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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

Noch herber tritt uns das Thierreich in der Wissenschaft entgegen. Nach dem Schema eines endlosen Rechenexempels, in welchem als benannte Zahlen die Spannkräfte der Stoffe und die verwickelten Formen kleinster Flächen, die Geschwindigkeiten und Bahnen bewegter Molecüle eingehen, wird aus dem Ei die vollendete Gestalt, die leider mit Empfindung und Leidenschaft, mit Willen und mit Kräften, ihn zu vollführen, begabt ist.

In ihrer Gesammtheit erscheint die Thierwelt als der zerlegte Mensch, denn was sich in uns vereint findet, vertheilt sich dort in tausendfältiger Spaltung auf viele Classen und Arten. Neben die finstern Leidenschaften, die den Menschen in schlimmen Stunden beherrschen, Blutgier mit List und Gewalt befriedigt, stellt sich auch das Abbild unserer edleren Regungen, die Treue und die Hingabe an die Familie, ja an das Gemeinwesen. Aber dieses anziehende Bild verdüstert sich rasch, seitdem die Beweggründe des Handelns offenbar wurden. So oft es gelingt, eine verderbliche oder eine hülfreiche That des Thieres auf ihren innern Grund zu verfolgen, so oft erkennen wir sie bedingt durch die Lust oder Unlust der Sinne; dieser Macht ist es zuzuschreiben, daß heute die Eltern das Kind ernähren und schützen und morgen verstoßen und berauben; und nur ein großes Gesetz beherrscht das Leben der Thierwelt, der grimmige Kampf um das Dasein. Ein jedes Wesen befriedigt rücksichtslos seine Begierden und kein Mittel bleibt unversucht, um den andern die Bedingungen des Lebens zu verkümmern, sich selbst die erjagte Beute zu sichern. Das Grausen, welches dieses Schauspiel weckt, vollendet schließlich die Erkenntniß, daß das Behagen des Stärkeren, wenn er den Ueberwundenen zerfleischt, um ein Unendliches geringer ist als der Schmerz, den seine That geweckt hat. Vergebens sucht man in diesem Kampfe Aller gegen Alle nach einem sittlichen Grundsatz, nach Edelmuth, nach Mitleid und was sonst das Herz eines Menschen bewegen könnte. Auch das wohlwollendste Auge sieht nichts Anderes als die Kette der Folgen und der zureichenden Gründe.

Schreiten wir endlich zur Wissenschaft vom leiblichen Leben des Menschen. Sie zeigt, daß der Einheit unseres Bewußtseins jene große Zahl von Werkzeugen unterworfen ist, welche unsern Leib zusammensetzen. Jedes einzelne derselben erfordert zur Entfaltung seiner Wirkung so vielfach veränderliche Bedingungen und viele von uns erwecken in uns so mannigfache Empfindungen, daß die Beherrschung und Benutzung aller Werkzeuge nur durch besondere Hülfsmittel möglich wird. Die Beachtung dieser letzteren läßt sie sogleich als mannigfach verschiedene erkennen.

Diejenigen Organe, welchen die Erhaltung der normalen Zusammensetzung unseres Körpers anvertraut ist, erfreuen sich einer fast vollkommenen Selbstständigkeit und zwar in dem Maße, daß wir von ihnen und ihrem Thun erst dann eine Nachricht erhalten, wenn ihr normaler Gang gestört wird. Und auch dann sprechen sie nicht zu uns durch bestimmte, klar umschlossene Vorstellungen, sondern durch Stimmungen und Begierden, durch ihren Hunger, ihre Athmungsnoth und ihre Herzensangst. In diese Reihe gehören z. B. die Werkzeuge der Verdauung, der Aufsaugung, des Athmens, des Blutlaufs. Ohne Weiteres leuchtet ein, daß sie gerade, weil sie so selbstständig, nur bei einem hohen Grade von innerer, man möchte sagen von sittlicher Durchbildung ihre Aufgabe lösen können. In der That, mustergültig ist die Sparsamkeit, mit welcher sie schaffen; denn zum eigenen Unterhalt verbrauchen sie wenig von der Nahrung, die wir ihnen zur Bearbeitung und Verbreitung übergeben; treu und gewissenhaft liefern sie den wohlbereiteten Stoff wieder ab, freigebig reichen sie jedem Körpertheil die Mittel zu einem vollen und ganzen Leben, aber sorgsam sammeln sie den Ueberschuß der Organwirthschaft aus allen Winkeln bis zur letzten Spur wieder auf und legen mit kluger Unterscheidung das Brauchbare zum allgemeinen Betriebscapital des Organismus, das Verdorbene aber verbrennen sie und scheiden es aus.

Solche Werkzeuge, den Verwaltungsbehörden unserer Staaten vergleichbar, haben selbstverständlich die genaueste Fühlung mit allen Theilen unseres Körpers, damit sie die Bedürfnisse jedes einzelnen erkennen, und andererseits sind sie mit einer kräftigen und wohlorganisirten Executive versehen, damit sie zur rechten Zeit, am rechten Orte und in rechtem Maße wirken. Und wie vollkommen sind sie mit Allem ausgerüstet!

