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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


sich sonst diese schattigen Parkpartien des Père Lachaise aus, mit ihren Säulen, ihren Platanen, ihren Sykomoren, ihren Pappeln, ihren Cypressen und mit all’ den Blumen, welche fromme Hände gepflanzt haben. Der Anblick des Père Lachaise ist wie der aller Pariser Kirchhöfe heiter und lächelnd im Frühling, im Sommer, im Herbst; im Winter aber ist Alles traurig, ist es selbst dieser schöne Kirchhof Père Lachaise. Weiß und kalt liegt die Schneedecke auf den Gräbern ausgebreitet, die Bäume, die Büsche, die Gesträuche stehen kahl und die entblätterten Alleen heben sich in einem unheimlichen, feuchtglänzenden Schwarz von dem hellen Hintergrunde. Die Tausende von Denkmälern sind von der unerbittlichen Hülle des Winters zugedeckt, der Marmor, der sonst so lieblich aus seiner grünen Umgebung hervorleuchtet, sieht kalt und frostig darein und selbst jene herrliche Aussicht, die man von „La Chapelle“ über das endlose Häusermeer von Paris, über seine Paläste, Säulen, Thürme, Boulevards und Plätze hat, ist verschwunden und durch einen häßlichen, grauen Nebel dem Auge entzogen. Ob auch hier die vielgerühmte Treue, welche die Pariserinnen dem Andenken der Heimgegangenen widmen, Wahrheit geblieben ist, wenn der Kanonendonner sich in das unterdrückte Weinen und in das Gebet der das offene Grab Umstehenden mischte und ein feindliches Geschoß zerschmetternd auf das Haus niederfallen konnte, das man eben erst verlassen?

Der Père Lachaise ist der Platz, auf welchem sich die Geschichte Frankreichs in den letzten achtzig Jahren am besten studiren läßt. Es sind, wie die Pariser stolz behaupten, mehr als tausend Steine hier zu finden, deren Namensinschriften den Ruhm Frankreichs verkünden: Feldherren, Staatsmänner, Politiker, Dichter, Künstler – die nach vielen Tausenden zählenden Gräber, welche in den letzten Monaten aufgeworfen worden sind, sind es aber vor Allem, welche gewiß die erschütterndste Geschichte von dem Unheil schreiben, welches die französische Nation gegenwärtig über sich selbst heraufbeschworen hat, und wenn auch die armseligen kleinen schwarzen Kreuze, welche die meisten dieser Gräber schmücken, schon nach wenigen Jahren wieder ausgerissen und auf die Seite geworfen sein werden – in den Herzen der Pariser wird die Erinnerung daran haften bleiben und man wird von diesen Hingeopferten noch nach Jahren ebenso gut und mit demselben Rechte sprechen, wie von den Soldaten, welche der bethörte Kaiser auf die Schlachtbank geführt hat.

Um den Kirchhof Père Lachaise zu durchwandern, bedarf man nahezu drei Stunden, und sich in seinen vielen gewundenen Gängen und Alleen zurecht zu finden, ist bekanntlich ein Führer nöthig. Wir wissen nicht, ob der oben angeführte Ausspruch der Pariser von den „mehr als tausend Ruhmeszeugen“ wörtlich zu nehmen ist; immerhin ist und bleibt der Père Lachaise einer der merkwürdigsten und bedeutungsvollsten Punkte in Paris, und kein Besucher der französischen Hauptstadt wird diese verlassen, ohne vor dem Grabmale Abälard’s und Heloisens und so vielen anderen noch berühmteren gestanden zu sein, ohne durch die Gassen und Straßen gewandert zu sein, welche von den monumental gestalteten Todtenhäusern zur Rechten und Linken gebildet werden und welche dem Père Lachaise den Namen einer „Todtenstadt“ zugezogen haben. Auch unserer Armee wird es – so hoffen wir – noch vergönnt sein, die Straßen der „heiligen Stadt“ zu betreten, und so wird denn gar mancher schlichte deutsche Soldat auch die Rue Roquette hinaufschlendern und mit Staunen den Eindruck empfangen, welchen der Anblick dieses ungeheuren Kirchhofs hervorruft. Nicht Wenigen derselben wird es gegenwärtig sein, wie die Asche so vieler berühmter Todten hier ruht, und sie werden ihre Schritte deren Gräbern zuwenden, die, wie alles Große, meist durch prunklose Einfachheit ausgezeichnet sind. Wir haben schon wiederholt in früheren Jahrgängen der Gartenlaube Abbildungen aus dem Père Lachaise und eingehende Beschreibungen desselben gebracht und beschränken uns deshalb hier auf die Schilderung der wenigen Grabstätten, welche wir heute unseren Lesern, freilich im Schmucke und in der Poesie des Sommers, der Alles, auch die Kirchhöfe verschönt, vorführen.

