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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

7. Flucht vor sich selbst.

Die Vier wandelten nach der Ruine und erst als der Mond heraufgestiegen war, gingen sie nach dem Wagen und fuhren heimwärts. Es wurde wenig mehr gesprochen, der Vater schlief und auch Marie schien zu schlafen, nur der Rittmeister und Louise wachten. Die Sterne glitzerten am Himmel, die Nachtigallen schlugen in den Büschen und ein würziger Frühlingshauch erfüllte die Luft.

Da faßte der Rittmeister die Hand Louisens. Er hielt sie fest, sie wollte ihm ihre Hand entziehen, sie konnte nicht, sie zitterte. Er drückte ihre Hand und sie? Drückte sie sie wieder? Sie wußte es nicht. Eiskalt überlief sie’s. Ist es doch so? Du liebst einen Mann, der einer Andern angehört? Nein, nein! knirschte sie vor sich hin und ballte die Hände, und unwillkürlich rief sie plötzlich laut: „Vater!“

„Was willst Du?“ fragte der Vater aus dem Schlaf sich erhebend.

„Ach! Habe ich Dich gerufen?“

„Ja!“

„Ich wußte es nicht! Ja! Ich möchte jetzt aussteigen.“

Sie rief den Kutscher an, er hielt, sie öffnete schnell den Schlag, stieg aus und bat den Vater mit ihr auszusteigen. Sie duldete nicht, daß das Brautpaar ebenfalls ausstieg, sie befahl rasch dem Kutscher davonzufahren, und als der Wagen dahinrollte, fiel sie dem Vater um den Hals und rief: „Wehe, wehe! Ich bin schlecht, grundschlecht, ein elendes Wesen! Vater, hilf mir!“

Der Vater konnte kaum ein Wort der Beruhigung hervorbringen. Louise warf sich an seine Brust und mit herzerschütternder Stimme rief sie: „Ach, Vater, ich fürchte, es kann kommen, es will kommen, daß ich den Bräutigam Mariens liebe und er mich.“

„Wenn er aber frei wäre!“

„Ach, bitte, Vater, sprich nicht so. Ach, bitte, laß uns kein Wort sprechen.“

Der Vater wußte selbst nicht, wie er das seltsame Verhältniß erklären sollte. Er konnte nicht sagen, daß er von der Intrigue wußte, denn er mußte sich gestehen, daß er dann allen Einfluß auf sein Kind verlieren würde, und je länger er schweigsam neben seiner Tochter einherging, um so besser erschien es ihm, daß sein Kind selber sich aufraffte und den ersten Keim einer Neigung gegen einen Mann unterdrückte, der sich zu solchem Spiele hergab.

Schweigsam kamen sie bei dem Hause an. Louise eilte auf ihr Zimmer und ließ sagen, daß sie heute Niemand mehr sprechen wolle. Sie saß auf dem Sopha und rang mit sich in tief peinigender Selbstanklage. Mitternacht war vorüber, als sie sich endlich zur Ruhe begab; aber sie fand den Schlaf nicht, sie stand wieder auf und ließ den Vater wecken und ihn bitten, zu ihr zu kommen. Er kam, und nun drang sie in ihn, daß er sie befreie; noch sei es Zeit, noch gebe es ein einziges Mittel. Der Vater sollte wieder erklären, daß der Rittmeister vielleicht doch – aber Louise ließ ihn nicht ausreden; sie rief: „Nein, nie. Ich wäre ehrlos vor mir selbst.“ – Sie bat den Vater, daß man jetzt, sofort, noch in der Nacht die beabsichtigte Reise antrete, sie könne jetzt Marie und ihren Bräutigam nicht wieder sehen. Nochmals suchte der Vater sie zu beschwichtigen; aber Louise schwor, daß sie in der Nacht das Haus verlassen und in die Welt hinaus wandere, wenn der Vater ihr nicht willfahre. Noch nie hatte dieser sein Kind so leidenschaftlich überwältigt gesehen, so entschieden und entschlossen, alle Bande zu zerreißen. Er willfahrte. Louise schrieb noch einen Brief, worin sie der Freundin mittheilte, daß in den nächsten Monaten keine Nachricht sie treffe, – auch an die Großmutter schrieb sie, und im Morgendämmer, als Marie noch schlief, fuhr der Wagen ab, worin Louise und ihr Vater saßen.

Der Rittmeister, der in der Gutswohnung auch keinen Schlaf gefunden hatte und im Morgendämmer am Fenster stand, glaubte zu träumen, da er den mit vielen Koffern bepackten Wagen vorüberfahren sah, in welchem Louise und ihr Vater saßen.




8. Mit Feuer spielen.

Vater und Tochter waren schon weit, Louise war in einer Ecke des Bahnwagens eingeschlafen – wenigstens hatte sie die Augen geschlossen und hielt sich regungslos – als Marie in den Gartensaal zum gemeinsamen Frühstück ging. Sie war betroffen, daß sich noch Niemand zeigte, Herr Merz war immer früh auf. Da brachte ihr die Wirthschafterin zwei Briefe. Der eine war aus Paris, der andere hatte gar keine Adresse. Marie erröthete, als sie den ersten sah; sie öffnete aber doch schnell den zweiten. Er enthielt die hinterlassenen Zeilen Louisens. Marie konnte nicht fassen, was da geschehen war; sie öffnete den zweiten Brief, sie schien ihn nicht gut lesen zu können, sie faßte sich mehrmals mit der Hand an die Stirn, dann saß sie, lange vor sich hinstarrend, den Brief in der schlaff herabhängenden Hand haltend.

