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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Stadt niederhielt, gewann nach solchen Intermezzo’s immer rasch wieder die frühere Kraft, obschon gerade Kassel das Schlachtfeld abgab, auf welchem jener berühmte vieljährige politische Kampf gestritten wurde, der auf dem kleinen Kurhessen und seiner Hauptstadt so oft die Blicke Europa’s theilnehmend und erwartungsvoll ruhen ließ.

Man kann die tiefgreifende Wandelung, welche das Geschick des Hessenlandes durch den siebentägigen Krieg von 1866 erfahren hat, sich nicht einfacher veranschaulichen als durch einen Blick auf das trefflich gelungene Bild aus dem neuen Leben der Stadt Kassel, welches die Gartenlaube heute ihren Lesern vorführt. Es versetzt uns in dieselbe Karlsaue, in welcher sich für Börne’s Sechsbätzner weiland kein Finder finden wollte. Es zeigt uns Etwas, was vor dem Juli 1866 in Kassel ein Menschenalter hindurch zu den Unmöglichkeiten zählte, ein Werk des Friedens, welches, damit es in’s Leben treten konnte, den jüngsten deutschen Bruderkrieg zur unerläßlichen Vorbedingung hatte.

An Leuten, welche die Vergangenheit, auch die kläglichste, rosenfarben und die Gegenwart in um so dunkleren Tinten sehen, ist zu keiner Zeit Mangel gewesen, am wenigsten nach großen Umgestaltungen des Völker- und Staatenlebens. Was aber die gute Stadt Kassel anlangt, so wird auch der verbissenste Verehrer ihrer „guten alten Zeit“ zugestehen müssen, daß deren Zustände in Einer Hinsicht keine „erbaulichen“ waren. Nämlich im ursprünglichsten Sinne des Wortes. Auf keinem Gebiete des öffentlichen Lebens war in der kurhessischen Hauptstadt die Bewegung bis vor einigen Jahren empfindlicher gehemmt, als auf dem des Bauwesens; auf keinem Gebiete hat sie sich seit 1866 munterer entfaltet, als eben dort. Nach gewissen Krankheiten pflegt sich beim noch entwickelungsfähigen Menschen ein rapides Wachsthum einzustellen. Das heutige Kassel gleicht in diesem Betracht einem Genesenen. Es reckt und streckt sich an allen Gliedern. Hunderte von neuen Häusern sind dort in den letzten Jahren entstanden. Man sieht die Stadt gleichsam wachsen, und wer etwa eine Gegend vor ihren Thoren vier Wochen lang nicht besucht hat, der findet neue Grundmauern und Erdgeschosse an allen Ecken und Enden wie durch Zauberkunst aus der Tiefe gerufen.

Es mag mit diesem frisch erwachten Trieb zu „häuslicher Erbauung“ zusammenhängen, daß gerade in Kassel einige unternehmende Köpfe auf den Gedanken geriethen, eine Industrie- Ausstellung zu veranstalten für das „Gesammtgebiet des Hauswesens“. Eine glückliche Idee, just wegen ihrer Beschränkung, und – eine echt deutsche Idee! Ein Hausvolk werden wir Deutschen vor Anderen bleiben, wenn wir auch hoffentlich für immer aufgehört haben, ein bloßes Stubenvolk zu sein. Die Poesie des Hauses, die weltgründenden Mächte des Familienlebens sind ja bei keiner Nation so tief im Gemüthe gewurzelt, als bei der germanischen, und darum mag der Gedanke, die Zeugnisse für die staunenerregenden Fortschritte des modernen Gewerbewesens, die Schöpfungen genialen Erfindungsgeistes, die Wunder des Fleißes und der Betriebsamkeit in ihren speciellen Beziehungen zum Hausleben an Einer Stätte zu versammeln, wohl ein wahrhaft deutsch-nationaler Gedanke genannt werden.

Die Ausstellungsgegenstände zerfallen in nicht weniger als vierzehn Classen, die wir hier gerne einzeln anführen, um den Lesern der Gartenlaube einen Begriff von der Reichhaltigkeit zu geben die des Besuchers wartet, und um ihnen klar zu machen, was die Kasseler Ausstellung, an welcher sich die Fabrikanten aller Länder betheiligen können, alles unter „Hauswesen“ versteht.

