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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

sind, als ein Sandkörnchen, welches spurlos in den Meereswogen verschwinden würde.

Inzwischen treiben die niederen Wolken fortdauernd mit großer Schnelligkeit unter uns hin. Fast leuchtend weiß wälzen sie sich lawinenartig vorüber – und wunderbar! – während wir in einer Höhe von sechszehnhundert Meter uns nach Nordost bewegen, verfolgen diese Wolkenhaufen, welche wir bei sechshundert Meter Höhe durchschnitten, insgesammt die entgegengesetzte Richtung. Sie alle ziehen südwestlich, ziehen landeinwärts, in der Richtung auf Calais. Es ist klar, daß, wenn unser Ballon in die untere Luftschicht hinabsinkt, diese Wolken uns getreulich in den Hafen zurücktragen werden.

„Wir können“, sagt Duruof, „unsere Meerpromenade noch eine Weile fortsetzen, und wenn wir landen wollen, so wissen wir, was wir zu thun haben.“

In der That überlassen wir uns noch weiter der in unserer Höhe herrschenden Strömung, da wir sie in jedem Augenblicke aufgeben und die Rückfahrt antreten können. Aber während wir uns so ganz der großen Scene hingeben, ergreift alle Zuschauer die höchste Angst. Auch erkennen wir deutlich, wie die Gruppen an der Küste sich bald hierhin, bald dorthin begeben. Ein paar alte Matrosen (so erzählte man uns nachher) beobachteten uns durch das Fernglas. „Sie sind verloren!“ rufen sie aus. „Die armen Narren! wer hieß sie auch in eine solche Galeere steigen!“

Mittlerweile ist eine volle Stunde seit unserer Abfahrt verflossen, und da wir sieben Lieues über dem Meere zurückgelegt haben, so dürfen wir daran denken, unseren Ausflug zu beendigen. Ohne noch ferner Ballast auszuwerfen, erwarten wir das Sinken des Ballons. Wirklich fällt er schon nach wenigen Secunden. Wir passiren die Wolken zum zweiten Male und schweben dann nur noch vierhundert Meter hoch über dem Wasser. Es ist fünf Uhr. Wir erblicken einige Boote, die uns zu Hülfe kommen wollen, freuen uns aber, dieses Beistandes nicht zu bedürfen. Die Luftströmung treibt uns rasch über den Wogen dahin auf Calais zu, welches immer größer und deutlicher hervortritt.

Ehe noch eine Viertelstunde vergeht, zieht der Neptun unter dem begeisterten Jubel der versammelten Menschenmenge über den Hafendamm hinweg. Ich betrachte aufmerksam die verschiedenen Zuschauergruppen und sehe zur freudigsten Ueberraschung meinen Bruder, der mir mit der Hand winkt. Ist es ein Spiel des Zufalls oder eine geheimnißvolle Sympathie, daß mein Auge unter den Tausenden, die zu uns aufblicken, gerade dem seinigen begegnet? Nun schweben wir über den Exercirplatz hin; aber er ist jetzt verödet, denn alle Welt befindet sich am Strande und nur das alte Standbild dort, der eiserne Herzog von Guise, hält treue Wacht: er, der Einzige, der nicht den Kopf emporrichtet.

Die kleine Mannschaft des „Neptun“ kann ihre Freude nicht bergen. Ich drücke Duruof und Barret die Hand, und wir wünschen uns gegenseitig Glück, diese Meerfahrt ohne Seekrankheit oder sonstiges Unwohlsein vollendet zu haben. Dann werfen wir ein wenig Ballast aus und erheben uns abermals, um eine geeignete Landungsstelle aufzusuchen. Mit meinen Gedanken bereits zur Erde zurückgekehrt, betrachte ich das Fangseil, welches von unserer Gondel herabhängt.

„Passen Sie auf, Duruof!“ sagte ich. „Unser Tau wird sogleich die Erde berühren.“

„Sind Sie von Sinnen? Wir sind mehr als eintausendvierhundert Meter hoch über dem Boden.“

Unser Fangseil war hundertdreißig Meter lang. Meine Augen irrten sich daher um mindestens eintausendzweihundertvierzig Meter! Aber ein verzeihlicher Irrthum bei einem Neulinge, der noch nicht daran gewöhnt ist, die Gegenstände von oben zu sehen. Weiterhin bemerke ich mehrere weiße Punkte. Sie bewegen sich langsam auf einer Wiese hin und her; ich ergreife mein Fernrohr und erkenne eine Heerde grasender Kühe, die heute wahrscheinlich zum ersten Male Gegenstand teleskopischer Betrachtung geworden ist.

Um fünf Uhr fünfunddreißig Minuten haben wir uns indessen der Erde wieder so weit genähert, daß unser Tau auf einer Trift hinstreift und mehrere hier aufgebaute Heuschober in Unordnung bringt. Es kommen Bauern herbeigelaufen. Wir fragen, wo wir uns befinden.

„Auf der Straße nach Boulogne!“ lautet die Antwort.