Die herrliche Einfachheit ihres Baues, die Leichtigkeit ihres Ganges, das sichere Eingreifen vielfach verknüpfter Maschinenstücke, die weise Verwendung der Kräfte, sie sind der gerechte Gegenstand der Bewunderung des Technikers, denn überall offenbaren sie Uebermenschliches, sei es an Scharfsinn in der Erfindung oder an Sorgfalt in der Ausführung.

Obwohl uns noch weitaus nicht die volle Einsicht in die Wirkungen aller ihrer Theile gestattet ist, und obwohl in den meisten Fällen, wo wir diese besitzen, das volle Verständniß der Wirkung nur durch mühseliges und andauerndes Studium gewährt wird, so läßt sich doch hin und wider auch ohne diese ein Einblick in die Vorgänge thun, auf welche ich hier hingewiesen.

Beispielsweise wollen wir eine der einfachsten Lebenserscheinungen betrachten, den Durchgang der Athmungsluft durch den Kopf. Die Luft, die unsere Brust durch die Nase saugt, ist uns die nothwendigste Bedingung des Lebens, aber sie bringt uns auch große Gefahr. Denn wie sie eingesogen wird, ist sie weniger feucht als unser Inneres. Rasch würden die Luftwege des Kopfes vertrocknen, wenn nicht auf die Wände ihrer Bahn fortwährend ein feuchter Regen von Flüssigkeit ergossen würde. Die Wolken, aus denen er fließt, sind kleine Drüsen. Jede von diesen trägt in ihren Nerven einen Hygrometer, welcher den Stand der innern Feuchtigkeit mißt, und eine Kette, welche die Schleuße höher hebt, wenn am Himmel die Sonne scheint, und sie tiefer preßt, wenn es dort regnet. Aber die Luft ist nicht blos trocken, sie ist auch staubig und wäre sie die Luft des Paradieses. Im duftigen Wald und über dem frischen Grün der Wiese schwärmen, vom leichten Lufthauch gehoben, der Blüthenstaub, die Keime der Infusorien und der Pilze. Nach der geringsten Schätzung, die auf sorgfältigen Zählungen beruht, wird ein Mensch in vierundzwanzig Stunden etwa siebenzig Millionen solcher Keime, abgesehen von allem anderen Staube, einathmen. Unter diesen Sporen und Eiern sind viele Tausende, welche den feuchten und warmen Boden unserer Luftwege zur Keimung recht behaglich finden.

Wie sollten wir uns dieser Gäste erwehren, wenn die Natur nicht gesorgt hätte? Sie hat die Oberfläche unserer Luftwege mit einer beweglichen Schicht überkleidet, welche fort und fort die eingesogenen Keime durch die Mundöffnung der Nase über die abschüssige Fläche des weichen Gaumens in den Anfang der Speiseröhre treibt. Mit Speichel gemengt werden die Eier und Sporen verschluckt und in dem alles zerstörenden Magen ihrer Keimfähigkeit beraubt. Dieser bewegliche Saum, in der Wissenschaft als Flimmerhaut bekannt, setzt sich zusammen aus Härchen, so klein, daß vierhundert derselben der Länge nach aneinander gelegt, erst eine Linie rheinisch messen, und so fein und gedrängt, daß vierzigtausend auf der Fläche eines starken Nadelkopfes sitzen und noch einmal so viel auf ihm Platz hätten. Diese Härchen sind Riesen an Kraft, denn sie schieben auf der glatten Fläche der Nase das Zweihunderttausendfache ihres eigenen Gewichtes mit Leichtigkeit weiter; sie sind zähe und ausdauernd wie die Amphibien, denn fern von dem erfrischenden Blutstrom trotzen sie jedem Temperaturwechsel, und zerrissen bilden sie sich leicht von Neuem; sie sind unermüdlich, da sie, wie das Herz, niemals schlafen, und doch sind sie kunstvoller als das Herz, denn sie arbeiten ohne Beihülfe der Nerven; sie sind von staunenswerther Subordination, denn die Billionen von Härchen schlagen alle nach derselben Richtung zu immer derselben Zeit, und endlich sind sie die Bescheidenheit selbst, denn obwohl sie in der Minute viermal auf- und abgehen, so machen sie sich auch nicht durch das leichteste Kitzelgefühl bemerklich.

Dieses Kitzelgefühl hat sich die Natur zu etwas Neuem aufgespart. Wenn eine Mücke in unsere Nase summt oder der Wind das Sandkorn in sie schleudert, dann ist dieses Gefühl der Vorbote eines neuen Wunders. Durch diese Empfindung von einer Gefahr unterrichtet, welche die tapfere Armee der kleinen Härchen nicht mehr überwinden kann, schickt sie sich an schwereres Geschütz in das Feld zu stellen. Durch die Dicke ihrer Wand sendet sie einen raschen Blutstrom und giebt damit ihren Drüsen die Mittel, den fremden Körper mit glatter Flüssigkeit zu umhüllen. Indem sie so sorgt, entsendet sie zugleich eine telegraphische Botschaft zu der Stelle des Hirns, in welcher die Beherrscher der Brust thronen. Kaum haben diese vernommen, was dem treuen Diener widerfahren, so rüsten sie sich zur That; sie erweitern den Brustkorb und schleudern dann in heftigem und plötzlichem Stoße die aufgenommene Luft durch die Nase, die den gelockerten Eindringling unfehlbar hinaustreibt. – Wer, wie die meisten von uns, in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_342.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)