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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

mich als den Kleinsten schützte und vorzog; in anderen Fällen hat meine Schwester mich durch Berufung auf meine bessere Natur leicht entwaffnet.

So steht mir noch eine Scene etwa aus meinem fünften Jahr in Erinnerung, als wäre sie gestern geschehen. Ich war heftig gereizt und ging mit einem Lineal auf meine Schwester los, um sie aus allen Kräften zu schlagen. Da rief sie schnell: „Gottfried, Du weißt, daß Du jähzornig bist, jetzt bezwing’ Dich einmal und gieb mir das Lineal heraus!“ Das wirkte augenblicklich: ich trat friedlich zu ihr und gab ihr meine Waffe ab. Allein wenn auch die Schwester sich häufiger mit mir hätte beschäftigen wollen, so war sie dazumal längst in ihren Lehrjahren und hatte höchstens eine Freistunde für mich übrig. So war ich denn sehr oft allein; dann lag ich in einem Sommerhäuschen des Gartens unter dem Schatten

Ludwig Bohnstedt.

des Weinlaubs, träumte von der Welt draußen und baute mir aus nassem Sand das Siebengebirge mit Schlössern und Felsen auf, oder blickte recht wehmüthig und sehnsuchtsvoll über die nahen Berge weg, hinter denen ich mir erst ein ausbündig herrliches, zauberschönes Land erwartete. Oft auch schlich ich mich traurig an die Hecke des Baumhofs und sah durch ihre Reiser den Spielen der anderen Dorfkinder zu, welche mit hellem Jauchzen und Lachen im Grase sich herumtummelten. Der Spieltrieb ist somit bei mir im Kindesalter nicht vollständig herausgekommen und hat mich dafür später noch oft geneckt. Als ich bereits Primaner war und frei herumlaufen durfte, habe ich in demselben Baumgarten mit ganz kleinen Jungen die früher so oft ersehnten Spiele nachgeholt, und noch heute ist Spielen mit Kindern mir eine große Lust. Als ich später lesen konnte, rüstete ich mir einen bequemen Sitz zwischen den Aesten eines Apfelbaumes und hatte da lange Nachmittage hindurch bei einem Buch mein Wesen.

Aus diesem großen Erziehungsfehler meiner Eltern, der meine sonst so begünstigte Kindheit doch für mich zu einem düstern Träumerleben umwandelte, hat sich in meinen Jünglingsjahren eine bittere Melancholie und Menschenscheu entwickelt, und noch jetzt ist mir von da her eine für einen thatkräftigen Mann allzugroße Neigung zur Einsamkeit übrig geblieben, die mich sehr oft im Handeln lähmt. Selbst nächtliche Märsche und längere Fußreisen mache ich am liebsten allein; dann tritt das Geheimniß der Natur näher und gewaltiger an uns heran; wir empfinden schaudernd und selig, wie nahe Leben und Tod sich berühren und alles Kleinliche, was die unreine Welle des täglichen Menschentreibens in der Seele abgelagert hat, rinnt mit dem Riesenstrome der Ewigkeit hinweg, den wir rauschend durch unser Inneres dahinziehen hören.

In dieser Einsamkeit des Pfarrgartens nun, die durch eine gebildete Umgebung und die allerherrlichste und mildeste Naturfülle allerdings anregend und geistbefruchtend wirkte, erwachte in mir zuerst diejenige Seelenkraft, welche den Grundtrieb meines Wesens auf Poesie und Kunst hin stimmen sollte, nämlich die Phantasie. Nicht an Dichtung, Märchen oder Anschauung fertiger Kunstwerke genährt, mußte sie ihr eigenes Bett sich graben und hat zu meiner unleidlichen Qual lange, lange Jahre stürmen und wühlen müssen, bis sie endlich zum stillen Seespiegel sich ausbreitete, der Welt und Himmel in mildem Glanze zurückwirft. Von wem meiner Ahnen diese Kraft und das aus ihr fließende Dichtertalent auf mich übergegangen ist, das weiß ich nicht zu sagen. Eine gewisse volksthümlich-bilderreiche Art sich auszudrücken, in Gleichnissen, Sprüchwörtern und kurzen Reimversen Wahrheiten hinzustellen, habe ich bei meiner Großmutter bemerkt; aber im praktischen Leben war doch diese Frau die hausbackenste Prosa.

Mein Vater hat nie geahnt, was Poesie ist, und ich zweifle, ob er überhaupt je einen deutschen Dichter gelesen hat. Allein nach seinem Tode habe ich dennoch unter seinen Papieren einige von ihm herrührende Dichtungen gefunden. Es waren Betrachtungen moralischer Natur, die ungefähr an Gellert’s Manier erinnerten, und von denen eine die sonderbare Vergleichung des menschlichen Lebens mit einer Pfeife Tabak nicht ohne Witz und Beobachtung durchführte. Von dichterischer Phantasie war in all diesen Sachen auch kein Funke; dagegen hatten sie das Merkwürdige, daß sie in Maß und Reim überaus correct waren, und das ist allerdings um so auffallender, da mein Vater gewiß niemals Metrik getrieben, also nur durch Eingebung eines angeborenen rhythmischen Gefühls jene Reinlichkeit der äußern Form erreicht hat. Und hier könnte wohl ein Einfluß von ihm auf mich übergegangen sein; denn schon meine frühesten, ganz unbewußt niedergeschriebenen Verse sind ohne allen Fehler in der Fußzahl gewesen; in einem noch so langen Gedicht, das Jemand vorliest, höre ich jeden metrischen Fehler sofort heraus, und habe oft zur Verwunderung meiner Freunde ihnen in ihren Sachen einen Fuß zu viel oder zu wenig nachgewiesen. Auch würde ich nie, wenn ich in so schönen Armen wie Goethe geruht, nöthig gehabt haben, des Hexameters Maß auf Faustinens Rücken zu zählen, indem mir niemals siebenfüßige Hexameter oder, wie in der „Braut von Korinth“ unserm Altvater geschehen, Reimverse mit einem Ueberbein entschlüpft sind.

Am meisten hatte gewiß meine Mutter von poetischem Feuer, allein es war bei ihr in einer Art vorhanden, welche ein Naturforscher latente Wärme nennen würde. Der dunkle Schiefer, das blanke Eisen haben in sich die Kraft zu großer Hitze; allein sie schläft, bis der scharfe Sonnenstrahl sie hervorlockt. So schläft in manchem Gemüth der Funke der Kunst, aber keine Bildung hat ihn entzündet. Dieser Sonnenstrahl der Bildung nun ist niemals über die Seelentiefen meiner Mutter hingestreift. In dem engherzigen Wupperthale aufgewachsen, hatte sie später mehrere Jahre bei Verwandten in dem orthodoxen Holland gelebt, und weder hierher noch dorthin war das Geisteslicht einer großen Literatur gedrungen, das unsere hohen deutschen Meister am Schlusse des vorigen Jahrhunderts entzündeten. Ebenso wenig ist ihr jemals in dem Westen Deutschlands eine anregende bildende Kunst entgegengetreten, denn diese fehlte dazumal im Rheinlande ganz. So konnte denn bei ihr die Brutwärme des Gemüthes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_471.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)