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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)

furchtbar demüthigend ihr jetzt auch seine Nähe sein mußte. Einen Moment lang blickte er schweigend auf sie nieder, wandte sich dann um und ging, ebenso rasch und leise wie er gekommen war.

Aber bereits nach zehn Schritten blieb er stehen und sah zurück. Sie lag so still und regungslos wie eine Todte, vielleicht war sie ohnmächtig, vielleicht – der Graf war noch nicht mit sich einig geworden, was hier die Menschlichkeit oder das Zartgefühl verlange, als er sich auch schon wieder an ihrer Seite befand.

„Mein Fräulein!“

Keine Antwort, sie regte sich nicht.

Hermann beugte sich nieder und hob sie empor. Willenlos ließ sie seine Hülfe geschehen, und während sie sich mechanisch in seinen Armen aufrichtete, streifte ihr Auge, wie bewußtlos, sein Gesicht.

„Sie sind nicht wohl! Darf ich Ihnen meine Hülfe bis zum Dorfe anbieten?“

Er hätte nicht sprechen dürfen, beim Ton seiner Stimme kam ihr sofort die Erinnerung und damit zugleich Bewußtsein und Kraft zurück, aber die erste Aeußerung derselben richtete sich gegen ihn. Da war es wieder, das jähe Aufzucken, das entsetzte Zurückweichen wie bei der Begegnung am heutigen Mittag, wieder trat der seltsam feindliche Blick in ihr Auge, es schien, als ob in der einen Empfindung des Abscheues gegen ihn selbst die Erinnerung an die letzte Viertelstunde unterginge.

„Ich bedarf keiner Hülfe – mir ist wohl – völlig wohl –“ sie that einige Schritte, schwankte aber und mußte sich an einen Baum lehnen, um nicht zu sinken. Der Wind schüttelte die Krone desselben und warf einen Regen von Blättern auf sie nieder, der erste Blitz zuckte durch die Luft und ein fern grollender Donner folgte ihm; Hermann, der verletzt zurückgetreten war, näherte sich jetzt wieder dem jungen Mädchen und sagte mit einer Entschiedenheit, durch die allerdings einige Bitterkeit hindurchklang:

„Es thut mir leid, Ihnen mit meiner Gegenwart beschwerlich fallen zu müssen, aber Sie sind nicht wohl, mein Fräulein. Sie sind allein und fremd hier, es zieht ein Gewitter heran, und das Dorf ist eine halbe Stunde entfernt. Sie werden deshalb meine Begleitung annehmen und zugleich die Versicherung, daß ich Ihnen keine Minute länger lästig fallen werde, als unumgänglich nöthig ist.“

Ruhig, als sei ein Widerspruch gar nicht denkbar, nahm er ihren Arm, wie den eines Kindes, um sie zu führen, aber diese Berührung übte eine ungeahnte, eine wahrhaft erschreckende Wirkung auf Gertrud aus. Wäre es der Stich einer Schlange gewesen, sie hätte nicht entsetzter zusammenfahren, nicht mit größerem Abscheu zurückzucken können. Es war fast ein Schrei, mit dem sie ihre Hand aus der seinigen riß, und Hermann glaubte plötzlich ein ganz anderes Wesen vor sich zu sehen. Es lag nichts mehr von dem „Kinde“ darin; die Erscheinung, die da vor ihm stand, hochaufgerichtet, aber todtenbleich, mit bebenden Lippen, hatte etwas Gebietendes, Ueberwältigendes. Ihr Blick traf ihn mit so räthselhaft zwingender Gewalt, daß jeder Andere die Augen davor niedergeschlagen hätte, und mit einem Ton und Ausdruck, der den Grafen völlig versteinerte, rief sie ihm drohend zu: „Berühren Sie mich nicht, Graf Arnau! Ich will nicht von Ihnen geleitet sein!“

Sie wandte sich, schlug den Weg nach dem Dorfe ein und verschwand zwischen den Gebüschen. Hermann stand bewegungslos und sah ihr nach, aber in der nächsten Minute schon überwog der Zorn die starre Verwunderung. Der junge Graf war noch nie so behandelt, so beleidigt worden, und hier geschah ihm das, hier, wo er sich zum ersten Male in seinem Leben mit warmer offener Theilnahme Jemandem genaht, wo er zum ersten Male seinen kalten rücksichtslosen Charakter verleugnet hatte. Was wagte dies Mädchen gegen ihn! Und weshalb wagte sie es?

Er lachte bitter auf. „Ja freilich, jetzt begreife ich, daß Eugen es nicht wagt, ihr unter die Augen zu treten! Er ist der Mann nicht, ein Wesen zu zwingen, das, unmittelbar nachdem es die tiefste Demüthigung erlitten, so aufzutreten vermag. Ihn hätte sie zerschmettert mit diesem Blick!“

Der immer lauter rollende Donner und die jetzt häufiger zuckenden Blitze machten den Betrachtungen des Grafen ein Ende und mahnten ihn zur schleunigen Rückkehr nach dem Schlosse, das er in der That kaum erreicht hatte, als auch bereits die ersten schweren Tropfen fielen.

