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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

und verstanden werden, – – und dies Alles in immer fieberhafterer Hast, je stärker die Verkehre, je größer die Stationen werden – und wieder dies Alles oft bei Nacht, Nebel, Glatteis, Schnee, Sturm, wo jedes Signal undeutlich, das Rollen der Züge, das Bewegen der Wagen unvernehmbar, das Ueberschreiten der Gleise gefährlich, das Oeffnen und Schließen der Weichen gehindert wird.

Nicht das ist das Wunder dabei, daß in diesem unlenkbaren Dienstwirrsal, welches, unter Verhältnissen, zum wahren Chaos wird, viel Unfälle geschehen, sondern daß deren nicht noch viel mehr vorkommen. Daß dem aber so ist, das ist gewiß der Intelligenz, dem Muth und der Diensttreue des unteren Personales weit mehr zu danken, als der Weisheit jener Pontifexe der Eisenbahnconstruction, die, wenn die Verkehre auf dieser oder jener Station stocken, jenen unfähigen Mechanikern gleich, die beim Bruche eines Maschinenteiles kein anderes Mittel kennen, die Wiederholung des Unfalles zu verhindern, als den Theil dicker zu machen, auch hier keinen andern Rath haben, als die Station größer zu machen, statt gerade in deren zu weiter Ausdehnung den Quell des Uebels zu suchen.

In der That haben die deutschen und österreichischen Stationen Raumverhältnisse angenommen, von denen sich das Publicum und auch mancher Eisenbahntechniker keine klare Vorstellung macht. In Berlin bedecken die Stationen so viel Raum (1,960,000 Quadratmeter) wie die ganze innere Stadt; in Wien ist ihre Fläche (3,360,000 Quadratmeter) doppelt so groß wie die Stadt innerhalb der ehemaligen Glacis; in Leipzig, Frankfurt, Cöln, Prag beträgt die Fläche der Bahnhöfe fast halb so viel als die Gesammtfläche der betreffenden Städte, und diese ungeheuren Flächen liegen fast überall innerhalb des Bebauungsraumes dieser Orte, die Areale verteuernd und einengend; eine bei Weitem noch nicht in ganzer Bedeutung gewürdigte, aber ganz hauptsächliche Ursache der Wohnungsnoth in großen Städten.

Vergleicht man mit diesen colossalen Flächen, die sich bei den größten Stationen, wie z. B. der der Nordbahn und Staatsbahn in Wien, auf über eine Million Quadratmeter für jede beziffern, die der leistungsfähigsten englischen und französischen Bahnhöfe, aus denen bedeutend größere Verkehrsmassen als auf jenen bewältigt werden, so finden wir, daß die Fläche keiner der Pariser Stationen sich nur bis auf die Hälfte, keiner der Londoner sich auf das Viertel derjenigen der großen Wiener und Berliner Bahnhöfe erhebt. Nichts stellt deutlicher den praktischen Werth der Systeme, die bei Construction der Stationen in den Hauptculturländern zur Verwendung kamen, in’s Licht.

Daß von einer die Sicherheit und Promptheit der Manipulation in genügender Weise wahrenden Uebersicht und einheitlichen Disposition derselben auf jenen deutschen und österreichischen Stationen von der Ausdehnung mäßiger Mittelstädte, auf deren Geleisstrecken von vier bis fünf und mehr Meilen Länge mehrere Locomotiven oft mehr als tausend Wagen in allen möglichen Richtungen in raschem Tempo, unter von allen Seiten ertönenden Pfeifen-, Horn- und Glockensignalen und in allen Himmelsgegenden erscheinenden roten, grünen, weißen Licht- und vielfach geformten Körpersignalen etc. durcheinanderschieben, keine Rede mehr sein kann, liegt auf der Hand.

Und in dieser specifisch deutschen und österreichischen (ihrerseits durch die Wagenconstruction zum großen Theil bedingten) Bahnhofsconstruction mit ihren rasch bewegten, hin- und hergeschobenen Wagenreihen, die man im Lärm der Signale oder bei Sturm und Wetter nicht kommen und gehen hört, mit ihrer Nothwendigkeit, rasch Wagen zusammenzukoppeln und zu lösen, wobei die Leute unter dieselben kriechen müssen, mit ihrem Zwange, von Weiche zu Weiche oft zwischen dicht hinter einander rollenden Wagen hindurch über die Gleise zu springen, mit ihrer Complication und Gleichzeitigkeit der Signale, mit ihrer Beschränkung der Fernsicht durch die hohen Wagen und endlich mit ihrer Unmöglichkeit, auf solchen großen Flächen Manipulationen klar zu übersehen und zu dirigiren – liegt die Hauptursache der Gefährdung der auf ihnen fungirenden Arbeiter und Beamten. Und der persönliche Muth in Ausübung jener gefährlichen Functionen, dessen Mangel bei einem Personal gleichbedeutend mit Lahmlegung jedes energisch raschen Verfahrens, ja Stockung und Stillstand des Verkehrs auf der betreffenden Station ist, grenzt hier so oft, mehr oder weniger, an Tollkühnheit und Leichtsinn und daher – Verschulden, daß sie, wie jeder praktische Betriebsmann, der sich nämlich offen zu äußern wagt, bekennen wird, nur selten zu unterscheiden sind!

