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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

in das Extrem gefallen. Für den ausschweifend gewordenen Heiligencultus hat die Reformation eine bedenkliche Dosis Nüchternheit und Prosa eingetauscht. Ich weiß, dieser Ausspruch genügt den orthodoxen Lutheranern, mich in Bann und Acht zu thun; aber ich kann mir nicht helfen, ich will doch tausendmal lieber den lateinischen Text einer Messe anhören, den ich nicht verstehe, als die groben, schwunglosen Verse der meisten unserer protestantischen Kirchenlieder, von denen ich mir obendrein gefallen lassen muß, daß sie irgend eine unerträglich gellende Frauenstimme oder eine völlig ungestimmte männliche Kehle neben mir mitsingt.“ Ein Blick auf den erwachenden Frühling schließt diesen Brief vom 2. April. „Möchten Sie bald wieder recht gesund werden! Auf meinem Fensterbrette blühen Veilchen, und drüben auf dem Berge, über Wiesen und Büsche gebreitet, liegt der erste leise Duft des Frühlingskleides; tausend Hoffnungen öffnen da draußen die Augen, und wir kranken Menschenkinder wollen nicht zurückblicken, sondern hoffen, hoffen! Schreiben Sie bald, mein verehrungswürdigster Correspondent.“

Für die körperlich leidende und vollauf beschäftigte Dichterin, deren zu Ende geführte Schöpfungen der Verleger oft mit bangender Sehnsucht erwartete, war das Schreiben solcher ausführlichen Briefe sicher keine geringe Anstrengung, und es offenbart sich uns hier, bei aller charakterstarken Entschiedenheit ihrer Aeußerungen, ein überwältigender Zug echter Milde und Weiblichkeit, das selbstverleugnende Mitgefühl einer zarten und weichen Frauenseele. Die plötzlich in ihr stilles Leben getretene Beziehung stellte ihr nur Aufgaben und bot ihr im Ganzen doch wenig Befriedigendes und Erquickendes. Aber man sieht, das Bild des kranken und hochbejahrten Mannes auf dem fernen Schlosse, der ihr wiederholt von seinem Schmerzenslager geschrieben, daß er nach ihren Briefen lechze, daß der Hauch ihrer Briefe ihm nicht blos Labung, sondern Lebensluft in den Tagen der Krankheit und des Alters sei, dieses Bild einer brechenden Kraft war es, das wie ein Hülferuf sich vor ihre Seele und wie eine ernste Mahnung vor ihr Gewissen gestellt. Sie wollte sich nicht widerstrebend abwenden, wo sie hülfreich sein, mit ihrem Worte trösten und lindern konnte. „Immer werden meine Episteln freilich nicht so umfangreich ausfallen,“ schreibt sie einmal, „denn ich habe mit meiner Feder viel nachzuholen im Interesse meiner geliebten ‚Gartenlaube‘ – aber Sie haben mir gesagt, daß Sie leidend sind und ein wenig Zerstreuung von meiner Antwort erwarten, und da pochte die neu übernommene Pflicht denn doch zu energisch an meine Seele.“ Der eigenthümlich unruhige und ungestüme Greis auf Branitz aber war durch das ihm gebrachte Opfer eines mehr gegenständlich gehaltenen schriftlichen Austausches keineswegs befriedigt. „Denken Sie sich in mir,“ so schreibt er, „einen achtzehnjährigen Jüngling mit einem oft zu gefühlvollen Herzen und einer sehr lebhaften Einbildungskraft, der heute doch verurtheilt ist, unter der Maske eines dreiundachtzigjährigen alten Greises umherzugehen.“ Je mehr die Briefe seiner neuen Correspondentin ihn „entzückten“ und eine „wahre Zaubermacht“ auf ihn ausübten, um so heftiger klagte er über eingetretene Unterbrechungen, um so hartnäckiger drang er auf eine persönliche Bekanntschaft und zwang die Schriftstellerin zu persönlichen Erschließungen und Selbstgeständnissen über ihr Leben und Denken, die unverkennbar nicht aus Neigung zu derartigen Mittheilungen, sondern immer nur als Antwort auf erhobene Vorwürfe und in der Absicht gegeben sind, die Abweisungen zu begründen, unsanfte Verletzung und Betrübniß dem Leidenden fern zu halten. Wir können diesem nun für uns sehr reizend gewordenen, aber für die Schreiberin gewiß oft recht peinlichen Hin und Wieder hier nicht schrittweise folgen, sondern heben nur noch einige der interessantesten Punkte daraus hervor.

