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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Charakter. Ein Naturkind, geistesschwach bis zum Stumpfsinn, ohne Bildung, nur an äußerem Prunk und Putz hängend, von kindischer Eitelkeit, wie die Töchter der Wilden, die nur äußerlich die Civilisation berührt hat, geräth sie in die kaum verstandenen Verwickelungen der Gesellschaft und verfällt dem Wahnwitz und Untergang, als der eigene Gatte sie treulos verlassen hat. Sie ist die wahre Frau des Sclavenhändlers, der in ihr nur die Sclavin sieht und das Reich der Bildung von Hause aus vor ihr verschlossen hält.

Mannigfach sind die anderen Charaktere des Romans schattirt: die beiden Aristokraten, der Freiherr von Pruncken und Graf Clodwig, jener mit seinen bigotten Anwandlungen, dieser mit seinem edeln Freisinn; der köstlich gezeichnete gemüthliche Major mit seinem stets citirten Orakel, dem Fräulein Milch; die Frau Professorin, die würdige Matrone; der praktisch humane Weidmann; die Männer vom Hof, aus der Stadt und vom Lande. Es wird Sie nicht befremden, Madame, daß Auerbach auch dorfgeschichtliche Episoden in die Handlung verwebt – on revient toujours à ses premiers amours.

Und damit auch die blaue Blume der Romantik nicht fehle, giebt sie der Dichter dem märchenhaften Kinde Lilion in die Hand, welches die unsichtbaren Geister des Waldes mit all’ ihrem Zauber ausstatten und dem jungen Roland zuführen als vorbestimmte Märchenbraut.

Je mehr sich die Vergangenheit Sonnenkamp’s enthüllt, desto mehr tritt die Sclavenfrage in den Mittelpunkt des Romans, der gegen den Schluß hin große geschichtliche Perspectiven gewinnt. Wie Sonnenkamp und Bella schiffen auch Erich, Manna und Roland über den Ocean, und der Bürgerkrieg sieht Vater und Kinder in getrennten Lagern sich feindlich gegenüberstehn.

Ich beklagte schon, Madame, daß wir hier, wo ein großes allgemeines Interesse rege wird, uns mit Brieffragmenten, mit flüchtigen Kreideskizzen begnügen müssen, statt der farbenreich ausgeführten Gemälde, welche die früheren Bände darbieten. Der Dichter verwies in einen Anhang, was uns gerade für selbstständige und glänzende Darstellung besonders geeignet scheint. Hier vollendet sich erst Roland’s Erziehung, hier erscheint Erich als Mann und Held, und auch der als Sclavenmörder gebrandmarkte Sonnenkamp sühnt den Frevel in tapferem Kampf.

Wieviel bedeutender ist dies Alles, als die Werbung um den Adel und das Scheitern dieser Bemühungen, die uns mit so ausführlicher Detailmalerei geschildert werden!

Sie sehn, Madame, der neue Roman Auerbach’s ist ein geist- und inhaltsvolles Werk; wichtige Fragen der persönlichen Erziehung und der Erziehung der Menschheit werden in demselben verhandelt; die stylistische Einkleidung ist edel und würdig, wenn auch in Inhalt und Form gleichmäßig der Denker mehr hervortritt als der Dichter, philosophische Weltbetrachtung mehr als der unmittelbare Hauch schöpferischer Phantasie und die Grazie erzählender Kunst.

Sie werden, Madame, diesen Roman nicht ohne Befriedigung, ohne vielfache Anregung aus der Hand legen und sich freuen, die Bekanntschaft eines so geistreichen Schriftstellers gemacht zu haben. Freilich dürfen Sie längere Zeit hindurch an seiner dichterischen Erfindungskraft nicht verzweifeln, Sie müssen ihr einen uneingeschränkten Credit eröffnen in der begründeten Hoffnung, daß sie später baar bezahlen wird.




Hinter der Klosterpforte.
(Schluß.)

Um jeder Schwierigkeit vorzubeugen, schickte am nächsten Tage der Pfarrer nach Schwester X., er habe mit ihr zu sprechen, ließ er sagen.

