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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


sechs große Schreibseiten lang durcheinander, daß wir uns schließlich gar nicht wundern, wenn Herr Klinkott seine Gegner mit dem Trumpfe niederzuschlagen denkt: „Freundlich und hell waren alle Räume (des Seminars), und diese Umwandelung verdankt das Seminar einem Dunkelmanne? Nein, das war der Director nicht! Das ist überhaupt kein Christ!“ – O heilige Einfalt, daß du doch Recht hättest!

Das königliche Provincialschulcollegium in Breslau hatte in dem Nitschke’schen Aufsatze „vielfache Unrichtigkeiten und Entstellungen“ gefunden, gegen welche dasselbe in dem genannten Hefte des Schlesischen Schulblattes „eine sachgemäße Berichtigung“ einsandte. Der Verfasser erklärt von vornherein, daß er die Regulativ-Seminare nicht für unfehlbar, sondern für reformbedürftig erachte. Er sagt: „Ich zähle mich zu Denen, welche der Ansicht sind: der Buchstabe (des Regulativs) tödtet, aber der Geist macht lebendig.“

In das Einzelne eingehend, sagt er: „Daß jede in jenes Seminar abgelieferte Seele mit zehn Thalern bezahlt wurde, stimmt meines Wissens mit dem wahren Sachverhalt nicht überein; daß Jeder, der nicht in zwei Minuten mit dem Ankleiden fertig, in’s schwarze Buch notirt wurde, ist eine Unwahrheit.“ – Hinsichtlich des von Nitschke besprochenen vielen Singens bei der Frühandacht ist Herr R. nicht ganz klar. Erst behauptet er, er habe in seiner Stube sehr selten früh gesungen; dann giebt er als Wortlaut der Seminar-Bestimmung daneben an: „Der Senior hat in seiner Stube früh mit den Andern den Tag mit Gesang oder Gebet anzufangen“ und fügt die Frage hinzu: „Ist das nicht Pflicht eines jeden Christen?“ – und schließlich berichtigt er, daß nicht „einige Regulativ-Lieder“, sondern stets vor und nach der Morgenandacht nur ein Vers gesungen worden sei. – Hinsichtlich der Unterrichtsbücher und des Unterrichts selbst wird Herrn Nitschke allerdings nachgewiesen, daß seine Behauptung, „daß mit zwanzigjährigen Seminaristen nicht das geleistet werde, was eine gute städtische Schule mit zwölfjährigen Kindern erzielte“, an Uebertreibung leidet. – Zugestanden wird die starke Beschränkung der persönlichen Freiheit, daß zum Beispiel wegen Cigarrenrauchens und Besuchens von Conditoreien Freitische entzogen, und daß alle Besuche in der Stadt verboten wurden, weil die Seminaristen den durch die Seminarmauer ihnen verschlossenen Anblick der „Schönen“ sich im elterlichen Hause zu verschaffen suchten. Nach den Bemerkungen: „Daß das Bibellesen, Sonntags von fünf bis sechs Uhr, ein Fehlgriff war, gebe ich nach eigener Erfahrung zu. Die Schilderung der Persönlichkeit des Directors zu widerlegen, daraus lasse ich mich aus Schicklichkeitsrücksichten nicht ein“ – schließt Herr R. mit den Worten: „Daß die Redaction der Gartenlaube diesen Artikel ohne Weiteres aufgenommen hat, entzieht ihr ohne Zweifel sehr viele Leser aus dem Lehrerstande, welche sie bisher wegen ihrer Billigkeit und Vielseitigkeit schätzten.“

Wir können nicht verschweigen, daß wir dieser „Berichtigung“, eben weil sie von einer königlichen Behörde empfohlen ist, eine ruhigere Haltung gewünscht hätten.

Mit Dank und Anerkennung müssen wir dagegen die Zuschrift der Mitglieder des Schlesischen Provincial-Lehrervereins in Breslau begrüßen. Ebenso würdig als einfach und klar stellen sie das Thatsächliche zur Berichtigung des Irrthümlichen und Uebertriebenen im Nitschke’schen Artikel dar, ohne pharisäische Bedauerniß, sondern offen und ehrlich. Nicht in dem für die Öffentlichkeit bestimmten Schriftstück, sondern in dem von sämmtlichen Lehrern unterschriebenen Begleitbriefe sagen sie, daß die Redaction jene Nitschke’schen Mittheilungen jedenfalls in viel wohlmeinenderer Absicht gedruckt, als der Verfasser sie geschrieben habe, und geben uns über den Verfasser des Artikels Andeutungen, welche allerdings den von uns nach unserer Redactionspflicht über denselben eingezogenen Nachrichten widersprechen und uns bedauern lassen, daß wir in jenem Artikel nicht noch weit mehr gestrichen haben, als ohnedies geschehen ist.