Schon in seinem vierten Briefe entwirft Pückler eine anziehende Schilderung seines neuen Branitzer Parks und ladet Marlitt zu einem Besuche desselben ein; einige Tage, vielleicht auch länger, würde sie es schon aushalten und solle „auf den Händen getragen werden“. Marlitt antwortet, indem sie den Vorwurf, daß sie ihn verkenne, mit dem Bemerken zurückweist, er habe sich eine naive, arglos-treuherzige Menschenfreundlichkeit, ein blindes Zutrauen bewahrt, das ihr abhanden gekommen. „Mit sorgloser Güte laden Sie mich z. B ein, nach Branitz zu kommen. Wie, wenn ich nun im persönlichen Umgange das unausstehlichste Geschöpf von der Welt wäre? Wenn ich Ihnen während der Tage meines Dortseins durch Widerspruchsgeist, häßliche Launen und dergleichen weibliche Schwächen Ihr schönes Schloß zu einem Orte des Schreckens machte? Das können Sie doch nicht wissen, der Sie mich nur aus zwei Werken und einigen wenigen Briefen kennen. ‚Das Papier ist geduldig,‘ sagt der Volksmund und Mirza Schaffy singt: ‚Merk’ Dir, daß oft der gröbste Schlingel die allerzärtlichsten Verse macht.‘ … Uebrigens danke ich Ihnen von ganzem Herzen für die freundliche Einladung, aber kommen – kann ich nicht. Ich bin zu leidend, um so weit reisen zu dürfen, auch kann ich weder meine Thüringer Berge, noch meine gesammte Häuslichkeit einschachteln und mitnehmen – mein Herz ist so eigensinnig, ohne diese Umgebung nicht mehr leben zu wollen – und, was würden Ihre stolzen Hirsche und Rehe für Augen machen, wenn ein Menschenkind, mit völlig demokratischer Weltanschauung hinter der Stirne, in Ihrem aristokratischen Park umherwandeln wollte! … Ist es denn überhaupt absolut nöthig, daß wir uns persönlich kennen lernen? Ich sage entschieden: Nein. Sympathie und Antipathie sind zwei hochwichtige Factoren im Menschenverkehr; sie wirken um so mächtiger, als sie, in einem geheimen Versteck der Menschenseele ungeahnt lauernd, urplötzlich hervortreten, und uns ein ‚Für und Wider‘ octroyiren, dessen Gründe wir uns meist nicht einmal enträthseln können. – Heine sagt einmal: ‚die Schriftsteller sind wie die Johanniskäfer – in der Ferne leuchten sie, und, nahe gesehen, sind sie armselige graue Käfer.‘ Ohne ‚das Leuchtende‘ auch nur im Entferntesten beanspruchen zu wollen, frage ich Sie dennoch: warum wollen Sie den grauen Käfer durchaus in der Nähe sehen? Wenn der persönliche Verkehr einen Mißklang zwischen uns wirft, ist mir die Freude unseres Briefwechsels verloren, denn wir sind wohl Beide nicht fähig, uns dann noch schriftlich etwas vorzulügen. Also – lassen wir’s beim Alten, nicht wahr? Ich will Ihre getreue Correspondentin bleiben, und wenn meine Briefe wirklich die Macht haben, Sie ein wenig zu erheitern, will ich so viel und so oft schreiben, als es Ihnen wünschenswerth.“

Nach sechsmonatlicher Correspondenz schreibt der alte Fürst in höchst erregtem Tone, daß das längere Ausbleiben einer bis jetzt nicht erfolgten Antwort ihn noch leidender an Seele und Körper gemacht, so daß er eine Badereise nach Wildungen nicht habe antreten können, wohin er seine Equipagen nebst mehreren Dienern schon vor vier Wochen vorausgeschickt, ohne ihnen folgen zu können. Er bittet flehentlich um eine Nachricht, es würde ihn so herzlich erfreuen, der Freundin bei näherer Bekanntschaft gute Dienste leisten zu können. Ob sie ihm denn verbieten würde, ihr von Wildungen aus seine alte Hülle in Person vorzustellen, falls er die Reise dorthin noch unternehmen könne? „Ach, es ist doch traurig, sich zu Jemand magnetisch hingezogen zu fühlen und ihn doch nicht sehen zu sollen! Es geht damit wie mit dem Glauben. Nur was man selbst gesehen, glaubt man. Bitte, lassen Sie mich sehen und glauben!“ Wer irgend lebhaft die Situation sich vorstellt, wird das Befremdende dieser stürmischen Ergüsse aus der Feder des bereits so hinfällig gewordenen Achtzigers fühlen. Aber gerade dieser letztere Punkt milderte bei der Empfängerin das Peinliche des Eindrucks und es überwog bei ihr das Gefühl des Schreckens; der Gedanke, wehe gethan, Leiden, vielleicht Gefahr verursacht zu haben, veranlaßte sie zu warmen Aeußerungen herzlichster Besorgniß.

Dann aber kommt sie zu dem in Aussicht gestellten Besuche und sagt: „Was Ihre Anfrage bezüglich einer persönlichen Zusammenkunft betrifft, so sage ich Ihnen nochmals kurz und bündig Folgendes: Ich bin schwerhörig, einsilbig im Gespräch, und körperlich so leidend, daß ich an das Zimmer gefesselt bin. Schreckt Sie auch diese Erklärung, die jedweden Reiz im persönlichen Umgange nothwendig ausschließen muß, nicht zurück, so hören Sie weiter. Ich lebe in ganz einfachen bürgerlichen Verhältnissen; das enge, kleine Haus, das ich bewohne (Marlitt hatte damals ihr eigenes schönes Besitzthum auf der Höhe noch nicht bezogen), umschließt zwar eine glückliche Familie, es genügt ferner meinen Ansprüchen vollkommen; aber einen hocharistokratischen Gast in sich aufzunehmen, dazu ist es nicht angethan. … Ich habe mich auch viele Jahre lang auf den Parquets aristokratischer Salons bewegt, habe Hofluft geathmet und fast ausschließlich mit Personen verkehrt, die gar keinen Begriff von jener bürgerlichen Einfachheit hatten und deshalb den Anspruch an mich erhoben, dieselbe auch zu vergessen. Es ist mir trotzdem sehr leicht geworden,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 844. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_844.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)