Zugleich greift man nach unserm Seile; aber wir wollen noch nicht landen. Duruof fordert mich auf, Ballast auszuwerfen, und ich in meinem unerfahrenen Eifer leere beinahe einen ganzen Sack. Im nächsten Augenblicke steigen wir mit reißender Geschwindigkeit wieder bis zu einer Höhe von eintausendachthundert Metern und finden uns gleich darauf in so dichte Wolken eingehüllt, daß wir unsern eigenen Ballon nicht mehr sehen, ja uns einander selbst kaum noch erkennen. Welch ein jäher Wechsel! Meine Gedanken beginnen sich traumartig zu verwirren; alle Sinne sind wie gebunden; in dem unbeweglichen Nebel scheint die Gondel unbeweglich zu stehen, und nur die untrügliche Rechnung kann uns sagen, daß wir zwei Kilometer hoch über den menschlichen Leidenschaften schweben.

Seit den Morgenstunden, die zumeist der anstrengenden Arbeit der Füllung gewidmet waren, hatten wir nichts genossen. Es war daher wohl an der Zeit, von den mitgenommenen Vorräthen Gebrauch zu machen. In einer unserer Schachteln präsentirt sich ein gebratenes Huhn; wir verzehren es mit wahrem Luftschifferappetit, trinken dazu ein Glas Wein und halten auf diese Weise ein behagliches Mahl mitten in einem Dunstbade. Ich werfe die leere Flasche über Bord, um mir sofort eine Rüge Duruof’s zuzuziehen. Es sei eine Unklugheit, den Ballon auf diese Weise eines Theils seines Ballasts zu berauben. Noch glaube ich diese Bemerkung für Scherz nehmen zu müssen, als der Augenschein mich eines Andern belehrt; denn ein Blick auf das Barometer zeigt mir, daß wir unmittelbar um zwanzig bis dreißig Meter steigen – so empfindlich ist der im absoluten Gleichgewicht schwebende Ballon in der Luft.

Unterdessen scheinen die Dünste sich zu zerstreuen. Bleibt uns auch die Erde verhüllt, so sehen wir doch die Sonne, welche eben dicht über dem Horizonte wie eine glühende Kugel steht, während tausend funkelnde Strahlen den Himmel erleuchten und unsern Schatten weithin auf das Wolkenthal werfen, welches sich unermeßlich vor, um und unter uns dehnt. Da wölben sich schneeige Kuppen, da strecken sich lange leuchtende Rücken, und zwischen ihnen gähnen tiefe Abgründe und düstere Schluchten. Wo sind wir? Hat uns der Wind weiter in’s Innere geführt? oder treiben wir zum zweiten Male in die See hinaus? Es ist sieben Uhr. Barret macht uns auf ein verworrenes Murmeln aufmerksam, das unter den Wolken heraufdringt; und in der That schlägt im ununterbrochenen Rhythmus ein dumpf feierlicher und doch melodischer Ton an unser Ohr. Ist es das Brausen des Meeres? Wir öffnen das Ventil. Der Ballon fällt rasch, wir durchbrechen die Wolkenschicht, und – unter uns wogt im Purpur des Abends der Ocean. Wohl konnte ich mit Goethe ausrufen:

Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht,
Den Himmel über mir und unter mir die Wellen!

Aber es war nicht mehr Zeit, Dichters Pfade zu wandeln. Dämmerung senkt sich über das Meer, und jede Secunde steigert die Gefahr der Landung. Es gilt zu handeln, rasch und besonnen zu handeln. Der Seewind jagt uns mit Macht der Küste zu. Schon werden ihre zackigen Felsvorsprünge sichtbar. Aber wie, wenn der „Neptun“ das Ufer nicht erreicht? wenn er es uns nur zeigt, um seinen Flug von Neuem über das Meer zu nehmen? Die Nordsee haben wir im Rücken, aber vor uns den Canal! Immer dichter ward die Dämmerung und immer verhängnißvoller die Niederfahrt. Es waren tiefernste Augenblicke. Stumm blicken wir drei Männer in dem elenden Boote nach dem Lichte des Leuchtthurms, der soeben seinen ersten Strahl über die Wogen wirft, bald aufflammend und bald verlöschend, als wolle er uns symbolisch unser Schicksal deuten. Ja, ich leugne es nicht: der Gedanke an den Tod trat mir nahe. Aber dann rief mir die innere Stimme Muth zu, und dann wieder betrachtete ich mechanisch die versinkende Sonnenscheibe, die ich noch nie so blutig roth gesehen. Sie schien mir heute einem brennenden Ballon zu gleichen, der sich in den Wogen begräbt, und zuweilen wohl kam sie mir vor wie ein großes wohlthätiges Wesen, welches mich mit einem letzten Scheideblicke segnete.

Plötzlich stößt Duruof einen Freudenschrei aus, und diesmal können wir nicht mehr zweifeln, daß der Wind uns wirklich dem Gestade zutreibt. Ich unterlasse, den stürmischen Wechsel der Empfindungen zu schildern, der uns gleicherweise ergreift. Denn „Hand an’s Werk!“ heißt die Losung. Rasch öffnet Duruof das Ventil, Barret löst das Fangseil, und sobald der Ballon

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_619.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)