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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

sondern auch den leiblichen Eltern! Sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, der Vorwurf fällt auf Ihr Haupt zurück, auf Ihres allein!“

Der Candidat sah sie an, lange, tief, unaussprechlich traurig. Es nachtete in seinen dunkeln Augen, als ginge seine Lebenssonne unter. Still, unbeweglich stand er vor ihr, den Knaben im Arm, kein Athemzug hob seine Brust, er war ruhig, ruhig wie ein Fels, dessen schroffe Umrisse kahl und starr in die sternenlose Nacht hineinragen. – Eine lange Minute zog so über Alfred’s Haupt hin. Endlich öffneten sich die Lippen des Candidaten und er sprach mit leiser Stimme: „Ich will es nicht versuchen, mich zu vertheidigen. Noch weniger steht es mir zu, Sie den Schmerz ahnen zu lassen, den ich bei Ihren Worten empfunden habe. Beides betrifft nur mich und hat kein Recht auf Ihr Interesse. Wegen Ihres Sohnes aber erlaube ich mir zu bemerken: Es giebt einen adeligen Verband, einen unsichtbaren, dessen Mitglieder nur diejenigen werden können, welche die höchsten Eigenschaften des Geistes und Herzens besitzen und entfaltet haben – zur Aufnahme in diesen Verband wollte ich Ihren Sohn erziehen – nicht ihn dem Gemeinen nahe bringen. Ich bekenne gern, Ihre Freundlichkeit, Ihre Empfänglichkeit für so manches, was ich Ihnen mittheilen durfte, hat mich geblendet und mich hoffen lassen, daß ich Ihnen auf dem eingeschlagenen Wege Ihren Sohn zuführe, statt ihn Ihnen abwendig zu machen. Sie haben mich eines Besseren belehrt und gern würde ich sagen, ich gebe Ihnen Ihren Sohn zurück – wenn ein Mensch in den Jahren einer gewissen Zurechnungsfähigkeit gegeben und genommen werden könnte wie eine Sache, an der nichts verändert worden ist. Ich kann Alfred jetzt nicht mehr glauben machen, daß ich ihn Unwahres gelehrt, und wenn ich’s könnte, so thäte ich es nicht. Ich kann Ihren Sohn verlassen, aber ihn Ihnen wiedergeben, wie ich ihn empfing, und so, wie Sie ihn wollen – das steht nicht in meiner Macht.“

„Verlassen,“ schrie Alfred auf, „Sie mich verlassen? Was hab’ ich Ihnen gethan, Herr Candidat, daß Sie mich so schwer strafen wollen? O Mutter, wenn Du mich als Dein Kind liebst, wenn Du nicht willst, daß ich umkommen soll vor Heimweh, Herzeleid, so laß mir meinen Lehrer!“ Er riß sich von dem Candidaten los und fiel vor seiner Mutter auf die Kniee. Athemlos, fast erstickt von Angst stieß er diese Worte hervor und es lag eine unwiderstehliche Macht in seinem kindlichen Flehen. Des Candidaten Brust hob sich schwer, eine tiefe Bewegung schien sich seiner zu bemächtigen. Adelheid hatte lange stumm und starr dagestanden, jetzt schlug sie beide Hände vor das Gesicht und sie waren von Thränen naß, als Alfred sie herabzog und mit Küssen bedeckte. Sie trat einen Schritt dem Candidaten entgegen und streckte ihm die Hand hin: „Um dieses Kindes willen,“ begann sie, aber die Stimme versagte ihr.

Der Candidat hatte sie dennoch verstanden. Er nahm ihre dargebotene Rechte in die seine: „Um des Kindes willen!“ wiederholte er ernst.

Es war stille im Zimmer, man hörte nichts als Alfred’s leises Schluchzen, der noch immer seiner Mutter Kniee umfaßt hielt.

Sie hob ihn auf und drückte ihn an ihr Herz: „Gott möge mich erleuchten und mich immer würdiger machen, einen solchen Sohn zu erziehen. O mein Gott – ich fühle ja, wie wenig ich es noch bin,“ rief sie plötzlich wie zusammenbrechend unter der Last eines großen Schuldbewußtseins, und als fürchte sie sich, noch mehr zu sagen, eilte sie aus dem Zimmer.

„Was ist das?“ murmelte der Candidat unwillkürlich vor sich hin und sein dunkler Blick folgte der schönen Gestalt, bis sich die Thür hinter ihr schloß.

Nun waren die Beiden allein und tiefathmend warf sich Alfred an seines Lehrers Brust: „Ach, Herr Feldheim, lassen Sie mich ausruhen – so – so!“ Er schmiegte sich in Feldheim’s Arm und sah innig zu ihm auf: „Sehen Sie mich an, lieber Herr Feldheim! Was ist Ihnen? Sie haben etwas, es thut Ihnen etwas wehe! Sagen Sie, was ist’s? Ihr Herz hämmert lauter als sonst, ich kenne seinen Schlag.“ Alfred betrachtete ihn einige Augenblicke und fuhr dann fort: „Wissen Sie, Herr Feldheim,“ sagte er, „jetzt begreife ich auf einmal, was hier zu Hause immer so schwer auf mir liegt: es ist, daß ich Niemand von Euch Allen glücklich sehe. Sie glauben gar nicht, wie weh mir das thut! Ich meine ordentlich, es sei mir deshalb oft so eng und bang und meine Brust sei nur deshalb so schmal, weil sie zusammengeschnürt wird durch ein erstickendes Band von Angst und Sorge. Aennchen hat einmal so gelacht, daß ihr die Haften des Kleides sprangen; nun meine ich, das schreckliche Band müsse auch zerreißen, wenn ich einmal so recht aus vollem Halse lachen könnte, aber das wird wohl nie vorkommen!“

