Seite:Die Gartenlaube (1873) 195.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


die Thäler bewohnt der arabische Stamm der Amenal. Mit diesen standen die Colonisten auf dem besten Fuße, so daß sie gar nicht an feindliche Absichten derselben glauben wollten, obgleich sich seit Ende 1870 die Anzeichen einer bald ausbrechenden Revolution täglich mehrten. Diese unglückliche Vertrauensseligkeit war um so unerklärlicher, als die Eingeborenen gar kein Blatt vor den Mund nahmen, stets vom Ausbruch der Rebellion sprachen und die Europäer bedrohten, einstweilen nur mit Worten. Selbst einzelne wohlmeinende Araber warnten die Colonisten, aber diese schlugen alle Warnungen in den Wind. Eines Tages überhörte ein junges Mädchen, die Tochter eines Rathes, ein Gespräch der Araber, worin einer derselben, auf sie hindeutend, zu seinem Vater, dem Scheich der Amenal, sagte:

„Wenn der Krieg ausbricht und wir die Christen alle todtschlagen, so will ich nicht, daß man auch dieses Mädchen tödtet; die habe ich mir schon lange für meinen Harem ausersehen!“

Das Mädchen, das durchaus keine Lust hatte, in ein arabisches Harem zu kommen, empfand einen leicht begreiflichen Schrecken vor dem Loose, mit dem sie bedacht schien. Als sie aber ihren Eltern sagte, was sie gehört hatte, nahmen diese es als bloßen Scherz und lachten sie aus. Dennoch bestand sie darauf, daß man ihr erlaube, nach Algier zu gehen. Dadurch rettete sie sich, denn bald darauf sollte Palestro der Schauplatz der blutigsten Auftritte werden.

Anfangs April 1871 konnte man täglich den Ausbruch des Aufruhrs erwarten. Die Anzeichen mehrten sich und waren unverkennbar. Dennoch blieben die Autoritäten von Palestro, der Maire Basetti und ein französischer Ingenieurofficier, Anger, voll blinden Vertrauens. Sie glaubten den Versicherungen der Scheichs, daß nichts zu fürchten sei; ja sie ließen ebendiese Scheichs, die doch die Anstifter der Rebellion waren, Recognoscirungen in der Umgegend machen, von welchen diese natürlich stets mit der Auskunft zurückkamen, daß überall die größte Sicherheit herrsche. Endlich, am 20. April, konnte niemand mehr an der Feindseligkeit der Eingeborenen zweifeln. Das ganze Dorf war von Bewaffneten umzingelt. An Flucht war nicht mehr zu denken, Hülfe nicht zu erwarten. Die Colonisten waren auf ihre eigenen Vertheidigungsmittel allein angewiesen. Das Dorf hatte nicht einmal eine Mauer, wie andere Dörfer Algeriens, denn gegen die Kriegsführung der Eingeborenen ist selbst eine Mauer schon ein Schutz. Es waren nur drei größere Steinhäuser da, die Gensdarmeriecaserne, das Pfarrhaus, das Cantonnementsgebäude. In diese flüchtete sich die Einwohnerschaft.

Kaum waren die Colonisten in vorläufiger (freilich sehr problematischer) Sicherheit, als der Einbruch in’s Dorf erfolgte. Zwölfhundert Mann überfielen es, nahmen Besitz von den leergelassenen Häusern, tödteten die Europäer, die nicht Zeit gehabt hatten, sich in die drei Häuser zu flüchten, und bereiteten Alles zum Angriff auf die Verschanzten vor.

Am zweiundzwanzigsten kam der Scheich der Beni Halfun mit seinen Kabylen. Man griff zuerst das Pfarrhaus, welches die schwächste Position war, an. Selbst in diesem Augenblick gab sich der Maire Basetti noch der Illusion hin, die Aufständischen würden nichts Ernstliches unternehmen, und verbot den mit ihm Verschanzten, auf die Häuptlinge zu schießen. Gegen Abend gelang es den Kabylen, die Thür des Pfarrhauses einzustoßen. Jetzt blieb keine Rettung, als durch einen bewaffneten Ausfall. Die Belagerten verließen das Gebäude, in dem sie sich nicht mehr halten konnten, und es gelang ihnen, bis zur Caserne zu dringen, alle bis auf vier Mann, die unterwegs gefallen waren. Gleich darauf wurde das Pfarrhaus ein Raub der Flammen. Die Helle des Feuers diente den Kabylen dazu, die anderen beiden Häuser zu überwachen, damit niemand entkäme.

Am anderen Morgen forderten die Eingeborenen die Belagerten auf, sich zu ergeben. Nach langen Verhandlungen kommt eine Capitulation zu Stande, wonach die in der Caserne Verschanzten frei abziehen und sogar ihre Waffen behalten dürfen. Der Scheich der Beni Halfun, Said ben Ali, giebt sein Wort, daß die Capitulation gehalten werden soll. Aber kaum haben die Belagerten die Caserne verlassen, so versucht man, ihnen dennoch ihre Waffen zu nehmen. Ein Colonist hält das Bajonnet vor. Man umringt ihn, will ihn entwaffnen. Er leistet Widerstand. Da trifft ihn eine Salve und streckt ihn todt nieder. Dies ist das Signal zu einem allgemeinen Gemetzel. Es ist unmöglich, alle Schauderthaten zu schildern, welche nun folgten. Einige wenige Scenen mögen von ihnen einen Begriff geben!

