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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

schon darum, weil sie nicht wie der Mensch ihre Werke stückweise entstehen läßt. Sie fertigt nicht erst das Gerüst und füllt und umkleidet dieses mit seinem Inhalte und seinem Ueberzuge, sondern sie legt schon in den Keim die Anlagen aller zukünftigen Formen, so daß der Rumpf mit den Gliedmaßen, die Haut und die Muskeln zugleich mit den Knochen heranwachsen. So wird jeder Theil vom benachbarten gefördert, und jeder beschränkt auch zugleich den anderen, weil alle gleichzeitig aus demselben Material ihren Bildungsstoff beziehen. – Trotz alledem gelingt ihr nicht Alles, denn zahlreiche Mißgeburten entstehen auch in der Werkstätte der Natur – aber was nicht proportionirt ist, das zertrümmert die Prüfung des Lebens, weshalb die große Zahl der Fehlfälle nicht zur großen Summe wird. Müßten alle Statuen unserer Bildhauer und alle Bäume unserer Landschafter die Probe des Schreitens oder des Widerstandes gegen die Eingriffe des Klimas ablegen, so würden uns auch unsere Kunstsammlungen weniger reich an Fehlern erscheinen.

Mit der Güte des Materials, der Durchbildung des Details, dem Festhalten der Proportion ist auch die Kunst der Natur zu Ende. Nach den Anschauungen, die neuerlichst in der Entwickelungslehre der organischen Wesen fast ausschließlich zur Herrschaft gelangt sind, soll die Natur den Bau ihrer Geschöpfe methodisch verbessert haben. Nach der modernsten Phase, welche Darwin’s berühmte Lehre erfahren hat, sollen Frosch und Kröte Vorstudien der Natur zur menschlichen Gestalt gewesen sein. Danach wäre ihr Bildungsfähigkeit nicht abzusprechen, aber ihr künstlerischer Sinn wäre auf das Tiefste gebrandmarkt, wenn sie heute noch den Standpunkt, den sie selbst überwunden hat, fort und fort von Neuem einnähme. Doch wie es sich auch mit der Wahrheit unserer heutigen Naturphilosophen verhalten mag, Eins bleibt sicher: es bildet die Natur, dem Sinne des Künstlers gerade entgegen, leicht und zahlreich das Häßlichste wie das Schönste, und Alles baut und formt sie mit gleicher Sorgfalt und Liebe. In welche Verirrungen unsere heutige Kunstindustrie auch verfallen ist, so tief steht sie nicht, daß sie zugleich um die Gunst der edlen Jungfrau und die der Auster und Spinne buhlte.

Den Meisten unter Ihnen werden die Betrachtungen, welche ich bis dahin angestellt, fremdartig genug klingen, und besonders unerwartet wird es Ihnen sein, sie aus dem Munde eines Naturforschers zu hören, da doch sonst nur Lob und Preis der Wissenschaften ertönt, welche der Neuzeit ihre Signatur aufdrückten. Und doch, so schmerzlich es ist, an dem Inhalte unserer Wissenschaften kann sich kein menschliches Gemüth erquicken, vorausgesetzt immer, daß man den ganzen und vollen Inhalt erfaßt und nicht etwa eine poetische Auslese aus ihm hält.

Anders aber gestaltet sich die Lage, wenn wir vom Wissen zum Können, von dem Begreifen zum Beherrschen übergehen. Mit diesem Schritte gewinnen wir einen neuen und überwältigenden Gesichtspunkt.

Die Mutter Natur hat sich nicht damit begnügt, uns mit einem gebrechlichen Leibe zu begaben, sie hat uns vorsorglich auch mit Gefahren umstellt, sie hat uns mit dem Drange zum Nachdenken erfüllt und uns in die Welt aller Räthsel gesetzt, sie hat uns den Trieb zum Schaffen geschenkt und neben uns Gewalten wachgerufen, die unserer schwachen Körperkräfte spotten, sie hat uns die Liebe zu den Kindern und den Volksgenossen eingeflößt und freiwillig nur kärgliche Nahrung gereicht, so daß dem völkererzeugenden Stamme der Hunger als Zugabe zur Liebe gereicht ward. In dieser Lage bleibt kein Ausweg als die Arbeit des Erkennens, welches zur Herrschaft über die Naturkräfte führt. Die Naturwissenschaften, die Kinder der Noth, bieten das einzige Mittel, um zum Selbstgenuß des Geistes zu gelangen.

Das Ziel ist lockend, aber es liegt in weiter Ferne, denn das, was wir Natur nennen, ist ein dichter Knäuel vielfach verschlungener Fäden, der nicht willkürlich von jedem beliebigen Ort an zu entwirren ist. Jeder folgende Schritt ist vergeblich oder belohnt zum Mindesten nur spärlich die angewendete Mühe, wenn nicht schon der vorhergehende gethan ist.

