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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


ich es zu, daß mir der deutsche Ausdruck sowohl in der mündlichen Rede als im schriftlichen Aufsatz nie besondere Mühe gemacht hat. Auch mein lateinischer Stil reifte in der Prima schnell. Dagegen fand zu poetischem Schaffen sich keine Anregung. Zum Verlieben war ich zu jung, kein politischer oder moralischer Stoff entzündete mich, und Niemand achtete auch auf das, was ich machte. Ein Versuch, die Weinlese, wie ich sie von Oberkassel her kannte, in Hexametern zu schildern, deutet vielleicht schon auf meine späteren idyllischen Skizzen und Erzählungen hin; außerdem erinnere ich mich unter Manchem nur noch eines mit vierzehn Jahren geschriebenen Geburtstagsgedichtes an meine Schwester, das in ganz richtiger Sonettform abgefaßt war. Nach dieser Seite hin habe ich also nicht frühreif mich entwickelt. Die ganze langweilige Zeit der Restauration trieb nicht zum Dichten, denn sie krönte keinen der Lebenden mit dem glänzenden Lorbeer und weckte folglich keine Nacheiferung. Wer aber hätte als Knabe die Hoffnung gehegt, jemals neben Goethe und Schiller vom Volke auch nur genannt zu werden?

Mögen nun meine Leser und meine Leserinnen mir wieder einmal freundlich in mein stilles Pfarrdorf folgen, das jetzt nur noch halb meine Heimath blieb. Dort waren mehrere Veränderungen eingetreten, die den einfachen Linien meines Kindheitbildes eine etwas glänzendere Färbung gaben.

Meine Mutter war vor ihrer Ehe als Gesellschafterin zu reichen Verwandten nach Utrecht berufen worden und hatte bei einer derselben sich sehr in Gunst gesetzt. Es war dies eine alte unverheirathete Dame, die neben der Frömmigkeit auch die Naturwissenschaften betrieb. Seitdem Holland die großen Naturforscher Leeuwenhoeck, Swammerdam u. A. hervorgebracht hatte, war die Liebhaberei in diesen Studien dort einheimisch geblieben. Eine Menge optischer, elektrischer und sonstiger physikalischer Geräthe nebst einer großen Bibliothek mit vielen Kupferwerken diente diesem Dilettantismus der Juffrouw Grietje. Sie starb und vermachte meiner Mutter ein Legat an Geld und den größeren Theil ihrer Sammlungen. Die Erbschaft fiel nicht so glänzend aus, als zu erwarten stand, denn sie betrug nur einige tausend Gulden; allein sie kam zur rechten Zeit, denn die Erziehungskosten für meine Schwester und mich konnten von dem kläglich kleinen Pfarrgehalt nicht mehr bestritten werden, und das in die Ehe eingebrachte Vermögen beider Eltern war bereits eingeschmolzen.

Mir fiel die Bibliothek und die Instrumentensammlung der holländischen Tante zu: ich fand ein Sonnenmikroskop, ein anderes sehr kostspieliges Vergrößerungsglas mit einer Masse zierlich eingefaßter mikroskopischer Gegenstände, die den Beweis lieferten, daß man nicht zum mühsamen Forschen, sondern bloß zum mäßigen Begucken diese Sachen benutzt hatte; sodann ein vorzügliches Fernrohr, einen Guckkastenspiegel nebst Bildern, zwei Prismen und eine Masse optischer Spielereien. Die Bücher waren geschichtlichen, mathematischen und naturgeschichtlichen Inhalts und boten immerhin einen reichen Stoff. Nur sind freilich die Naturwissenschaften seit den fünfzig Jahren, daß diese Dinge sich angesammelt hatten, von allen Wissensgebieten am gewaltigsten ausgedehnt worden, und so hatten die Instrumente wenig Werth mehr, die Bücher aber waren meistentheils veraltet. Gleichwohl bot dieser Besitz mir viele Jahre einen großen Genuß und auch mannigfache Belehrung, bis er zuletzt nach dem Tode der Eltern durch Herumschleppen aus einer Wohnung in die andere mich belästigte, so daß ich denn vor einigen Jahren das Ganze zugleich mit meinen theologischen Büchern für einen Spottpreis veräußert habe. Wäre ich zum Naturforscher angelegt, so würde ein solcher Anstoß, verbunden mit meinem früheren Insectensammeln, mich jedenfalls bleibend in dieses Fach getrieben haben; nun aber war Neigung und Beschäftigung auf diesem Gebiete niemals ausdauernd, während ein unwandelbar wirksamer Zug mich in Allem, was ich unternahm, auf das Feld der Menschengeschichte zurückführte. So vieles aber der Mensch in seinem Kopfe vereinigen mag, in der Forschung schließen Natur und Geist immerdar sich aus, und nur einem dieser Erkenntnißkreise vermögen wir selbstdenkend uns mit Erfolg zu widmen.

