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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

kannte die Angekommene, deren Vater einst sein Hauptmann gewesen war.

Als sie bei der Freundin am Wagen stand, rief sie mit heller Stimme: „Louise, was sagst Du dazu, daß ich ein Kind mitbringe?“

Noch ehe die Staunende antworten konnte, wickelte sie die Kissen auseinander und aus denselben sprang ein braun und weißgefleckter Wachtelhund, schüttelte die langen Ohren, wie wenn er aus dem Wasser käme, sprang hin und her und schaute auf seine Herrin, die ihn aber keines Blickes würdigte, sondern unter dem Gelächter der Umstehenden, bald zu dem Inspector, bald zu Louise gewendet, rief: „Ist dies nicht ein artiges Kind unter zehn Jahren? Die reglementstarren Herren Bahnbeamten wollten mir nicht erlauben, meinen wohlerzogenen Freund Scheck mit in den Wagen zu nehmen. Nun denn! Die Tyrannei macht die Menschen klug! Ich habe Scheck als Kind maskirt, und habe damit die lustigsten Abenteuer erlebt. Die Mode, daß man jetzt nur kinderlose Miether in den Häusern haben will, dehnt sich auch auf die Eisenbahnen aus. An mehreren Wagen, wo ich mit dem vermeintlichen Kinde einsteigen wollte, hat man mir sehr menschenfreundlich zugerufen: ‚Hier ist kein Platz mehr!‘ und als ich endlich zornig eingestiegen war, wollten die Frauen das verschleierte Kind sehen, und ein noch sehr acceptabler Wittwer, dem ich gestehen mußte, daß ich keinen Mann hätte, machte mir einen halben Heirathsantrag. Herr Inspector,“ wendete sie sich zu diesem, der übermäßig lachte, „Herr Inspector, ich hoffe, Sie sind kein Philister, daß ich Strafe zu zahlen habe.“ Und als jetzt der Hund, der wissen mochte, daß von ihm die Rede sei, an seiner Herrin emporsprang, sagte sie zu ihm gewendet: „Ja, du warst sehr artig; du hast Menschenverstand.“

Die Bahnbeamten und alle Reisenden, die hier ausgestiegen waren, standen umher und lachten, ja die Kellner aus der Restauration kamen herbei und die Köchin erschien unter der Küchenthür, blickte nach der Gruppe und betrachtete ihren Anzug, der ihr nicht erlaubte, sich von ihrem Reiche zu entfernen. Der Hund schien etwas davon zu ahnen, daß dort ein gutes Herz für ihn sei, denn er verschwand plötzlich.

Mitten in der Heiterkeit der Umstehenden schaute Louise verdrossen drein. Sie bat, daß man fortzukommen eile. Dieser übermüthige Scherz der Freundin war ihr unbehaglich. Kisten, Schachteln und Handtaschen wurden aufgepackt, und als man eben abfahren wollte, fehlte Scheck. Auf wiederholtes Rufen kam er aus der Küche, er leckte sich noch die Lefzen ab, schaute noch einmal zurück zu seiner Wohlthäterin und wurde in den Wagen zu seiner Herrin gesetzt. Die Diener mußten sich offenbar Mühe geben, um nicht fort und fort zu lachen.

Der Wagen rollte auf der Landstraße dahin, die auf dem Bahnhofe Zurückbleibenden schauten ihm lange nach. Der Inspector erzählte den mit den Menschen in der Umgegend minder Bekannten, wer die beiden Damen seien. Der Wirth und die Wirthin gaben Ergänzungen, aber sie wußten doch nicht Alles.




2. Die Tochter des Parlaments.

Die Meinungen sind getheilt, die Einen behaupten, Louise sei erst fünfzehn, die Anderen, sie sei schon achtzehn Jahre alt gewesen, als ihr Vater, der reiche Fabrikant Merz, vor zehn Jahren zum ersten Mal zum Abgeordneten gewählt, mit seinem einzigen Kinde nach der Hauptstadt übersiedelte. Als unabhängiger, erfahrungsreicher und gebildeter Mann war Herr Merz ein angesehenes Mitglied der freisinnigen Mehrheit, die ein Ministerium ihres Charakters hatte. Dieses Ministerium war freilich noch nicht streng verfassungsmäßig aus der Mehrheit des Hauses hervorgegangen, vielmehr aus der Wahl des Fürsten, aber es herrschte doch eine eigenthümlich gehobene Stimmung, da man sich einer Regierung erfreute, die mit der allgemeinen Richtung wesentlich übereinstimmte.

Herr Merz hatte kaum mit einer nennenswerthen Gegnerschaft zu kämpfen gehabt, und er nahm das Mandat um so lieber an, als er seinem Naturell nach nicht gerne zur ständigen Opposition gehörte, sondern sich freute, seinen Grundsätzen getreu, loyal sein zu können. Freilich wurde es ihm schwer, seinen großen Fabrikbetrieb einem wenn auch vertrauenswürdigen Geschäftsführer zu überlassen, aber er hoffte auch durch Ortsveränderung und neue Thätigkeit seinen tiefen Lebensschmerz zu verwinden und zeitweise zu vergessen, denn er hatte vor Kurzem seine Gattin, mit der er in vollkommen glücklicher Ehe gelebt, verloren.