Ein breiter Weg in dem Père Lachaise geleitet da, wo die Treppen zu la Chapelle hinaufführen, rechts ab zu einer großen Gruppe von Monumenten, unter denen Koryphäen der Kunst, namentlich der Musik, ruhen, und von denen zwei sich auf unserer Illustration befinden: das Monument Bellini’s und das Talma’s. Das Grabmal des Componisten der „Nachtwandlerin“, der „Montecchi und Capuletti“ und der „Norma“ lenkt schon von Weitem die Aufmerksamkeit auf sich; es ist bis in das Kleinste mit vollendeter Schönheit ausgeführt, und auf dem Monumente, das mit der Portraitbüste Bellini’s geschmückt ist, hält der Genius der Tonkunst Wache. An Herold, Kreutzer und Mehul vorbei kommen wir zu der ernst-einfachen Ruhestätte des berühmten tragischen Schauspielers Talma. Seine geniale Strebsamkeit, sein umfassendes Wissen, seine Bedeutung als Schauspieler wie als Reformator in gewissen Zweigen seiner Kunst sind bekannt; er war ein Liebling Napoleon’s, der ihn gern um sich hatte und den er selbst nach Dresden und Erfurt begleiten mußte. Sein Denkmal trägt in großen Zügen Nichts, als seinen Namen: Talma. – Son nom fait ses éloges – sein Name verkündet seinen Ruhm.

Nicht weit von ihm, zunächst bei Boieldieu und Cherubini, liegt Chopin, der schwermüthige und zugleich bizarre Musiker, der, ein geborener Pole, in seiner Jugend von der russischen Regierung verbannt wurde, um nach mancherlei Wanderzügen hier in Paris eine zweite Heimath zu finden und zu sterben. Sein Grabmal ist einfach und schön, über dem Steine trauert in ähnlicher Ausführung, wie bei Bellini, die Göttin der Musik, Haupt und Arme hängen schlaff herab und schwermüthig-ernst blickt sie vor sich nieder. Es ist, als rührten leise Schwingen sich um ihr Haupt, als umklängen sie leise Töne, denen sie in stillem Schmerze lausche.

Weit entfernt von dem eben genannten stoßen wir auf ein Doppelgrab, das die Namen zweier wahrer Geistesheroen zeigt: Molière und Lafontaine – der Eine Frankreichs berühmtester Lustspieldichter, der Andere sein berühmtester Fabeldichter. Von einem gemeinsamen Gitter umschlossen, ruhen die beiden Steinsarkophage auf erhöhten Piedestalen, zwischen die ein dunkel glänzender Lorbeer seine Zweige streckt, als sinne er nach, welchem von den Beiden er sie reichen solle. Nicht die Asche der beiden Todten ruht hier, nur ihre Sarkophage wurden hier aufgestellt; ihre Gebeine sind zerstreut: die Kinnlade Molière’s befindet sich bekanntlich im Hôtel de Cluny, wo sie in dem schönsten aller Zimmer auf dem prachtvollen Bureau des Marschall von Crégui ruht.

Ein seltsames Geschick hat gerade dem anmuthigsten, graciösesten und liebenswürdigsten aller Liederdichter, Beranger, ein schwerfälliges, plumpes Denkmal beschieden. Ein massiv geformter, nach oben abgerundeter Stein, von Cypressen umrauscht, trägt im Doppelmedaillon sein und seines Bruders Portrait. Es ist nun schon dreizehn Jahre, daß der Dichter des „Königs von Yvetot“ von dem ihn mit Begeisterung verehrenden Volk von Paris zu Grabe getragen und hier gebettet wurde. Heute aber dürfen wir uns daran erinnern, daß Beranger, ohne es zu wollen, nicht wenig zu der Selbstüberhebung des französischen Volkes und zu dessen Glauben an seine Unbesiegbarkeit beigetragen hat. Er brauchte in den Tagen der Restauration, wo seine Beliebtheit und sein Einfluß am größten waren, Etwas, das er der Lächerlichkeit und der Ohnmacht der Regierung mit Erfolg gegenüberstellen konnte: er zeigte dem französischen Volke die Siegeszeichen seines Ruhmes und dichtete die Napoleonslieder. Indem er damit allein das Selbstgefühl des Volkes zu wecken glaubte, zog er zugleich auch dessen Selbstgefälligkeit, Eitelkeit und Selbstüberhebung groß – zum Unglück des Volkes, wie die Tage der Gegenwart, wie die „fosses communes“, die endlos an einander gereihten „Massengräber“, in denen Sarg an Sarg mit entsetzlicher Schnelligkeit sich fügte, auf dem Père Lachaise beweisen. Der Dichter ruht eine gute Strecke abseits von diesen Massengräbern und ahnt nicht, welches Elend zugleich mit jenen Todten der Erde übergeben wird. Und daß er es nicht ahnen darf, ist gut: Beranger würde diese Erniedrigung seines Volkes nicht ertragen, sie würde ihn um die Ruhe seines letzten Schlummers gebracht haben – denn Eines war, was er heiß und über Alles liebte: sein Vaterland, Frankreich.

Das Frankreich von heute aber möge nicht allein „stolz“ sein auf seine „mehr als tausend Ruhmeszeugen“, sondern pilgernd zu diesen geweihten Orten einer ruhmreichen Vergangenheit möge es hier, an den Ruhestätten der Besten und Edelsten, deren Asche hier ruht, die Tüchtigkeit, Redlichkeit und jenen Sinn für die Tugend wiederfinden, welchen es verloren hat und welcher allein überwindet.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_126.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)