Auch diese Entgegnung richtet sich am schärfsten gegen den von Nitschke ausgestellten Bildungsgrad der Seminaristen und die Unterrichtsziele des Seminars. Es wird dargethan, daß die Bestimmungen des Regulativs vom ersten October 1854 durch spätere Ministerialrescripte mehrfach geändert und gebessert seien. „Es ist überhaupt falsch,“ sagt der Schluß der Entgegnung, „von den Regulativbestimmungen auf einen Schluß auf den gegenwärtigen Stand der Lehrerbildung zu ziehen. Die Regulative haben durch spätere Erlasse mannigfache Erläuterungen resp. Erweiterungen erfahren, auch sind in keinem der Seminare unserer Provinz Verhältnisse gewesen, wie sie das Regulativ vom 1. October voraussetzt, so daß nicht hätte über die dort bezeichneten Ziele hinausgegangen werden können. Wir machen auf die in Fachblättern oft veröffentlichten Aufgaben bei Seminarprüfungen aufmerksam und verweisen Die, welche sich für den Gegenstand interessiren, auf den erst kürzlich in der ‚Allgemeinen deutschen Lehrerzeitung‘ erschienenen Reisebericht und das darin über preußische Seminare abgegebene Urtheil des Seminardirectors Kehr aus Gotha – eines allseitig als tüchtig anerkannten Fachmannes. – Um jedem Mißverständniß vorzubeugen, sprechen wir es schließlich nochmals ausdrücklich aus: Wir erkennen an, daß die gegenwärtige Lehrerbildung eine nicht der Zeit entsprechende ist; wir tadeln die dieselbe beeinflussende kirchlich-pietistische Richtung und wünschen von ganzem Herzen höhere Bildungsziele; aber wir protestiren ebenso entschieden gegen jede unwahre Behauptung und gegen Entstellung von Thatsachen, da dadurch die regulativmäßig gebildeten Lehrer hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Bildung und ihres Charakters, namentlich bei einem Vergleich mit den älteren Collegen, in der öffentlichen Meinung herabgesetzt werden.“

Diese Zuschrift ist lange vor den jüngsten Schritten des preußischen Cultusministeriums erlassen. Seitdem sind die Regulative aufgehoben und andere Zeiten in Preußen und hoffentlich für ganz Deutschland aufgegangen. Wir hätten jenen Artikel sammt den Entgegnungen für von den Ereignissen beseitigt erklären können. Da wir aber den Mitgliedern des Schlesischen Lehrervereins die Genugthuung schuldig sind, ihren Lehrerruf nicht in der öffentlichen Meinung schädigen zu lassen, so mögen auch sie diesen Artikel hinnehmen als ein Zeichen unserer Anerkennung und als eine Beruhigung nach der Gefahr.



Blätter und Blüthen.

Eine Sylvesterabendidee. Es war Sylvesterabend. Wir saßen, unser Sechs, gemüthlich am Kneiptische – zum letzten Male; denn es galt den Abschied von den schönsten Lebensjahren, den Universitätsjahren. Zum letzten Male funkelte der goldene Wein im hellen Römer; tapfer wurde gezecht, und Scherz und Wein kreisten fröhlich am runden Tische des doppelten Kleeblattes, wie man den Kreis der Sechs oft scherzhaft genannt hatte.

Der lange Wilhelm – er war so lang und hager, daß er eigentlich auch noch als Stiel des doppelten Dreiblattes dienen konnte – gedachte wehmüthig der bevorstehenden Trennung, und – muß der Deutsche zu seinem Jubel die Zähre der Wehmuth als Beigabe haben, so wird sie ihm auch wieder das Motiv zu neuer Lust – darum ließ er uns anklingen auf das schöne Jetzt und hieß uns das ungebundene Leben genießen, so lange noch ein Tröpflein davon in unserem Dasein schimmerte. Lustig klangen die Gläser wieder und wieder zusammen.

Fleißiges Correspondiren sollte von nun ab, da uns unser Beruf in alle Welt zerstreute, das gegenseitige Andenken stets frisch erhalten und uns im lebhaftem Geistesverkehr fesseln. „Gewiß,“ tönte es voll allen Seiten, „gewiß, Jeder muß ein paar Mal im Jahre an Alle schreiben.“ Ja, wie oft ist dieses Versprechen nicht schon gegeben und wie selten gehalten worden! Frage sich Jeber selbst, wie im Laufe der Jahre solche Briefe immer seltener geworden, bis sie schließlich zu einer womöglich gedruckten Anzeige zusammenschrumpfen, wenn ganz besondere Familienereignisse das Andenken an den „besten“ Freund wachriefen.

Jahre sind seitdem verflossen; das doppelte Kleeblatt ist in alle Richtungen der Windrose auseinandergesprengt; wir haben uns seit Jahren nicht mehr zusammengefunden, aber – Jeder von uns erhält pünktlich alle sechs bis sieben Wochen einen Brief von seinen fünf Freunden. Es klingt fast wunderbar, und doch ist die Sache sehr einfach und ermöglicht sich durch eine Idee, die an jenem Silvesterabend die Weinkanne geschaffen, und die sich in der Praxis trefflich bewährt hat.

Es macht nämlich zwischen uns in festgesetzter Reihenfolge ein Correspondenzbuch die Runde. Ein zweifingerdicker, fester Band von Schreibpapier in Quartformat wandert als Postpaket von Einem zum Andern. Jeder behält das Buch acht Tage, liest die Briefe seiner Freunde und schreibt selbst einen neuen dazu, um das Buch dann weiter zu senden. Es ist mir nicht möglich, das Vergnügen zu schildern, mit dem ich jedes Mal die 6 Sgr. Porto bezahle, wenn mir der Briefträger das kleine, bekannte Paketchen in’s Haus bringt, mit welcher Genugthuung ich die fünf Briefe durchlese oder in den alten hie und da herumblättere und meinen Brief

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_201.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)