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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


erwiderte. Dem Vicefeldwebel war das nicht entgangen und er benutzte jede Gelegenheit, um mit teuflischem Behagen den Einjährigen auf das Gefährliche der neuen Situation aufmerksam zu machen.

Die Compagnie wurde zunächst in zweiter Linie postirt und ihr ein reizendes Dörfchen als Aufenthalt angewiesen. An dem Eingang der Straße lag ein todtes Pferd.

„Sehen sie nur, Fritz,“ sagte der Feldwebel boshaft darauf hindeutend, „Granatverwundung!“

Fritz wandte sich mit Abscheu von dem widerlichen Anblick ab. „Daß sie aber bis hierher schießen können!“ sagte er.

„Wir können hier von drei Seiten Feuer bekommen,“ erwiderte der Feldwebel schmunzelnd. In der That hörte man in diesem Augenblick einen sehr fernen dumpfen Knall, und nach kurzer Zeit sauste eine Granate pfeifend und zischend über das Dorf hinweg, um gleich darauf mit heftiger Detonation zu platzen.

„Na,“ sagte der Vicefeldwebel, „da schreiben Sie nur morgen einen Bericht, daß wir mit unerschütterlicher Standhaftigkeit im heftigsten Granatfeuer unsere Ruhe und Kaltblütigkeit bewahrt hätten.“

Der Freiwillige warf ihm einen scheuen Blick zu. Die Compagnie wurde einquartiert. Bald darauf kam ein Marketender in das Dorf gefahren und hielt, unbekannt mit der Gefahr, mitten in der Hauptstraße. Mit zauberhafter Schnelligkeit verbreitete sich die Kunde: „Es giebt Bier vom Faß!“ Einer rief es dem Andern zu, und in kaum zehn Minuten war Alles, was Geld und Durst hatte – und an Beidem fehlte es selten – um das Faß versammelt, aus welchem der speculative Händler den schäumenden Trank in sehr kleine Gläser zapfte und ihn für sehr große Münze verkaufte.

Der Vicefeldwebel war im schnellsten Tempo durch die Straße geeilt, um auch noch seinen Theil zu erhalten, als wieder eine Granate durch die Straße fegte, in welcher die Ressource sich etablirt hatte. Er blieb stehen, schien sich einen Augenblick zu besinnen und lief dann rasch wieder zurück. Ich konnte mir sein Benehmen zuerst nicht erklären, bis ich ihn Arm in Arm mit dem Freiwilligen zurückkehren sah, der die Miene eines Märtyrers hatte. Er hatte ihn abgeholt.

„Göttlich,“ hörte ich ihn sagen, „ganz göttlich, hier das herrliche Bier vom Faß und drüben spielt Bazaine das große Solo auf der Zwanzig-Centimeter-Kanone, hören Sie nur diesen langgezogenen Ton – Dschingggnnnnnnnn – – – herrlich, göttlich, virtuos!“ Eine Granate fuhr während dessen mit nervenzerreißendem Getöse durch die Straße und bohrte sich an deren Ende tief in den Boden ein. Der Freiwillige sah aus, als wenn er sich für sein Leben gern auch in den Boden eingebohrt hätte.

Der Marketender wollte fort aus der Straße, aber davon war keine Rede; er könne weg, wurde ihm gesagt, aber das Faß müsse bleiben. Er war blaß, zitterte und bebte, aber – er blieb. Die Geldgier überwog bei ihm die Angst um das Leben. Mit wahrhaft satanischer Bosheit betrachtete der Vicefeldwebel den Freiwilligen, der den Marketender mit seinem Bier zu allen Teufeln wünschte. Zwei Tage hatte die Compagnie so in dem Dörfchen gelegen, als sie den Befehl erhielt, eine vorgeschobene Stellung zu besetzen.

„Wir müssen fast unmittelbar unter die Kanonen des St. Quentin,“ sagte der Vicefeldwebel zu Fritz, „es ist ein Skandal, daß wir immer nur als Kanonenfutter verwendet werden.“

„Ja,“ sagte Fritz entrüstet, dem das aus der Seele gesprochen war, „weiß Gott, es ist ein Skandal.“

Der Vicefeldwebel sah ihn an, lachte laut auf, drehte sich vergnügt auf dem Absatz herum und ging fort. Der Freiwillige sah ihm betroffen nach. Als die Compagnie früh antrat, um nach ihrem Bestimmungsort abzurücken, lag die Nacht noch auf der Erde. Die größte Stille wurde anbefohlen, und querfeldein durch tief aufgeweichten Acker zog die dunkle Linie in gerader Richtung auf die Festung zu. Als es anfing, etwas licht zu werden, stieg dunkel und drohend vorn ein mächtiger Fels auf. Es war das Fort St. Quentin, welches stolz und unnahbar auf dieser Seite auf jäh aufsteigendem Gestein erbaut ist. Es wurde leise „Halt“ commandirt und die Disposition zur Besetzung der neuen Stellung ausgegeben. Der Vicefeldwebel rückte mit seinem Zuge, bei welchem sich Fritz befand, durch ein kleines Wäldchen vor. Als er aus demselben heraustrat, erhoben sich, wie aus dem Boden gewachsen, dunkle Gestalten. Es war der Trupp, der abgelöst werden sollte. Stillschweigend traten die Leute aus dem Graben, in welchem sie gelegen hatten, in das Wäldchen, trotz aller Vorsicht aber schien man drüben doch den Wechsel zu bemerken. Zahlreiche Schüsse blitzten auf, und mit dem knatternden Knall von drüben vermischte sich das Pfeifen der Kugeln. Rasch warf der Zug sich in den Graben.

