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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

verantwortlich zu machen ist, als seine ersten Erzieher. Man mache deshalb Personen, die der menschlichen Gesellschaft schaden, wohl für diese unschädlich, aber wende die Todesstrafe nicht an ihnen an. – Was und wie das Gehirn später arbeitet, ist immer nur die Folge früherer Eindrücke und Eingewöhnungen. Es läßt sich deshalb der Mensch mit Hülfe dieser Bildungsfähigkeit seines Gehirns durch Gewöhnung zu allem Möglichen erziehen.

Wie nun die ganz falsche moralische Erziehung des Menschen in seiner frühesten Jugend von Seiten der Eltern die Hauptschuld an der weit verbreiteten Charakterlosigkeit und dem moralischen Verfalle bei der Mehrzahl der jetzigen Menschen trägt, so ist auch dem elterlichen Hause weit mehr als der Schule die Schuld an dem erbärmlichen Gesundheitszustande der meisten Erwachsenen zuzuschreiben. Es ist allerdings Thatsache, daß die Kinder im Schulalter einer Anzahl ganz bestimmter Krankheiten so oft und so leicht unterliegen, daß man diese Uebel recht wohl „Schulkindkrankheiten“ nennen darf. Aber ganz mit Unrecht will man diese Krankheiten „Schulkrankheiten“ taufen und der Schule die alleinige oder doch die Hauptschuld an ihrem Entstehen beimessen, während sie doch eigentlich aus dem elterlichen Hause stammen. Das Verbrechen der Schule hierbei besteht nur darin, daß sie theils der Verschlimmerung jener Schulkindkrankheiten nicht energisch entgegentritt, sondern diese sogar durch unpassende Behandlung der Schüler begünstigt, theils daß sie die Schüler nicht mit jenen Krankheiten und den dagegen anzuwendenden Maßregeln bekannt macht. Es würde übrigens für die Kräftigung der Menschheit sicherlich von großem Vortheile sein, wenn man in den Schulen anstatt oder doch neben den geistlichen Schulinspectoren wissenschaftlich gebildete ärztliche Schulvisitatoren anstellte. Auch könnte es gar nicht schaden, wenn die Herren Kriegsminister, die doch so viele gesunde Menschen zu Soldaten brauchen, die Herren Cultusminister einmal über den schlechten Gesundheitszustand der Schüler interpellirten.

Die Schulkindkrankheiten sind, wenn auch nicht lebensgefährlich, doch insofern sehr beachtenswert, als sie für das ganze spätere Leben des Schülers große und bleibende Nachtheile haben und hindernd in das Fortkommen desselben eingreifen können. Sie betreffen vorzugsweise das Gehirn und Nervensystem, den Sehapparat, das Rückgrat und das Blut in seiner Beschaffenheit und seinem Laufe. Unter ihnen stehen obenan: Die Kurzsichtigkeit und die Rückgratsverkrümmung; erstere, die mehr bei Knaben vorkommt, soll vorzugsweise durch die unzweckmäßigen Subsellien (Tische und Bänke), die falsche Beleuchtung und die übermäßige Anstrengung des Gesichtssinnes veranlaßt werden; die letztere, welche mehr bei Mädchen angetroffen wird, soll der falschen Körperhaltung, hauptsächlich in Folge unpassender Subsellien, ihre Entstehung verdanken. Es scheint, daß die Bücherbeschäftigung mehr den Augen der Knaben, die weibliche Handarbeit mehr dem Rücken und Brustkasten der Mädchen schadet. – Die Blutarmuth mit der es viel zu leicht genommen wird und die für’s ganze Leben einen großen Schwächezustand hinterlassen kann, sucht vorzugsweise die Mädchen heim und hat gewöhnlich große Muskelschwäche mit Schiefwerden, sowie Schwachsichtigkeit und nervöse Leiden (Kopfschmerz, Schwindel, Ohrensausen, Epilepsie, Veitstanz) in ihrem Gefolge. Sie soll theils das Erzeugniß von Ueberanstrengungen der Organe, besonders des Gehirns, der Sinneswerkzeuge und der Musculatur (beim Still- und Geradesitzen) sein, theils der schlechten Schulluft in den mit Schülern überhäuften Zimmern ihr Entstehen verdanken – Hirn- und Nervenaffectionen, wie: Kopfschmerz, Schwindel, Ohrensausen, Epilepsie, Veitstanz, sollen durch falsches und übermäßiges Arbeiten des Gehirns, zumal wenn diesem die gehörige Menge Blutes und Sauerstoffs fehlt, erzeugt werden. Sie schleppen sich, wenn ihnen nicht energisch entgegengetreten wird, weit in das spätere Leben hinein. – Sogenannte Congestionen nach Kopf-, Hals-, Brust- und Unterleibsorganen, welche Kopfschmerz, Schwindel, dicken Hals und Kropf, Nasenbluten, Athmungs- und Verdauungsbeschwerden veranlassen können, sollen vorzugsweise mechanischer (passiver) Art sein, d. h. durch erschwerten Rückfluß des Blutes zum Herzen in Folge falschen Sitzens mit vorgebeugter Haltung des Körpers entstehen. Sie kommen um so leichter zu Stande, wenn enge Kleidungsstücke den Hals, die Brust und den Bauch zusammendrücken und so auf Blutfluß und Athmung hemmend einwirken. Manche nehmen auch eine active Congestion mit vermehrter Herz- und Gefäßthätigkeit (Erweiterung der Pulsadern), und zwar in Folge von angestrengter Hirnthätigkeit und von Reflexen des Gehirns und der Hirnnerven auf die Herznerven und das Gefäß-Nervensystem an. Diese Art von Congestion soll erzeugen: Kopfweh mit geröthetem Gesicht und rothen Ohren (besonders bei Mädchen), Nasenbluten (besonders bei Knaben und vorzugsweise in den oberen Classen), dicken Hals (der in den Ferien oft verschwindet) und Kropf (Schulkropf) in Folge der Erweiterung der Halsadern. – Katarrhen, besonders im Athmungsapparate, sind Schulkinder deshalb so häufig unterworfen, weil sie sich einer sehr wechselnden Temperatur in der Schulstube auszusetzen gezwungen sind und die Luft, welche sie hier einathmen, meist nicht die reinste ist. – Außer diesen genannten, vorzugsweise als Schulkind- und Schulkrankheiten bezeichneten und der falschen Behandlung des Kindes in der Schule zugeschriebenen Leiden, treten am Schulkinde auch noch Uebel auf, die es vom Hause in die Schule mitbringt oder die ihm von Mitschülern mitgetheilt werden. Die genannten Krankheiten sollen später ausführlich behandelt werden.