„Wenn ich Dich recht verstanden habe,“ nahm er die Unterredung an dem Punkte wieder auf, wo er sie gestern abgebrochen, „so möchtest Du, daß Deine Familie den ersten Schritt zur Versöhnung thäte. Allein das kann nicht sein; sie ist der beleidigte Theil, und Dir kommt es zu, ihre Verzeihung zu erbitten. Willst Du das, so bin ich bereit, Dir dabei zu helfen. Aber Deine Reue muß aufrichtig und vollständig sein; Du mußt rückhaltslos bekennen, daß Du durchaus unrecht gehandelt hast. Bist Du dazu entschlossen?“

„Ich glaube ja, mein Vater; ich beginne einzusehen, daß dies Klosterleben, welches meine Phantasie so sehr bestrickt hatte, seine strengen und fürchterlichen Seiten besitzt, denen ich mich nicht gewachsen fühle. Und, wie ich Ihnen schon gestern sagte, … ich habe selbst zu unserer Oberin das Vertrauen verloren.“

„Gut, meine Tochter; das ist aufrichtig gesprochen. Ich sehe jetzt, daß ich mich nicht geirrt habe, wenn Du mir von Anfang an nicht den Eindruck machtest, als habest Du inneren Beruf zum Klosterleben. Was sollen wir also beschließen? Reuig und demüthig, mit dem festen Vorsatze, Alles aufzubieten, um Deinen Fehltritt wieder gut zu machen, mußt Du in das Elternhaus heimkehren. In diesem Sinne hast Du zu schreiben; ich will ein paar fürbittende Worte unter Deinen Brief setzen und dafür sorgen, daß dieser in Deiner Eltern Hände gelangt, in St. Marceau oder in der Gascogne … wenn sie wirklich dahin gereist sind.“

Das junge Mädchen brach abermals in einen Thränenstrom aus.

„Aber,“ fuhr der Geistliche fort, „keine Silbe von dem, was zwischen uns verabredet worden ist, weder an die Oberin noch an sonst wen im Kloster! Halt! ich vergaß einen wichtigen Punkt. Wie willst Du es möglich machen, unbemerkt zu schreiben? Stehen Dir Feder, Tinte und Papier zur Verfügung?“

„Nichts von alledem, mein Vater. Sie wissen, wir bedürfen zum Schreiben einer speciellen Erlaubniß, und was wir schreiben, hat unvermeidlich die Controle der Oberin zu passiren.“

„Es ist wahr.“

Er überlegte und schien lange zu keiner Entscheidung kommen zu können.

„Trotz alledem,“ sagte er endlich, „kann ich’s nicht über’s Herz bringen, Dich im Stiche zu lassen, mein armes, irregeleitetes Kind; ich kann Dich nicht blind in Dein Verderben hinein rennen lassen. Nimm den Bleistift und dies Blatt Papier; es müßte doch sonderbar sein, wenn Du nicht einen unbelauschten Augenblick finden könntest, um ein paar aus dem Herzen kommende Zeilen zu schreiben. Für das Uebrige will ich schon sorgen. Aber jetzt gehe; eine längere Unterredung möchte Argwohn erwecken. Komm’ übermorgen an meinen Beichtstuhl. Sei verschwiegen und traue Niemandem, sonst kann ich für nichts stehen. Gleich Dir fürchte ich, es sind Intriguen im Spiele.“

Sein Verdacht war nur allzuwohl begründet.

Um zwei Uhr Nachts stand die Oberin, welche den ganzen Tag über in ungewöhnlich guter Stimmung gewesen war, wie ein verhängnißvolles Omen vor dem Bette der Schwester X. und gebot dieser, sich unverweilt zu erheben und anzukleiden. Ein Befehl der „Generalin“ (générale) des Ordens, welcher mit der letzten Post eingelaufen sei, rufe die Schwester sonder Verzug nach Paris.

Die Nonnen in den nebenstehenden Betten schenkten dieser Eröffnung wenig Aufmerksamkeit. Zwar richteten sich einige derselben in die Höhe und starrten umher, doch auf ein Zeichen von der Oberin legten sie sich ruhig wieder hin. Keine wagte ein Wort weder der Theilnahme noch der Neugier. Madame Blandine schien in ausgezeichneter Laune zu sein; auf ihrem bleichen, aber lächelnden Gesicht ließ sich deutlich der Ausdruck einer grausamen Befriedigung erkennen. Wohl hatte Schwester X. die größte Lust, sich wider den Befehl aufzulehnen, – allein früh um vier Uhr war sie bereits auf dem Wege nach Paris.

Im Mutterhause zu Paris trat Schwester X. ihr Noviziat an. Das Klosterregiment versteht sich vortrefflich auf die Bändigung rebellischer Geister und ruht nicht eher, als bis es sie geschmeidig und hämmerbar gemacht hat. Neun Tage völlige Absperrung, neun Tage Demüthigungen und Erniedrigungen, Betrachtungen, Predigten, schwülstige Gespräche und endlose Gebete in einer dunklen Capelle, die so still ist wie das Grab und mit ihrem ewigen Weihrauchsdufte betäubt – das vermag viel. Und nun denke man sich den Eindruck, welchen dies Alles auf das Hirn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_092.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)