In der Miethswohnung, die man in der Residenz bezogen hatte, gestaltete sich bald eine anmuthende Häuslichkeit, der die Schwiegermutter, die den Sohn und die Enkelin begleitete, vorstand.

Die öffentlichen Kammerverhandlungen brachten keine Rede des Herrn Merz, um so wirksamer und geltungsvoller arbeitete er aber in den Abtheilungen, sogenannten Commissionen; er vollführte mit Eifer jene Arbeiten, die wie die Grundmauern eines Gebäudes nicht zu Tage treten, aber den Bau tragen.

Die Großmutter und Louise saßen halbe Tage lang auf der für die Angehörigen der Abgeordneten aufbehaltenen Gallerie. Die Herren unten im Saale blickten oft hinauf nach der würdigen Matrone und dem schönen Mädchen an ihrer Seite, das im Trauerkleide um so anmuthiger erschien. Oft auch kam in Pausen oder langwierigen Abzählungen dieser und jener von den näheren Bekannten aus den Abgeordnetenkreisen auf die Gallerie zu den Damen und unterhielt sich mit ihnen. Louise war meist schweigsam, aber die vielen Dinge, die sie hörte, bildeten eigenthümliche Elemente ihres innern Lebens.

Der Frühling, das Ende der Tagsatzung, wurde wie eine Befreiung begrüßt. Als man auf die Fabrik zurückkehrte, war es Allen, als ob man jetzt erst in’s Freie käme aus der schwülen Luft des Abgeordnetenhauses. Louise zumal schien neu aufzuleben.

Als sie mit Vater und Großmutter im Herbste wieder in die Residenz kam und jetzt nicht mehr in Trauerkleidern, wurde sie von einem großen Kreise als traute Bekannte begrüßt. Auch andere Abgeordnete hatten Frauen und Töchter mitgebracht, und es bildete sich ein eigner Kreis, der seinen besonderen Reiz darin hatte, daß nicht nur eigenthümliche Naturen aus allen Theilen des Landes sich zusammenfanden, sondern auch, daß man monatelang in der Fremde mit einer besonders gearteten Häuslichkeit lebte.

Im dritten Jahre fand sich eine belebende Neuerung. Eine Pensionsfreundin Louises, Marie von Korneck, war mit ihrem Vater nach der Residenz versetzt worden. Die beiden Mädchen waren wohl Freundinnen in der Pension gewesen, ohne sich derart zu verbinden, daß sie diese Beziehung über die Trennung hinaus aufrecht erhielten. Jetzt aber war es, als ob man in der innigsten Freundschaft gestanden hätte: man hatte gemeinsame Jugenderinnerungen, man hatte einander viel zu erzählen von den in alle Welt zerstreuten Genossinnen, von den Pedanterien der Erzieherinnen und einzelner Lehrer, aber auch von jenem Geschichtslehrer, in welchen alle Schülerinnen verliebt waren. Gerade die Gegensätzlichkeit, die in dem Wesen der beiden Mädchen bestand, schien eine neue Anziehungskraft zu üben. Marie hatte etwas soldatisch Entschlossenes, sie war fertig im Wort und sah das Leben als heiteres Spiel an; Louise dagegen hatte etwas Bedachtsames, sie hatte keine raschen Einwürfe und Zwischenreden, sie hörte aufmerksam und ruhig zu, und wenn sie dann sich äußerte, so geschah das in wohlgeordneter geschlossener Rede. Auch die Väter fanden freundlichen Anschluß, und da eben ein liberales Ministerium obenauf war, als dessen Stütze die Partei des Herrn Merz erschien, hatte der Major Korneck keinerlei Hinderung, mit einem politischen Manne von entschieden liberaler Richtung freundschaftlich zu verkehren. Marie von Korneck war rasch in die gesellschaftlichen Vergnügungen der Residenz eingetreten, sie kannte die besten Tänzer, die amüsantesten alten Herren, und der junge Fähnrich von Birkenstock, der ein weitläufiger Verwandter von ihr war und sie Cousine nennen durfte, war ihr dienstwilliger Verehrer, der sich auch der Freundin ergeben zeigte.

Louise wurde bald in den Strudel der Wintervergnügungen gezogen. Den Abgeordneten und ihren Angehörigen waren die Salons der Minister und die ersten gesellschaftlichen Kreise geöffnet. Durch manchen Ballsaal gingen Louise und Marie Arm in Arm, und viele bewaffnete und unbewaffnete Augen richteten sich auf sie.

Man sprach auch von Bewerbern um Louise, aber diese war gleichmäßig freundlich gegen Jedermann und bevorzugte Niemand. Sie war ein belebendes Element in den Männerkreisen, schlagfertig und entschieden in den Antworten; sie hatte nicht umsonst mehrere Tagsatzungen mit angehört, sich bei der Debatte bald für diesen, bald für jenen Redner entschieden, um zu erkennen, daß es ihr an Selbstständigkeit des Urtheils fehlte, bis sich diese herausbildete.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_226.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)