„Wir haben jetzt eine böse Strecke zu überwinden,“ sagte der Führer zum Doctor. Sie war in der That „böse“. Schon der erste Angriff auf die vor uns anstrebende Bergwand ließ manches Herz ungestümer pochen, denn unter den Tritten der Ersten, welche sich mühsam genug mit Anwendung von Händen und Füßen an der Felsmasse hinaufzogen, rollten gewaltige Steine hinunter und drohten die nachfolgenden Kletterer zu tödten, wenn nicht ein rechtzeitiges Commando der Linie der Ansteigenden eine schräge Richtung anbefohlen hätte. Dies jedoch war nur das Vorspiel des wirklichen Drama’s, das uns erwartete; denn plötzlich befanden wir uns vor einer thurmhohen senkrechten Kalksteinwand, deren hie und da zu Tage tretende Schichtenköpfe von etwa vier Zoll Tiefe sich als einzige Stützpunkte für Hände, Füße oder Kniee anboten. Die Gemsjäger, welche diese Felsentreppen benutzen, heißen sie den porteur de bois. In aller Stille wurden die Rollen unter den Lehrern vertheilt: je einer derselben folgte einer Anzahl Cadetten, von denen die gewandtesten vorangeschickt wurden. Auf die erste Stufe, die mindest gefährliche, weil am tiefsten in den Felsen eingeschnitten, mußte Einer nach dem Andern gehoben werden, da sie für ein gewöhnliches Menschenkind sonst nicht leicht zu erreichen war. Von hier ab hieß es, die Sprossen der Felsenleiter je nach den Verhältnissen sich selber wählen. Langsam, aber stetig ging es aufwärts; nur wo die Noth es gebot, einem ängstlichen und deshalb allzuhastigen Kletterer mehr Ruhe anzuempfehlen oder ihm eine sicherere Stufe zu weisen, fiel ein ermahnendes, freundliches Wort. Mancher herrliche Zug von Aufopferung kam hier zum Vorschein. Auf eine der schwierigsten Stellen hatte sich ein fünfzehnjähriger Held, nachdem er als der Erste das schwindelnde Ziel gewonnen, wieder zurückbegeben. Sich mit einer Hand an einem Vorsprung festhaltend, reichte er die andere den Nachkommenden hülfreich zu, nahm ihnen die hier nur zu lästigen Stöcke ab, langte sie einem höher Postirten zu und bog sich oft mit dem ganzen Oberleib tief hinunter, um auch den kürzeren Arm eines kleineren Cameraden noch zu erfassen und dem Erschöpften hinaufhelfen zu können. Seinem vortrefflichen Beispiele folgten dann Andere; zwei, drei legten sich als Vorspann an einen langen Alpenstock und ergötzten sich daran, einen armen, keuchenden Nachzügler die obersten Stufen hinaufzuziehen. Endlich erschienen auch der Doctor mit dem Führer als die Letzten, und Beide wurden mit begeistertem Zuruf empfangen. Man fühlte allgemein, daß man etwas Rechtes brav überstanden hatte, und schritt dann um so muthiger dem freilich noch fernen Ziele zu. Als endlich nach zweistündigem anhaltenden Steigen der über achttausend Fuß hohe Kamm des Gebirges gewonnen war, von wo ein prächtiges Schneefeld hinabführt auf das Plateau des Sanetsch, da kannte der Jubel keine Grenzen, und die Freuden des Winters wurden im Hochsommer mit einer glänzenden Rutschpartie vorausgenossen. Im Nu waren die Stöcke unter die Beine genommen und sausend ging es die geneigte Fläche hinunter.