Vier Kabylen bemächtigten sich des Pfarrers. Umsonst fleht er um sein Leben. Sie reißen ihn nieder und schlitzen ihm den Bauch auf. Drei andere fassen einen Officier; man enthauptet ihn. Ein gewisser Sliman packt einen Colonisten, dem er Geld schuldig ist. Er wirft ihn zu Boden und schneidet ihm Brust und Leib auf; dessen Sohn, ein Kind, der für seinen Vater um Gnade fleht, wird mit einem Bajonnetstich ermordet. Andere fallen nach gräßlicheren Martern. Man schneidet ihnen Ohren und Nase ab, reißt die Zungen, sticht die Augen aus und läßt sie sterbend liegen. Der Raub ist überall mit dem Mord gepaart. Den Frauen zerreißt man die Ohren und schneidet ihnen die Finger ab, um schneller die Ohrgehänge und Ringe zu bekommen. Dann tödtet man auch sie. Im Ganzen werden von den in die Caserne Geflüchteten einundvierzig getödtet, das heißt Alle, bis auf zwei. Die Geretteten sind der Genieofficier, den man als Geisel behalten will, und ein Knabe, der Sohn des Maire; dieser hatte sich nicht von seinem Vater trennen wollen. Die Kabylen reißen ihn mit Gewalt von ihm los; eben wollen sie ihn erschlagen; da gelingt es ihm, einen Schlupfwinkel zu finden. Aber auch hier wird er bald entdeckt. Nun verfällt er auf ein seltsames Mittel, sein Leben zu erkaufen. Er reißt seine goldene Uhrkette in Stücke und giebt Jedem, der an sein Asyl kommt und ihn herausziehen will, einen Theil, so sein Leben stückweise erkaufend. Endlich aber wird er doch herausgerissen. Ein Araber nöthigt ihn, sich auf die Leiche des Pfarrers zu setzen, und zieht ihm die Schuhe aus, um zu sehen, ob er dort nichts versteckt habe. In diesem Augenblick reitet der Scheich vorbei. Der Knabe läuft mit ausgestreckten Armen auf ihn zu und bittet um Rettung. Der Scheich nimmt ihn auf sein Pferd und entreißt ihn so seinen Verfolgern. Dies ist das einzige Beispiel einer menschlicheren Regung inmitten dieses grausigen Gemäldes. Noch war der Vater des Knaben am Leben. Dieser erblickt ihn von Weitem und bittet den Scheich, auch ihn zu retten. Der aber erwidert nur: „Ich komme später wieder.“ Natürlich war dann der Maire erschlagen. Indeß behauptet man vielfach, der Scheich habe nicht die Macht gehabt, die Morde zu verhindern.

Jetzt blieb nur noch das Cantonnementsgebäude übrig. Auf dieses stürzen sich nun die Kabylen. Durch ein unbegreifliches Versehen war dessen Thür offen geblieben. Der Feind dringt ein. Die Belagerten flüchten auf eine kleine Terrasse im ersten Stock, wohin ihnen die Angreifer nicht folgen können, da sie die Treppe zerstört haben. Bald steht das ganze Haus in Brand. Da aber die Terrasse eine eiserne Stütze hat, so bleibt sie stehen. Aber in welch’ elender Lage befinden sich die dorthin Geflüchteten! Die Terrasse hat nur zwölf Quadratmeter Flächeninhalt und auf diesem stehen fünfundvierzig Menschen, die sich noch dazu meist in liegender Stellung halten müssen, denn die Brüstung ist nur vierzig Centimeter hoch. Wer sich aufrichtet, wird augenblicklich von den untenstehenden Feinden erschossen. Die Liegenden trifft ein Hagel von Backsteinen. Dabei brennt die glühende afrikanische Sonne auf die Scheitel der Unglücklichen und das Feuer unter ihnen macht schon die eiserne Stütze der Terrasse erglühen. Kein Tropfen Wasser, um den versengenden Durst zu löschen! In dieser unsäglichen Qual enden einige der Belagerten ihr Leben durch Selbstmord. Die Frauen bitten ihre Männer, sie zu tödten; dennoch will noch keiner sich ergeben. Das Loos der Belagerten der Caserne steht noch Allen vor Augen. Sie wollen lieber im Rauch, der immer dichter wird, ersticken, als den Eingeborenen in die Hände fallen. Endlich beginnt doch das Gewölbe zu krachen. Der oberste Scheich macht den Belagerten Versprechungen, daß er ihr Leben retten wolle. Sie lassen sich bereden zu capituliren, und siehe da – so unberechenbar sind die Schicksale bei solchen Aufständen – diesmal wird die Capitulation wirklich gehalten, und so entgehen diese Belagerten dem Tode Nach wenigen Tagen schon befreit sie eine französische Colonne aus der Gefangenschaft.

Das französische Gericht ist bei Aburtheilung dieser Metzeleien von dem Grundsatz ausgegangen, daß die Scheichs vor Allem schuldig seien, da sie die Morde verhindern konnten und nicht verhinderten. Demgemäß wurden acht Eingeborne, worunter die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_195.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)