Du lieber Gott! tief genug war der Graben, um Deckung zu gewähren, aber einen Fuß Morast und einen halben Fuß Wasser mußte man mit in den Kauf nehmen. Schaudernd empfand man das Durchdringen des Wassers, und seufzend ergab sich ein Jeder in sein Schicksal, vierundzwanzig Stunden in dem unfreiwilligen Bade zu verbleiben. Deutlich hörte man die Uhr der Kathedrale von Metz die vierte Stunde schlagen. Deutlicher stiegen die Felsenmauern des St. Quentin vor uns auf; das Fort erschien uns so nah, als ob es uns erdrücken könne.

Schon stieg die Sonne blutroth über den Horizont und zertheilte den dichten, auf der Erde liegenden Nebel. Ueber dem Eisenbahndamm, der, kaum siebenhundert Schritt entfernt, parallel mit unserem Graben die feindliche Vorpostenlinie deckte, sah man in den ersten Strahlen der Morgensonne das Blitzen der französischen Bajonnete. Zwischen dem Damm und dem Graben stand ein zierlich aus rothen Backsteinen aufgeführtes Haus.

Auf den neben dem St. Quentin aufsteigenden Höhen wurde weithin tönend Reveille geblasen, und Bivouacfeuer flammten hier und da auf. Der Zug befand sich in sehr exponirter Position. Der Freiwillige hatte sich fröstelnd mit heroischer Verachtung alles zukünftigen Rheuma’s auf den Boden des Grabens gesetzt und lehnte müde und abgespannt gegen die Grabenwand. Selbst diese unbehagliche Situation konnte den Schlaf nicht verscheuchen. Der Einjährige schlief ein, und auf der ganzen Linie hörte man tiefe schnarchende Töne. Seit der Trupp Deckung in dem Graben gefunden hatte, fiel von drüben kein Schuß mehr. Die Sonne stieg höher am wolkenlosen Himmel; der Tag versprach heiß zu werden.

Es mochte wohl drei Uhr Nachmittags sein, als der Vicefeldwebel vorsichtig durch das Wäldchen glitt, um dem Freiwilligen ein Kochgeschirr mit Erbssuppe zu bringen. Er hielt öfters inne auf seinem gefährlichen Wege, um einen Blick auf die Gruppen der Schlafenden zu werfen. Alle lagen bis über das Knie in dem dicklehmigen Wasser, das Gewehr vorgeschoben über den äußeren Grabenrand, den Körper an die Wand des Grabens gelehnt, den Kopf schwer herniedergesunken auf den Kolben des Gewehrs, welchen selbst im Schlaf die Rechte pflichttreu umfaßte. Manche Mutter, manche Braut hätte sich vielleicht feuchten Auges von diesem Bilde der Ruhe abgewendet, und doch war diese Ruhe sanft, fest und unschätzbar für die Schläfer. Auch der Freiwillige schlummerte noch.

Der Vicefeldwebel, der trotz seiner boshaften Rachsucht für Fritz dessen großer Jugend wegen ein Gefühl empfand, welches den Namen Mitleid wohl eher, als den der Zuneigung verdiente, zögerte erst, ihn zu wecken. Dann stieß er ihn sanft an. Der Freiwillige wendete sich seufzend auf die andere Seite. Der Vicefeldwebel, welcher auf den Knieen herangekrochen war, streckte sich platt auf den Boden aus, legte seinen Mund dicht an das Ohr des Einjährigen und sagte im tiefsten Grundton des Basses: „Granate!“

Fritz fuhr wild auf, knack – knack – knack, ging es drüben los und mehrere Kugeln schlugen prasselnd in das junge Holz. Fritz tauchte wieder unter und sah sehr verstimmt aus. Sein Gesicht klärte sich aber wieder auf, als ihm der Feldwebel den dampfenden Kessel Suppe in den Graben reichte, und er machte sich mit dem glänzenden Appetit der Jugend an die Vertilgung des labenden Gerichtes. Die Sonne sandte ihre senkrechten Strahlen glühend heiß vom Himmel, so daß es jetzt fast eine Erquickung war, in dem Wasser des Grabens zu sitzen.

„Jetzt ein Glas Bier vom Eise,“ seufzte Fritz, indem er den leeren Kessel dankend zurückschob. Auch der Vicefeldwebel konnte sich nicht enthalten zu seufzen. Er rutschte näher: „Für heute Abend habe ich einen Plan,“ flüsterte er.

Der Freiwillige sah ihn mit lebhafter Spannung an; denn nach seinen bisherigen Erfahrungen hatte er gegründete Ursache, die Pläne des Vicefeldwebels mit Mißtrauen entgegenzunehmen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_212.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)