Durch jene Erbschaft nahm nun unser Hauswesen eine etwas behaglichere Ausstattung an. Wir galten seitdem in der öffentlichen Meinung für steinreich, und so entstanden Ansprüche an uns, denen man auch in manchem Aeußerlichen sich nicht entziehen konnte. Meine Schwester war mittlerweile zu einem kräftigen und hübschen Mädchen aufgeblüht; namentlich ihr Wuchs war tadellos. Auf ihre Erziehung hatte die Mutter alles Mögliche verwendet. Um die Haushaltung ganz aus dem Grunde zu lernen, mußte sie noch als ein halbes Kind in einem der ersten Gasthöfe von Köln eine Zeit lang am Kochherde stehen, was damals am Rhein bei Mädchen bürgerlicher Familien Sitte war. Ebendort und in Bonn lernte sie feine Näh- und Stickarbeit, und in Seidenstickerei hat sie es so weit gebracht, wie es sich überhaupt in dieser traurigen Nachäffung der Malerei bringen läßt; auf eine Nachbildung von Leonardo da Vinci’s „Abendmahl“ wurden die besten Tagesstunden mehrerer Lebensjahre verschwendet, die zur Fortbildung des Geistes ihr unschätzbar gewesen wären. Diese Sünde gegen den weiblichen Geist ist ja bis heute in den sogenannten gebildeten Familien nicht ausgerottet. Auch im Aquarellmalen hatte sie einen Anfang gemacht; sie sang leidlich und spielte fertig Clavier. Endlich war ihr in einer Pension zu Neuwied der Goldschaum von allerlei oberflächlichem Wissen angeflogen, wie man ihn für solche Mädchenanstalten zu glätten pflegt.

Unsere Töchtererziehung leidet vor Allem an dem Mancherlei. Sie geht von dem falschen Grundsatze aus, der weibliche Geist sei gleichsam ein blasses Abbild des männlichen, statt in ihm den gleichen, oft noch viel glühender leuchtenden Gottesfunken anzuerkennen. So wird dem Mädchen Alles, was auch dem Knaben, eingeprägt, aber flacher und ohne Gründlichkeit; nur der Mann darf zu den Quellen des Wissens hinabsteigen; dem Weibe gönnen wir nur einen Trunk aus dem rinnenden Strome. Hierauf ruht das Unglück der meisten Weiber. Unglücklich ist nur, wem geistige Klarheit mangelt, denn, wie ein großer Dichter des Alterthums sagt:

„Selig, wem es vergönnt den Grund der Dinge zu schauen!
Jegliche Furcht und Angst, und das unerbittliche Schicksal
Tritt er unter den Fuß, und Acherons gierige Strudel.“

Niemand kann ganz unglücklich werden, der Einen Punkt, nur Einen, der menschlichen Erkenntniß so vollständig und deutlich weiß und begreift, daß auf diesem Punkte Niemand ihn zu überbieten vermag. Ist das von einem Menschengeiste erreicht, dann stellt sich auf diesen festen Punkt die Leiter der Erkenntniß auf, deren höchste Sprosse über die Sternenwelt hinausreicht. Ist der Punkt aber nicht da, dann hilft alles Lernen und Bilden und Arbeiten nichts, der Geist bleibt ein Krüppel. Nun aber kann statt all des Geflitters und Geschwirres von Wissenschaften, Künsten, Sprachen und Handarbeiten einem heranwachsenden Mädchen sehr leicht Eines gründlich beigebracht werden, sei es eine Sprache, ein Abschnitt der Welt- und Bildungsgeschichte, ein Stück der Naturwissenschaften oder auch eine Kunstfähigkeit, wie Clavierspiel oder Declamation, verbunden mit Verständniß der Gesetze dieser Künste. Ist in diesem Einen die Gründlichkeit erreicht, dann, aber auch dann erst, bietet und lernt sich mit doppelter Leichtigkeit ein Zweites und Drittes. Auf diesem Wege werden wir Weiber bekommen, die nicht gelehrt und allweise, die aber in ihrem Geiste selbstständig sind und mit denen zu verkehren sich für denkende Männer verlohnt, während jetzt die Weiber meist Puppen sind, mit deren Seelen unser dialektischer Geist Federball spielt. Ich deute blos vorübergehend an, daß dieses auch der einzige Weg ist, aus Mädchen Charaktere zu schaffen; denn wo die Erkenntniß nebelhaft und ohne Schärfe bleibt, da können auch keine festen Grundsätze sich krystallisiren, sondern das ganze Wesen wird zur Molluske und verliert, sobald Duft und Farbe der Jugend verflogen sind, allen Reiz für Männerwelt.

Ich komme zu meiner Schwester zurück. Eine artige Pfarrerstochter, die für vermögend gilt und durch allerlei Bildung über das gewöhnliche Landconfect sich erhebt, pflegt in der Regel das Haus zu beleben. Zunächst geschah das durch eine weibliche Bevölkerung, die eine Art Pension aus dem sonst so einsamen Pfarrhause machte. Einige evangelische Hüttenbesitzer, die in der Gemeinde meines Vaters, aber von Oberkassel ziemlich entfernt wohnten, hatten Töchter im Alter der Einsegnung, was bei Protestanten in’s fünfzehnte oder sechszehnte Jahr fällt, und übergaben diese dem Unterrichte meines Vaters. Sie traten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_180.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)