Den Reigen eröffnet mit Fug und Recht das Wohnhaus selbst und der Bau des Wohnhauses; man wird hier Plänen und Modellen von Wohngebäuden und Hausgärten, Constructionstheilen und Decorationsgegenständen begegnen, Tapeten und Parquetböden Badeapparaten und Haustelegraphen etc. Hieran schließen sich Hof und Stall mit dem Hausgarten, Brunnen, Zäunen, Zelten, Lauben, Pavillons, Gartenmöbel und Gartenornamente, Gartengeräthe, Fontainen etc. Dann folgt die Küche mit all ihren Apparaten und Geräthen aus Thon, Porcellan, Holz, Stroh, Eisen etc., und von ihr führt der Weg zum Salon, zum Wohn-, Kinder-, Speise-, Schlaf- und Badezimmer. Wir finden hier Alles, was zur bescheidensten und zur luxuriösesten „Einrichtung“ gehört, Möbel, Möbelstoffe, Spiegel, Gardinen, Standuhren, Teppiche, Stickereien Photographien, Pianofortes, Kinderspielzeuge etc. und fassen dann die Haushaltungsgeräthe aus edeln Metallen und Compositionen in’s Auge, wie Tafelaufsätze, Tafelbestecke, Becher, Fruchtschalen und dergleichen. Die Abtheilung Kleider und Wäsche enthält Stoffe und Fabrikate aus Leinen, Baumwolle, Flachs, Hanf, Seide, Tuch, Sammt, Papier, Stroh, Filz, Leder, Wachstuch etc., während die Schmucksachen und Reiseutensilien auch das verwöhnteste Verlangen befriedigen werden. An die Gegenstände des täglichen Gebrauches – wie Schwämme, Seife, Parfümerien, Necessaires, Briefmappen, Portemonnaies, Rauchutensilien etc. – reihen sich Beleuchtungswesen und Heizungsapparate, Reinigungswesen (Apparate und Utensilien zum Waschen, Bleichen, Plätten, Trocknen von Wäsche, sowie der Hausrath zum Reinigen) und sonstige zur Ausstattung des Hauses gehörige Gegenstände und Maschinen, als Thermometer, Barometer, Spieldosen, Nähmaschinen, Geldschränke etc., den Schluß der langen Reihe aber bilden mit Recht die Nahrungsmittel, worunter alle Fabrikate von Mehl, Kartoffeln, Gerste, Trauben, Raps, Chocolade, Zucker, dann conservirtes Fleisch, Gemüse, Früchte etc. begriffen sind.

Nichts begreiflicher, als daß die Kasseler Industrie-Ausstellung, welche am 1. Juni 1870 eröffnet werden soll, im weiten deutschen Vaterland eine Theilnahme gefunden hat, welche selbst die kühnsten Hoffnungen der Unternehmer übertreffen mußte. Auch das Ausland brachte dem schönen Plane das regste Interesse entgegen. Um Mitte Februar waren die Ausstellungsräume bis auf den letzten Platz vergeben. Die Mannigfaltigkeit und der Werth der angemeldeten Gegenstände stellen den Besuchern eine großartige Fülle von Belehrung und Genuß, den Ausstellern lohnendste Anerkennung und vor Allem auch, was bei derartigen Veranstaltungen ja die ideelle Hauptsache bleibt, dem industriellen Leben selbst reichste Förderung in Aussicht.

Schwerlich dürfte eine andere deutsche Stadt günstigere Bedingungen für ein solches Unternehmen bieten. Die Reize der Umgebungen Kassels, die weltberühmten Schönheiten der nahen Wilhelmshöhe, die kostbaren Besitzthümer der Kunstsammlungen der Stadt – bekanntlich enthält die Kasseler Bildergallerie einen ganz großartigen Reichthum an Meisterwerken höchsten Ranges, besonders aus der niederländischen Schule – haben von jeher alljährlich viele Tausende von Besuchern nach Kassel geführt. Die Anziehungskraft der Industrie-Ausstellung muß die regelmäßige Zahl dieser Gäste um ein Enormes steigern, zumal die Unternehmer mit unermüdlicher Thatkraft und bestem Erfolge bemüht sind, zu den vorhandenen Anziehungspunkten neue, künstlerische etc. für die Ausstellungszeit heranzuziehen.

Der Ausstellungsplatz in der Karlsaue ist mit glücklichstem Tact gewählt. An das Orangerieschloß, welches auf der vorliegenden Zeichnung die Gebäudefront zur Rechten bildet und dessen großartige Räume theils für eigentliche Ausstellungszwecke, theils für Concerte etc. bestimmt sind, schließen sich die übrigen Ausstellungsgebäude, von prächtigen Alleen umkränzt, in imposanter Ausdehnung gegen Osten hin an. Wer in den ersten Monaten dieses Jahres die Kasseler Aue besuchte und, vor den trotz der Winterkälte rasch emporwachsenden Ausstellungsräumen stehend, seine Blicke umherschweifen ließ, den mußten eigenthümliche Gedanken erfassen. Während unmittelbar vor seinen Augen der hölzerne Industriepalast im Werden war, wurde drüben auf der östlichen Höhe, einige hundert Schritte entfernt, ein Zerstörungswerk vollzogen. Hier ein Bau im Entstehen begriffen, dessen körperliche Dauer nur für wenige Monate berechnet ist, dessen Zwecke aber weit hinaus in die Zukunft reichen und nicht unerfüllt bleiben werden; dort ein Palast-Torso, der für Jahrtausende gegründet schien, nach halbhundertjährigem Dasein im Verschinden. Es ist die kolossale Ruine der Kattenburg, welche dort abgetragen wird, daß kein Stein auf dem andern bleibt. An der Stätte dieses Riesenbaues haben seit den Tagen Heinrich’s des Kindes von Brabant die hessischen Fürsten ihren Wohnsitz gehabt. Dann, nachdem das alte Landgrafenschloß (und mit ihm beinahe sein damaliger Bewohner, König Jerome von Westphalen) im November 1811 ein Raub gefräßiger Flammen geworden war, begann Kurfürst Wilhelm der Erste mit ungeheuren Kosten jenen Kolossalbau, den sein Sohn und sein Enkel zur Ruine werden ließen und der nun den Forderungen einer Zeit weichen muß, welche für keine Romantik und für keine Ruinen dieser Art mehr Raum hat.

Auch von anderer Seite her umgeistern den Betrachter des Ausstellungsgebäudes Erinnerungen mannigfaltiger Art aus althessischen Tagen. Das Orangerieschloß selbst, das aus langem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_172.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)