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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


wollen, möchten Sie ihr nicht vielleicht ein anderes Stück empfehlen? Könnte sie den Liebesreigenwalzer von Matiozzi, den Sie für mich übersetzten, nicht singen?“

„O ja, er paßt für ihre Stimme sehr wohl.“

„Ach, dann erweisen Sie mir den Freundschaftsdienst und bitten Sie die Lucca den Walzer zu singen.“

„Gern! Ich werde Ihnen sogleich ein paar Worte für die Lucca schreiben; schicken Sie ihr dieselben und zugleich zwei Exemplare des Walzers.“

Fürstner nahm meinen Brief – in welchem ich der Lucca den Walzer als für den Zweck und für ihre Stimme wohl geeignet nicht nur empfahl, sondern mich sogar erbot, das Stück, falls es ihr convenire, mit ihr zu studiren – sagte mir Adieu und ging.

Trotzdem mir nun leicht wurde, als hätte sich eine Centnerlast von meiner Brust gewälzt, verhehlte ich mir doch nicht, daß die Künstlerin, die mir so liebenswürdig und vertrauensvoll entgegengekommen war, mein Betragen wenig freundschaftlich finden könnte. Sie bevorzugt mich vor vielen Anderen, sie bittet mich um ein Lied, und ich schicke ihr das Werk eines Fremden! Immer aber behielt mein erstgefaßter Entschluß die Oberhand und ich beruhigte mich bei dem Gedanken: Vielleicht gefällt ihr der Matiozzi’sche Walzer.

Jedoch schon den folgenden Tag, am dreizehnten, erhielt ich nachstehendes Schreiben:

„Nein, nein, mein lieber, lieber Freund, keinen Walzer! Ein einfaches, aber hübsches Lied! Mit diesem italienischen Walzergedudel kann ich nie zu Stande kommen. Vergessen Sie mich nicht, helfen Sie mir aus der Verlegenheit.

Herzlich ergeben die Ihrige
Pauline Lucca.“

Damit stand ich wieder auf dem alten Fleck. Doch nein! Der Brief in seiner natürlichen Schreibweise machte einen tiefen Eindruck auf mich; er rief mir das unwiderstehlich herzliche Wesen der Künstlerin zurück, und zum ersten Male trat mir der Vorsatz nahe, die Arbeit zu wollen, zu versuchen. Ja, wenn es sich nur um das Componiren gehandelt hätte! es war meine gewohnte Beschäftigung, und was den Erfolg anbetrifft, so hatte ich ja wahrlich keinen Grund, an dem Wohlwollen des Publicums, das mir seit länger als einem Vierteljahrhundert stets ein nachsichtiger und freundlicher Richter gewesen, zu zweifeln. Auch das Versemachen schreckte mich nicht zurück; aber der Stoff! woher den Stoff nehmen? Da lag die Schwierigkeit. Ich mochte nachdenken, so viel ich wollte, immer wieder mußte ich mit Faust ausrufen: „Nichts! Nichts!“

Da half mir der Zufall, dieser unschätzbare Bote des Schicksals, der Zufall und in der sonderbarsten Gestalt.

Am sechszehnten fesselte mich eine entsetzliche Migräne, meine langjährige und nur zu treue Freundin, an das Zimmer; ich war gezwungen, den Tag über auf dem Sopha zuzubringen. Nur wer das Uebel kennt – man ist dabei nicht effectiv krank und doch verbietet der heftige Kopfschmerz jede Beschäftigung – der vermag die Langeweile eines solchen Tages zu begreifen. Schon um mich zu zerstreuen, um meine Gedanken von dem Schmerz abzulenken, stellte ich die Photographie der Lucca vor mich auf den Tisch, betrachtete die Züge aufmerksam forschend, und dachte: Was möchtest du denn wohl dem Publicum sagen, und was möchte das Publicum denn am liebsten von dir hören? Jedenfalls irgend ein Selbstgeständniß, eine Vertraulichkeit in der Weise: wißt ihr, woher die Seele meines Gesanges kommt? wißt ihr, was mein Lied bedeutet? mein Lied, das seit meiner Jugend mir das Theuerste auf der Welt, mein Lied, der Ausdruck meiner Freuden und Schmerzen – – –

Halt! ein Pfad aus dem Labyrinth, ein Stern im Dunkel der Nacht! Mein Lied! Das könnte gehen!

Und wie sehr die Nerven in meinem armen Kopfe auch hämmerten und schlugen, es reihte sich Gedanke an Gedanke, Wort an Wort, Satz an Satz, und in meinen Schmerzen – wahrlich in Schmerzen entstand ein Lied: „Mein Lied“. Und merkwürdiger Weise, während ich mir das Gedicht oft wiederholte und hier und da den Ausdruck änderte und präcisirte, kam mir auch zugleich das musikalische Motiv für das Lied.