Der Rittmeister wurde gemeldet; Marie versteckte schnell beide Briefe. Der Rittmeister sah überwacht aus. Er sagte Marie, er sehe, wie er doch nicht zu solchen abenteuerlichen Unternehmungen geeignet sei; er trug es scherzhaft vor, aber im Tone seiner Rede lag doch ein Ernst, wie er darlegte, daß dies eine höchst peinliche Lage sei. Er stehe zwischen zwei begehrenswerten Mädchen; das eine solle als seine Braut gelten, das andere seine Gattin werden; er habe zu keinem ein wahres Verhältniß; er halte das nicht länger aus.

Marie hörte ihn geduldig an; sie preßte die Lippen zusammen, und als der Rittmeister endlich fragte, ob er geträumt habe oder ob es wirklich so sei, er glaube heute in der Morgendämmerung Louise und ihren Vater im Wagen davonfahren gesehen zu haben, da reichte ihm Marie den hinterlassenen Brief der Freundin. Sie war aber nicht wenig erstaunt, als der Rittmeister in fröhlichem Tone rief: „Das ist mir eigentlich lieb! Ich bin sie nun los mit sammt ihrem Gelde. Ich hätte mich vielleicht in eine Empfindung hineingelogen, ich war auf dem besten Wege dazu, und doch taugen wir nicht für einander, und ich glaube auch, daß auf ein solches Verhältniß, wie wir es hier anlegten, sich keine wirklich dauernde Lebensbeziehung aufbauen läßt. Das mag in der Komödie hingehen, wo man nicht fragt: wie ist es denn nun, nachdem der Vorhang gefallen? Wie wirkt es denn nach, daß sie Versteckens gespielt?“

Er hielt plötzlich inne und Marie sagte: „Sie wollten uns nicht ausweisen und sind darum aus ihrem eigenen Hause weggegangen.“

Der Rittmeister nickte und Marie fuhr fort: „Ich hätte Herrn Merz nichts davon sagen sollen.“

„Das hast Du gethan?“ rief der Rittmeister. Alles Blut schoß ihm durch die Stirn, seine Augen glänzten und er fuhr fort: „Nun ist Alles gut! Ich bin frei und froh. Ich bin den Geldteufel los und habe dafür den Anmuthsengel. Mir ist wohl, daß die Komödie vorbei ist. Wir wollen den Geldprotzen zeigen, daß wir sie zu Narren gehabt. Bist Du einverstanden?“

„Einverstanden? Ich verstehe nicht!“

„Marie, ich habe eingesehen, daß nur Du zu mir passest. Nun sage mir ohne Zagen frisch weg: findest Du nicht auch, daß ich allein zu Dir tauge? Wir besitzen freilich beide nichts, aber wenn wir einander haben, sind wir reich, und wir sind keine Philister, die sich viel Sorge machen. Ich bin gesund und muthig, ich werde schon mein Leben erobern. Nun sage mir nur ein einziges Wort. Habe ich nicht schon ein Leben erobert? Habe ich nicht Dich? Sprich nur ein einziges Wort!“

Marie griff in die Tasche, sie wollte den andern Brief herausnehmen, den sie aus Paris erhalten, aber sie brachte die Hand wieder leer aus der Tasche. Sie reichte die Hand dem Vetter dar und begann: „Laß mich jetzt nicht reden. Ich habe auch nicht gewußt, daß etwas in mir ist – man nennt es Eifersucht, aber – bitte, laß mich jetzt nichts reden. Vertraue mir, daß ich Alles ernstlich überlege – Du und ich, wir sind keine Kinder mehr. Ja, wir sind keine Kinder – wir haben beide Niemand, der für uns überlegt. Ich bitte Dich, reise Du jetzt zurück, aber gieb Dich keinen Hoffnungen hin – halte fest, ich habe Dir durchaus nichts gesagt. Leb’ wohl! Wenn es Zeit ist, wirst Du von mir hören. Aber nochmals – halte fest, ich habe Dir nichts zugesagt.“

„Und ich lasse Dich nicht,“ rief der Rittmeister, „ich versiegle Dir den Mund!“

Er umarmte und küßte die erbebende, die sich wehrte, dann aber auch ihn heftig umarmte und küßte. Plötzlich rang sie sich los und verließ das Zimmer. Der Rittmeister starrte ihr nach; dann ging er nach der Gutswohnung, legte das kleidsame Bürgergewand ab und in Uniform gekleidet kehrte er wieder nach der Garnisonstadt zurück.

Auch Marie reiste am Abend ab; auf der Heimkehr verbarg sie den kleinen Scheck nicht mehr in so übermüthiger Weise, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_271.jpg&oldid=- (Version vom 10.1.2019)