Um nun einzusehen, daß die Krankheiten, deren Entstehung man ganz mit Unrecht und rücksichtslos der Schule zuschiebt, weit mehr im elterlichen Hause verschuldet werden, braucht man nur den Lebenslauf des Kindes von seiner Geburt an bis in die Schuljahre hinein zu verfolgen. Anstatt des naturgemäßesten Nahrungsmittels, der Milch, wird dem Säugling viel zu früh eine (zu mehl- und zuckerreiche) Nahrung gereicht, die weder der Kräftigung der Knochen und Muskeln, noch der des Gehirns und der Nerven zusagt. Noch sind seine Knöchelchen nicht gehörig knochenhart und sein schlaffes mageres Fleisch nicht musculös genug, so wird das Kindchen schon aus dem Wickelbette genommen und muß aufsitzen, wird stundenlang von einer unerfahrenen Wärterin nur auf einem Arme herumgetragen, muß sich vorzeitigen und anstrengenden Steh- und Gehversuchen unterwerfen und wird im Stühlchen (mit keiner oder unpassender Lehne) beim Spielen viel zu lange zum Aufrechtsitzen gezwungen. Daß bei diesem Maltraitiren der Wirbelsäule und der Rückenmuskeln, wobei das Kind fast stets zusammenhockt und sich hier und da hin beugt, das Rückgrat seine gerade Richtung behalten kann, ist unmöglich. Hierzu kommt noch, daß die Eltern dem Kinde Alles mit dem „schönen“ d. h. rechten Händchen machen lassen und daß dieser vorwiegende Gebrauch der rechten Hand und des rechten Armes an der Brustwirbelsäule stets eine schwache Krümmung nach rechts erzeugt. Diese rechtseitige Ausweichung der Brustwirbelsäule erklärt auch, neben der falschen Körperhaltung beim Schreiben etc., die Häufigkeit der Rückgratsverkrümmungen auf dieser Seite, welche sich zu den linkseitigen wie 100 : 2 verhalten.

Mit vorschreitendem Wachsthume wird zu Hause das Kind viel zu unkindlich behandelt und in seiner Gesundheit (besonders in seiner Blutbeschaffenheit und Ernährung) geschädigt: durch falsche Nahrung (erhitzende Getränke, wie starken Kaffee oder Thee, Bier und Wein, schwerverdauliche Speisen und reizende Kost), unregelmäßiges Essen (Naschen), Mangel an Schlaf (langes Aufbleiben, zumal in Gesellschaften und an öffentlichen Orten, zu zeitiges Frühaufstehen), schlechte Luft (besonders im Schlafzimmer), unzweckmäßige und zu dünne Kleidung (enge Leibchen und Unterkleider), vernachlässigte Hautreinigung (durch warme Bäder), Nichtberücksichtigung krankhafter Erscheinungen (besonders von Katarrhen, Husten, Appetitlosigkeit, Abweichungen im Stuhlgange). Beschäftigt sich das kleine Kind mit Malen, Zeichnen, Schreiben u. dgl., so wird weder darauf gesehen, wie dasselbe dabei sitzt, noch in welchem Lichte (ob in grellem oder unzureichendem Lichte) es dies treibt. In späterer Zeit wirken noch die vielen Privatstunden, das häufige Lesen unterhaltender oder belehrender Bücher mit kleiner Schrift, die engen kleinen Noten, die feinen Handarbeiten (Perlenstickerei) etc. schädlich auf die Augen und das Rückgrat, da meistens das Sitzen und das Licht dabei von den Eltern nicht controllirt wird. Kurz, würde man die Kinder bei ihrem Eintritte in die Schule von einem ärztlichen Schulinspector untersuchen lassen, so würde sich ergeben, daß diejenigen Krankheiten, welche während des Schulbesuchs am Schulkinde immer deutlicher hervortreten, schon bei der Aufnahme des Kindes in die Schule in ihren Anfängen vorhanden waren. Eltern und Lehrer müssen demnach diesen Krankheiten gleiche Aufmerksamkeit widmen und Hand in Hand gegen dieselben ankämpfen.

Bock.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_011.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)