Der Candidat sah betroffen den Knaben an, der wie eine verdurstende Blume das Haupt hängen ließ. „Das ist ein schwerer Vorwurf, den Du uns Allen da machst, ohne es zu wissen, mein theures Kind! Und doch danke ich Gott, daß Du mich noch zu rechter Zeit an eine Pflicht mahnst, die ich nur zu lange versäumt. Wohl hast Du Recht.“

Alfred liebkoste seinen Lehrer und blickte wehmüthig auf den rothen Strahl, der die grüne Tapete erleuchtete: „Jetzt geht die Sonne unter. Gewiß haben wir heute Alpenglühen – wie schön muß das sein! Wenn nur mein Zimmer nach dem See zu läge, da könnt’ ich’s sehen – aber in die Vorderstube mag ich jetzt nicht, ich will den Tanten nicht begegnen. Wer jetzt hinaus dürfte an den Strand und hineinschauen in die Herrlichkeit und hören, wie die Wellen murmeln und sich zausen lassen vom Abendwind! Jetzt setzt sich Aennchen gewiß in einen Kahn und ihre Brüder rudern sie in den See hinaus, und dann geht der Mond auf und streut einen silbernen Weg über das Wasser und sie fahren darüber hin und her und singen ihre heiteren Lieder in den milden Glanz hinein. Sie sehen gewiß nicht all’ das Schöne, das da ist, vor lauter Lustigkeit. O, wenn ich dabei wäre, ich wollte stille sein, ganz stille und nur schauen und horchen. Was würde ich da wohl Alles hören und was Alles sehen!“ Er holte tief Athem und seine traurigen Augen starrten geisterhaft in die Dämmerung hinein.

Der Candidat hatte ihm schweigend zugehört, jetzt nahm er den Knaben in die Arme und sagte mit einer liebevollen Wehmuth: „Das, was Du da draußen sehen und hören würdest, mein Kind, trägst Du in Dir – die Poesie! Wer sie nicht im Busen hegt, der wird offenen Auges mitten durch die Schönheiten dieser Erde hindurchgehen und sie dennoch nicht sehen. Du aber, Du malst Dir in den engen Raum Deines Zimmers Berge und See – der zitternde Abendstrahl, der dort an der Wand spielt, weckt Dir das Entzücken eines Sonnenuntergangs. Wie aber, wenn draußen der Erde ein Dunst, ein Rauch entstiegen wäre? Er hätte Dir den Genuß, nach dem Du Dich sehnst, getrübt – den Sonnenuntergang, den Du in Deiner Phantasie erlebt, konnte er Dir nicht trüben, siehe, das ist der Ersatz, den Dir Gott gab für alle Entbehrungen, die er Dir auferlegt – das sind die Rosen, mit denen er Dir das Kreuz umwunden, das er Dich tragen läßt.“

„Ja, ja – o ja!“ rief Alfred begeistert und breitete die Arme aus, „ich verstehe, was Sie meinen, und ich will mein Kreuz tragen, soweit meine Kräfte reichen. Welch große Helden sind unter dem Kreuz erstanden, welche große Thaten unter ihm vollbracht worden, auch ich will unter dem Kreuze gehen! O Herr Feldheim, Sie haben mir die Geschichte der Kreuzritter gelehrt, die in alle Welt auszogen, das Christenthum mit dem Schwerte einzupflanzen, und wie dieser Orden allmählich einging und zusammenschmolz auf das kleine Häuflein der Johanniter, die sich damit begnügen, das, was ihre Vorfahren mit Schwert und Blut gepflanzt, friedlich zu pflegen und weiter zu bauen. Und wissen Sie, Herr Feldheim, als neulich unser Vetter, Graf Schorn, der Johanniter, von seiner Urlaubsreise in den Orient zurückkam und uns hier besuchte – Sie waren damals gerade auf dem Rigi – da faßte ich den Entschluß, auch ein Johanniter zu werden.“

„Und wie kam das?“ fragte Feldheim überrascht.

„Der Vetter hat so schön erzählt von allem Guten, was die Ritter thun, wie sie Kranke pflegen und Spitäler errichten, wie sie überall da sind, wo es gilt, einem Bedrängten beizustehen, und wie doch noch lange nicht genug Hände seien für all’ das Elend. Da dachte ich, ich könne doch vielleicht auch mit helfen, wenn ich groß bin, und Schöneres könne doch kein Mensch auf Erden thun, als Schmerzen und Noth lindern – ach, ich weiß ja, wie Schmerzen thun!“

Der Candidat schwieg erstaunt über diese Pläne Alfred’s, die ihm bisher ganz fremd geblieben waren. Dieser aber fuhr mit fieberhafter Redseligkeit fort, wie sie nervösen Kindern eigen ist, die einmal in’s Reden kommen: „Ich will Ihnen noch etwas erzählen, Herr Candidat, wollen Sie es hören?“

„Ja, mein Kind!“ Der Candidat legte seine Hand auf das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_082.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)