Eine Stunde später – das Gewitter hatte ausgetobt, aber der Regen strömte noch immer und im Schlosse traf man die letzten Vorbereitungen zu dem großen Ballfest, das heute Abend hier stattfinden sollte – kehrte auch Eugen aus dem Dorfe zurück, bleich, aufgeregt, völlig durchnäßt, und begab sich sofort in Hermann’s Zimmer. Sie hatten eine Unterredung mit einander und es schien bei dieser Gelegenheit etwas wie eine Scene zwischen den beiden Freunden gegeben zu haben, wenigstens wollten die ab und zu eilenden Diener sehr lautes, heftiges Sprechen gehört und bemerkt haben, daß Herr Reinert mit auffallend finsterer Miene aus dem Zimmer des Grafen kam. Auch mieden sich Beide während des ganzen Abends so viel als möglich, zu einer weitern Aeußerung von Uneinigkeit kam es jedoch nicht. Bereits rollten von allen Seiten die Wagen der Gäste herbei, und beim Eintritt der Dunkelheit strahlte die ganze Fensterreihe des Schlosses in blendendem Lichtglanz.

Die Krone und den Mittelpunkt der Gesellschaft bildete natürlich die schöne Gräfin Arnau. Sie erschien heut’ Abend reizender und bezaubernder als je, und Eugen wich nicht einen Augenblick von ihrer Seite. Zum ersten Male wagte er es heut’, in seine offen dargebrachten Huldigungen den Anschein der Berechtigung zu legen, und Antonie nahm dies in einer Weise auf, die kaum noch einen Zweifel an dem zwischen ihnen obwaltenden Verhältnisse bestehen ließ. Aller Blicke folgten dem Paare, überall vernahm man flüsternde Bemerkungen und Fragen, ob es denn möglich sei, ob denn die stolze vielumworbene Gräfin Arnau wirklich im Ernst an eine Verbindung mit dem jungen unbedeutenden Maler denken könne, der, quelle horreur! ihr statt der Grafenkrone nur einen bürgerlichen Namen geben konnte. Welch eine unverzeihliche Extravaganz! Welch ein Scandal für die Familie! Eine alte Baroneß, die mehr Neugierde besaß und mehr sittliche Empörung fühlte, als all’ die Anderen, beschloß, sich um jeden Preis Gewißheit darüber zu verschaffen und sich zu diesem Zweck gleich an die sicherste Quelle, an den Grafen Hermann zu wenden.

Es dauerte lange, bis sie den Gesuchten fand, der den Tanz überhaupt nicht liebte und auch diesmal nicht daran Theil nahm. Er stand allein in einem Nebenzimmer, hatte das Fenster desselben geöffnet und sich weit hinausgelehnt. Unten auf der Landstraße schmetterte ein Posthorn, dessen Klänge sich mit der rauschenden Tanzmusik mischten. „Mein bester Graf, was thun Sie um’s Himmelswillen hier in diesem abgelegenen Cabinet, bei offenem Fenster? Die ganze Gesellschaft vermißt Sie bereits!“

Hermann wandte sich um, mit einem Gesicht, auf dem der Aerger über die Störung ziemlich deutlich geschrieben stand. „Es war mir zu schwül im Saale,“ erwiderte er sehr kühl und abweisend, „ich fand es für nöthig, einige Minuten lang frische Luft zu schöpfen.“

„Sie haben Recht, es ist entsetzlich heiß drinnen, und die Luft nach dem Gewitter ist so erquickend! Aber Sie versäumen zu viel hier, Ihre Cousine walzt zum Entzücken mit Ihrem Freunde, dem jungen Maler – apropos, bester Graf, ist es denn wahr, was man sich erzählt, die Gräfin erwidere die ganz offen zur Schau getragen Leidenschaft dieses Herrn Reinert, und denke wirklich daran, ihn mit ihrer Hand zu beglücken?“

Hermann schlug klirrend das Fenster zu. „Ich bedaure, meine Gnädigste, Ihnen darüber keine Auskunft geben zu können. Ich bin über die Intentionen meiner Cousine so wenig unterrichtet, als Sie selber. Inzwischen dürfte es doch hier zu kühl für Sie werden, Sie gestatten wohl, daß ich Sie in den Saal zurückbegleite.“

Er reichte ihr mit kalter Höflichkeit den Arm und führte sie in den Tanzsaal zurück. Der Walzer war noch nicht zu Ende, als sie eintraten; soeben schwebte Gräfin Antonie im hellsten Kerzenglanz, getragen von der rauschenden Musik, am Arme Eugen’s vorüber – und in der Ferne erstarb der letzte Klang des Posthorns!




Sieben Jahre waren dahingeschwunden, sie hatten Manches verwischt und begraben, Vieles geändert, und, wie oft im Leben, so war auch hier die Wirklichkeit einen ganz, ganz anderen Weg gegangen, als die Hoffnungen und Erwartungen der Menschen.

Von dem Künstlerruhme Eugen Reinert’s hörte man wenig oder nichts. Zwar hatte sein erstes größeres Werk, das Portrait der Gräfin Arnau, auf der Ausstellung ein bedeutendes Aufsehen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 774. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_774.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2021)