Den Beweis für diesen Satz giebt in überraschender Weise die Entwickelungsgeschichte der physiologischen Wissenschaft. Der Leib des Menschen ist, wie wir heute mit unumstößlicher Gewißheit erklären, nichts Anderes als eine sinnreiche Zusammensetzung aus mancherlei Werkzeugen, in welchen keine bevorzugten, sondern nur die Kräfte der unorganischen Welt beschäftigt sind; was hätte somit näher gelegen, als daß der Mensch durch eine Zergliederung seines leiblichen Lebens oder dessen der Thiere, welche ihm an Körperbau nahe stehen, zu einer Einsicht in die Vorgänge der unbelebten Natur gedrungen wäre, und doch ist dieser Weg kein einziges Mal von der Naturforschung mit Erfolg eingeschlagen worden. Ja noch weiter, wir haben kein Organ unseres Leibes und sein Wirken eher begriffen, als bis ein Analogon seiner Maschinerie in der unorganischen Natur verstanden war.

Als an der Hand der Astronomie die Grundlagen der Mechanik geschaffen waren, erst da sah der Anatom in dem längst bekannten Knochengerüst das Gesetz des Hebels verwirklicht. Bevor das Fernrohr und das Mikroskop zusammengesetzt waren, ist keinem der vielen Zergliederer des Auges die Einsicht geworden, daß unser Werkzeug, mit welchem wir die Lichtstrahlen sondern und vereinigen, nichts Anderes anstrebe und erreiche, als die genannten Apparate der Optiker. Erst nach den Entdeckungen der Volta’schen Säule wurde auch in unseren Nerven und Muskeln die elektrische Batterie gefunden. Danach wird es auch nicht verwunderlich, daß die Dampfmaschine keiner Wissenschaft größere Dienste als der unsrigen geleistet hat.

Mit der Maschine war zum erste Male ein selbstthätiger Mechanismus künstlich erbaut, in dem sich das Spiel der Kräfte durchsichtig genug gestaltete, um den Zusammenhang zwischen der entstandenen Wärme und der gelieferten Bewegung zu erkennen. Unverzüglich löste sich auch dem Physiologen das große Räthsel der Lebenskraft, indem es sich zeigte, daß es mehr als ein blos poetischer Vergleich sei, wenn man die Kohle als das Nahrungsmittel der Locomotive und die Verbrennung als den Grund ihres Lebens auffasse.

Die Erklärung des Lebens geschah an der Hand der Mathematik, Chemie und Physik, natürlich nicht dadurch, daß die dort gefundenen Lehrsätze und Thatsachen unmittelbar auf die Organe des Thieres und seine Leistungen übertragen wurden; dagegen schützt schon der ganz abweichende Bau und die eigenthümlichen Mittel, mit denen derselbe hergestellt ist. Aber so viel Mühe und Scharfsinn es gekostet hat, die grundsätzliche Uebereinstimmung zwischen dem Organischen und Unorganischen in jedem besonderen Falle darzuthun, die Principien, welche in den reinen Naturwissenschaften gefunden worden, sind doch der Leitstern gewesen, welcher den Physiologen geführt hat.

Darum bleiben auch die Gebiete, auf welchen uns kein dort gefundener Grundsatz leitet, trotz aller Anstrengung im Dunkeln. So wissen wir z. B., daß die Zelle sich ernährt, wächst und theilt, daß sie zahlreiche chemische Verbindungen erzeugt, daß sie das Einfache aufnimmt und das Zusammengesetzte abgiebt; wir wissen, daß sie im Verlauf ihres Lebens je nach Stand, Ort und Bedingung zahlreiche Formen verschiedenster Art, bewegliche und starre annimmt; kurz wir wissen, daß sie der Baumeister unseres Leibes ist. Warum aber gerade diese Formen und diese Stoffe das Wachsthum bedingen, das bleibt uns unbekannt. Mit Sehnsucht sehen wir darum der Entdeckung der Urzeugung, eines homunculus, wenn Sie wollen, entgegen; erst wenn dieser Traum und sei es auch noch so unvollkommen, verwirklicht, wenn erst nur ein Rudiment entwickelungsfähigen Stoffes künstlich hergestellt ist, dann wird auch bald das große Problem der natürliche Entwickelung begriffen und die volle Herrschaft des Arztes und des Landwirthes über die Entwickelung von Pflanze und Thier gewonnen sein.

Doch das volle, das philosophische Verständniß, in welchem die verwickelten Vorgänge der Natur sich aus den wenigen und einfachen Grundsätzen ableiten, die wir kraft unseres Denkens als unzerlegbar ansehen, ist glücklicherweise nicht immer nöthig, um unsere Kenntnisse praktisch zu verwerthen. Jede, wenn auch noch so beschränkte Einsicht führt zu einer entsprechenden Beherrschung der Kräfte. Die Geschichte belegt diesen Satz mit tausend Beispielen, denn worauf gründet sich die Darstellung des Glases, das Pfropfen des Reises, die Anwendung des Opiums, Techniken, die weit in das Alterthum reichen, anders als auf eine genaue Kenntniß von den natürlichen Producten und Processen.

Aber zur vollen und unbedingten Herrschaft gelangen wir nur an der Hand der Theorie, weil sie nicht ein künstliches, sondern ein aus dem Inhalte zahlloser Erfahrungen abgeleitetes Wissen ist, welches das Heer der Naturerscheinungen unserem Verstande so deutlich ausspricht, daß er sie trotz seiner Beschränktheit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_359.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)