Auf den Rutsch im Schnee folgte ein stilles Hinbummeln ohne Sang und Klang, ohne Excursionen nach rechts und links, ein Zeichen herannahender Ermüdung. Die Vegetation war außerordentlich dürftig geworden, die Rhododendronbüsche waren längst verschwunden und nur hier und da erfreute ein seltenes Edelweiß mit seiner sammetnen Blüthe den glücklichen Finder. Dunkelbraune Schiefergebirge stiegen jetzt zu unserer Rechten empor und ihre finsteren senkrecht abstürzenden Wände schienen auch einen Schatten auf die eben noch so fröhlichen Herzen zu werfen, als plötzlich ein neues Ereigniß dem Geiste frische Spannkraft verlieh. Wir waren an die Morge gelangt und suchten lange vergeblich nach einer Furth. Der Sanfleurongletscher, aus welchem dieser Bach entspringt, hatte in Folge der glühenden Tageshitze dem Wasser reichlichere Nahrung gegeben und nun galt es, dasselbe zu durchwaten. Schuhe und Strümpfe wurden ausgezogen, der natürliche Trieb mit dem Wasser zu pantschen und zu plätschen, so unwiderstehlich er für den lieben Bengel sonst ist, war hier schnell abgekühlt, denn der Bach, welcher den Erwachsenen selbst an die Kniee reichte, wies nur drei Centigrad auf dem Thermometer. Der letzte Rest des mitgenommenen Proviants wurde hier vertheilt und vorwärts ging es sogleich, um etwaigen Erkältungen vorzubeugen.

Ueber den glattpolirten Boden des Gletschers, der ehemals das ganze Plateau bedeckt hatte, eilten die Bursche wie tanzend; über Schrunden und Risse setzten sie in hohem Bogen mit Hülfe des Alpenstocks. Einige von uns älteren Cameraden bildeten die Nachhut, aus Sorge, daß Niemand zurückbleibe. Da stießen wir auf eine rührende Scene. Vor uns her zottelte wehselig mit hängendem Kopfe ein schon etwas größerer Knabe, von den beiden Kleinsten der Schaar wie der greise Jakob von seinen Enkeln geführt. Sie hatten ihm einen Theil seiner Bürde abgenommen und gaben sich die erdenklichste Mühe, seinen gesunkenen Muth wieder aufzurichten, indem sie ihm ein verführerisches Bild von dem gar nicht mehr weiten Nachtquartier vormalten, wo er dann in einem molligen Bett sich so herrlich ausruhen könne. Wie die schützenden Engel walteten die Kinder um den großen Jungen. Da, wo die Steine gar zu glatt und abschüssig waren, hielten und stützten sie ihn wie ein zages Lamm. Wir ließen sie ruhig gewähren, uns innerlich über die Scene ergötzend; denn wir hatten die Erfahrung gemacht, daß die momentane Schwäche Einzelner durchaus nicht physischer, sondern nur moralischer Natur war. Nach einer halben Stunde hatte der Muth solcher geistig Maroden stets wieder neue Schwingen erlangt und der eben noch Verzagende stand dann in den vordersten Reihen. Solche Wunder bewirkt die reine Gebirgsluft.

Gsteig, unser Tagesziel, war indessen noch vier Stunden entfernt und der Führer drängte nach vorwärts, damit wir von der Nacht nicht überrascht würden. Wir befanden uns endlich auf Berner Gebiet. Wohl ein halbes Dutzend Bäche, welche die Quellen der Saane bilden, hatten wir überschritten und dabei auch einen der kleinsten Knaben auf der Schulter hinübergetragen, die Schatten des Abends mahnten zur Eile. Wie von der Gemmi hinab nach Leuk, so führt hier ein endloser Zickzackpfad hinunter nach Gsteig, nur daß jener, weil täglich von zahlreichen Touristen betreten, möglichst gut in Stand gehalten wird, während den Sanetsch hinab das kantige Steingeröll den hartgeprüften Füßen nirgends eine feste Stütze bietet. Solche Zickzackwege fordern die menschliche Geduld und die Kraft der Kniee auf tückische Weise

heraus. Bei jeder Wendung vermeint man, das Ziel vor Augen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_800.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)