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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

No. 7. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Eine offene Frage.

Die im vergangenen Herbst zu Berlin stattgehabte Waldeck-Feier rief mir ein Erlebniß in das Gedächtniß zurück. Wenn ich dasselbe hier wiedergebe, so habe ich mich hierbei von der Absicht leiten lassen, die Aufmerksamkeit auf eine Lücke in unserer Gesetzgebung hinzulenken. Vielleicht findet sich bei den nahe bevorstehenden Berathungen der Criminal-Gesetze für den Norddeutschen Bund Gelegenheit, diese Lücke auszufüllen.

An einem Sonntage wurde mir, der ich damals noch Gefängnißinspector war, ein junger Mann zugeführt. Seine Begleitung bestand aus einem Gensd’armen und zwei Polizeibeamten. Der Gensd’arm führte bei der Ueberlieferung das Wort, die Uebrigen verhielten sich schweigsam, selbst der Gefangene gab keinen Laut von sich.

„Den Vogel hätten wir!“ sagte der Gensd’arm. „Das ist ein Fang, wie ich ihn mein’ Lebtage noch nicht gemacht habe. Da sieht man wieder einmal, daß die Steckbriefe ihr Gutes haben. Freilich muß man sich die Mühe geben, den Steckbrief und namentlich das Signalement dem Gedächtnisse genau einzuprägen; dann hält es gar nicht schwer, die verdächtige Person zu greifen. Der da“ – er wies mit der Hand nach dem Gefangenen – „lief mir heute gerade in’s Garn, als ich den Steckbrief still nachbetete, der vor sechs Wochen hinter dem Mörder des Viehhändlers P– erlassen ist. Ich erkannte auf den ersten Blick die gesuchte Person; die Aehnlichkeit ist zu auffallend, sie ist zutreffend. Der Herr Staatsanwalt hat sich auch schon davon überzeugt. Verwahren Sie den Patron gut, Herr Inspector; es scheint sich der Mühe zu lohnen.“

Ich schenkte diesen Worten, die mit vielen Unterbrechungen gesprochen wurden, keine große Aufmerksamkeit, beschäftigte mich vielmehr mit der Durchsicht der mir gleichzeitig übergebenen Papiere und richtete nur einige Male meinen Blick von den Papieren fort und auf den Gefangenen. Dieser war unweit der Thür hoch aufgerichtet; in soldatischer Haltung stehen geblieben. Es war eine große, kräftige, sogar etwas starke Gestalt. Der Blick, der dem meinigen vielleicht zufällig begegnete, war ruhig und fest, die Farbe des Gesichts gesund, der Kopf mit schwarzen, glänzenden Haaren bedeckt. Von dem Gesicht war eigentlich wenig zu sehen; ein gutgepflegter, ungewöhnlich voller und langer Bart bedeckte die Wangen, die Oberlippe und das Kinn. Auf der hohen und breiten Stirn bemerkte ich über dem linken Auge eine Narbe, die etwa anderthalb Zoll lang sein mochte und nach oben zu unter den Haarwurzeln verlief. An der Kleidung zeigte sich kein Makel, sie war neu und modisch.

Die Persönlichkeit des Gefangenen hatte so viel Charakteristisches, daß sie leicht erkenntlich gemacht und eben so leicht erkannt werden konnte. Der Scharfsinn des Gensd’armen hatte daher auch keine besonders schwierige Probe zu bestehen gehabt.

Das Verhalten des Gefangenen während des Actes der Ueberlieferung war vollkommen unbefangen, genau so, als ob er frei, unbetheiligt und ein müßiger Zuschauer sei. Die Worte des Gensd’armen machten auf ihn keinen bemerkbaren Eindruck, er schien dieselben gar nicht auf sich zu beziehen und der ganze Auftritt ihn so zu sagen zu amüsiren.

Als die Sicherheitsbeamten mein Zimmer verließen, machte der Gefangene vor jedem Einzelnen eine tiefe Verbeugung, und kaum hatte der Letzte von ihnen die Thür hinter sich geschlossen, so schlug der Gefangene beide Hände klatschend zusammen, rieb diese sodann gegeneinander und lachte dabei so laut, so ungezwungen heiter und vergnügt, wie nur ein Mensch lachen kann, wenn ihm ein guter Streich gelungen ist oder wenn er auf Kosten eines Anderen sich belustigt hat.

Ich hatte an jenem Tage nicht gerade viel zu thun. Außerdem interessirte mich der Gefangene. Sein Auftreten war nicht gewöhnlich, seine Persönlichkeit gewinnend. und dann hatte ich auch bei der flüchtigen Durchsicht der mir übergebenen Papiere mich mühelos mit seinen Verhältnissen bekannt gemacht und Manches gefunden, das Theilnahme erregen mußte. Außer einem Reisepasse und einigen Rechnungsauszügen befanden sich unter diesen Papieren mehrere Briefe, welche gleichmäßig „Lieber, bester Mann“ überschrieben waren und fast in jeder Zeile Worte der innigsten Liebe und der treuesten Hingebung enthielten. Eine Stelle hatte hauptsächlich meine Aufmerksamkeit gefesselt, weil sie mir von dem Bestehen eines glücklichen Familienlebens Zeugniß gab.

„Nicht wahr, mein lieber, guter Mann“ – so lautete diese Stelle – „Du theilst meine Sehnsucht und meine Wünsche? Ich rufe mir stündlich Dein theures Ich vor die Augen, umschließe Dich mit meinen Armen und herze und küsse Dich nach Herzenslust. Ja, lache nur, mein Herzblatt; ich bin bei dieser Tändelei doch so unaussprechlich, so namenlos glücklich, daß nur die Wirklichkeit mich noch glücklicher machen könnte.“

Im Allgemeinen hält man die Gefängnißbeamten für Menschen ohne alles Gefühl. Es würde allerdings kein Wunder sein, wenn es so wäre, denn täglich tritt ihnen ja das menschliche Elend in den ergreifendsten Gestaltungen vor Augen. Die nicht zu zählende Wiederkehr desselben Anblickes könnte wohl das Gefühl abstumpfen, die Theilnahme schon im Keime ersticken, das Mitleid in der Brust gar nicht aufleben lassen. Und doch trifft das Alles nur in einzelnen und, Gott sei es gedankt, auch nur in seltenen Fällen zu.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_097.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)