Daß die eigentliche Quelle der Gefahren für Leib und Leben auf deutschen Bahnen in den Manipulationsarbeiten auf den Stationen liegt, dafür giebt die einzige Eisenbahnstatistik, die, wie erwähnt, den Namen einer solchen verdient, die preußische, genügende Bestätigung. Während auf den preußischen Bahnen, deren Verwaltung im Allgemeinen, innerhalb des Systems, zu den besten gehört, die es giebt, im Normaljahre 1869, bei einer Beförderung von zweiundsechszig Millionen Passagieren nur vier Reisende getödtet und 17 verletzt wurden, nur 160 Beamte und Arbeiter während der wirklichen Fahrt zu Schaden kamen, wurden auf den Bahnhöfen 136 der Letzteren getödtet und 210 verletzt, kamen mithin bei dieser Thätigkeit mehr als doppelt so viel Menschen zu Schaden, als beim Fahrbetriebe selbst. Die englischen Bahnen zeigen im Jahre 1871, bei einer Beförderung von nahe vierhundert Millionen Passagieren, nur einen Gesammtverlust von 213 getödteten und 323 verletzten Beamten und Arbeitern, das heißt: für die Beamten und Arbeiter war die englische Betriebsform ungefähr sechs Mal sicherer als die deutsche, während diese für die Passagiere in Bezug auf Tödtung 1,6 Mal, in Bezug auf Verletzung etwa 10 Mal sicherer sich zeigte.

Der Gesammtverlust an Leib und Leben aber war in England in Bezug auf Tödtung 5 Mal, in Bezug auf Verletzung 13/4 Mal geringer (1869) als in Preußen. Bemerkenswerth ist dabei das Factum, daß auf den englischen Bahnen die Gesammtzahl der Passagiere sich in den zehn Jahren von 1861 bis 1871 von 180 Millionen auf 300 Millionen, das heißt auf das Doppelte gehoben hat, während die Zahl der Unfälle nur von 1100 auf 1500, das heißt um die Hälfte stieg, daß hingegen in Preußen die Gesammtzahl der Unfälle nicht allein mit dem Wachsen des Verkehrs (22 Millionen auf 62 Millionen Passagiere) Schritt hielt, sondern letzteres noch überholte, indem die Zahl der Unfälle von 211 auf 782 sich erhob.

Es ist dies nicht etwa ein Zeichen geringerer Sorgsamkeit in der Handhabung der Mittel, welche das Bau- und Betriebsystem der Eisenbahnen beider Länder für die Sicherung des Verkehrs bietet, sondern dafür, daß die Leistungsfähigkeit des Systems selbst in Bezug auf Sicherheit in Deutschland von den Anforderungen des Verkehrs überholt wurde.

Die Bestrebungen der Fachleute werden daher, ohne alle falsche Selbstliebe, auf Revision dieses Systems vor Allem hinzugehen haben, wenn nicht mit dem weiteren Steigen des Verkehrs die Unfälle in unstatthafter Weise zunehmen sollen.

Eng hiermit zusammen hängt die Unzulänglichkeit des Systems für die Bewältigung großer Verkehrsmassen auf den Stationen, trotz fast maßloser Vergrößerung derselben. Man hat hier und da selbst an Stellen, die wohlunterrichtet sein sollten, den größeren Verlust an Leib und Leben unter den Beamten bei dem Betriebe der deutschen und österreichischen Eisenbahnen einer angeborenen Mindergewandtheit der betreffenden Völkerstämme in der Manipulation mechanischer Vorkehrungen zuschreiben wollen. Es ist dies aber nur in sehr beschränktem Maße zuzugeben. Wenn es nun auch zweifellos erscheint, daß gewisse Nationalitäten mehr oder weniger Talent für die Gesammthandhabung des Eisenbahnwesens besitzen (wie es ja auch mehr oder minder kriegerische, mehr oder minder mit Geschmack und anderen Talenten begabte Stämme giebt), so wird dies Talent sich jedenfalls weit weniger in der größeren oder minderen körperlichen Geschicklichkeit der Bediensteten, als in der Wahl und Entwicklung des für die Landesverkehrsverhältnisse schicklichsten Bau- und Constructionssystems der Eisenbahnen zeigen, hier aber von durchschlagendem Einflusse sein, wie das Beispiel der anglo-germanischen Race diesseits und jenseits des Oceans zeigt.

Fassen wir schließlich in anschaulichen Vergleichen die verschiedenen Ausmaße von Sicherheit zusammen, unter denen Diejenigen, die mit Eisenbahnen zu thun haben, mit denselben verkehren, so findet sich etwa Folgendes:

Es mußte, ehe ein Reisender getödtet wurde, eine Anzahl Reisende fahren, die gleich war:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_275.JPG&oldid=- (Version vom 31.7.2018)