Am anderen Morgen erwachte ich sehr früh. Kaum hatte ich mich überzeugt, daß meine Migräne verschwunden war, als ich aufstand und mein Gedicht niederschrieb. Es lautete:

Mein Lied.

Seit meiner Jugendzeit
Hab’ ich in Freud’ und Leid
’Nen lieben Freund,
Der mit mir lacht und weint;
Der Freund ist: mein Gesang,
Wie ich bald froh, bald trüb’ und bang,
Den mir, der Alles lenkt,
So gütig hat geschenkt.
War oft von Sorge schwer, voll Zweifel mein Gemüth,
Treu blieb mir doch: mein Lied.

Und ist mein Haar ergraut,
Verhallt der Stimme Laut,
Wend’ ich den Blick
Wohl oft nach heut’ zurück,
Zu dieser Wonnezeit,
So reich an Huld und Seligkeit,
Und denk’: das war so schön,
Und mußte doch vergeh’n!
Dann wie ein süßer Trost durch meine Seele zieht,
Was heut’ ich sang: mein Lied!

Am nächstfolgenden Tage war auch die Composition beendet, so daß ich meiner Auftraggeberin brieflich anzeigen konnte, ich würde am nächsten Sonnabend vier Uhr mit dem verlangten Liede bei ihr erscheinen.

Liebenswürdig wie immer, empfing mich Pauline Lucca, indem sie mir entgegenrief:

„Nun? Habe ich nicht wahr gesprochen, als ich Ihnen sagte: Sie würden das Rechte schon finden?“

„Ob es das Rechte ist, gnädige Frau, das wird sich erst zeigen. Vor allen Dingen hören Sie die Worte und erklären Sie sich darüber, ob die Idee Ihnen zusagt.“

Sie fand das Gedicht „allerliebst“ und mit sichtlicher Neugier wollte sie mir das Manuscript aus der Hand nehmen, um es sofort am Flügel zu singen.

„Halt!“ rief ich, ihre Hand abwehrend, „erst ein Wort zur Verständigung! Ob unser Lied dem Publicum gefallen wird, das wissen wir heut Beide nicht; vor der Hand kommt es mir darauf auch nicht an. Zuerst will ich wissen, ob das Lied Ihnen gefällt, ob Sie es gerne singen; nur unter dieser Bedingung lasse ich es Ihnen. Seien Sie überzeugt, daß ich ohne jede Spur von Empfindlichkeit bin und nur den Zweck im Auge habe! Deshalb erwarte ich ehrlich und rücksichtslos Ihre Meinung. Mögen Sie dieses Lied nicht, so sollen Sie gewiß bald ein anderes haben. Nun singen Sie!“

Und indem ich ihr auf dem Flügel begleitete, sang Pauline Lucca mit voller Stimme das Lied fast ohne Anstoß vom Blatte.

Wie herrlich klang die Stimme auch hier! Wie edel und sonor erfüllte jeder Ton das große Zimmer! Und wie beredt und innig, wie reizend nüancirt – trotzdem sie das Stück zum ersten Male sang – war der Vortrag! Mit Freude gewahrte ich, daß meine Composition die günstigste Stimmlage und die Gesangsweise der Künstlerin wohl getroffen hatte.

„Das ist vortrefflich!“ rief Pauline Lucca, nachdem sie das Lied beendet hatte, „haben Sie bestens Dank! Ich will wünschen, das Lied wird dem Publicum so gefallen, wie es mir aufrichtig gefällt. Aber nun seien Sie so freundlich, es rasch zu instrumentiren, denn nächsten Freitag sollen die ‚Lustigen Weiber‘ sein.“

Selbstverständlich erhielt die Künstlerin einen Tag später meine kleine Partitur, so daß sie vollkommen Zeit hatte, das Ausschreiben der Stimmen besorgen zu lassen.


Am Freitag den 29. October verkündete der Theaterzettel: „Die Lustigen Weiber von Windsor“ und am Ende der Personen stand:

Einlagen:

„Mein Lied“, Lied von Gumbert; „Das Veilchen“, Lied von W. A. Mozart, gesungen von Frau Lucca.

Klug und vorsichtig wie immer, sang Pauline Lucca zwei Lieder; gefiel das meine nicht, so sicherte sie sich doch den Erfolg durch das oft erprobte Mozart’sche.

Obwohl ich wußte, daß mein Lied der siegesgewissen Ausführung der über Alles beliebten Lucca anvertraut war, ging ich doch mit recht bekommenem Herzen in’s Opernhaus. Im Begriff, den Corridor zu durchschreiten, werfe ich zufällig noch einen Blick auf den dort hängenden Zettel – Himmel, was sehe ich! „Mein Lied“ war von dem Zettel verschwunden, nur „Das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_149.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)