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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Anatomie und Philosophie des Ausdrucks“ als wirklich bedeutsame Vorläufer des erst kürzlich im englischen Original, wie in Victor Carus’ deutscher Uebersetzung an die Oeffentlichkeit getretenen neuesten Werkes von Charles Darwin zu betrachten, „Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren“, eines Buches, das, wie von seinem berühmten Verfasser nicht anders zu erwarten, einen Schatz trefflich verwertheter Beobachtungen, eine reiche Quelle der Belehrung und Anregung bietet. Was Darwin in’s Auge faßt, ist nicht blos der Gesichtsausdruck, der allerdings beim Menschen im Vergleich zu Thieren vorwiegend in Betracht kommt, es ist namentlich die Verknüpfung dieses mit gewissen Bewegungen des Körpers überhaupt und seiner Gliedmaßen, kurz mit dem, was man Geberden nennt. Gewiß verdient die Beobachtung der verschiedenen Ausdrucksformen unser ganzes Interesse, schon um der Bedeutung willen, welche sie für unsere Wohlfahrt haben. „Sie dienen,“ sagt Darwin, „als die ersten Mittel der Mittheilung zwischen der Mutter und ihrem Kinde; sie lächelt ihm ihre Billigung zu und ermuthigt es dadurch, auf dem rechten Wege fortzugehen, oder sie runzelt ihre Stirn aus Mißbilligung.

Erklärung der Figuren 1 bis 3. A. Stirnmuskel. B. Augenbrauenrunzler. C. Ringmuskel des Auges. D. Pyramidenmuskel. E. Nasenrümpfer oder Heber der Oberlippe und des Nasenflügels. F. Eigentlicher Lippenheber. G. Großer Jochbeinmuskel. H. Wangenbeinmuskel. I. Kleiner Jochbeinmuskel. K. Herabdrücker des Mundwinkels. L. Viereckiger Kinnmuskel. M. Lachmuskel.

Wir nehmen leicht Sympathie bei Anderen durch die Form ihres Ausdrucks wahr; unsere Leiden werden dadurch gemildert und unsere Freuden dadurch erhöht; und damit wird das gegenseitige wohlwollende Gefühl gekräftigt. Die Bewegungen des Ausdrucks verleihen unsern gesprochenen Worten Lebhaftigkeit und Energie. Sie enthüllen die Gedanken und Absichten Anderer wahrer als es Worte thun, welche gefälscht werden können.“

Einen besonderen Werth aber erlangt Darwin’s Behandlung des Gegenstandes dadurch, daß er die Erscheinungen nicht blos beschreibt, sondern auch erklärt, daß er sie auf ihre Grundursachen zurückzuführen versucht. Namhafte Forscher haben diese Erscheinungen geradezu für unerklärlich gehalten, so selbst der große Physiologe Johannes Müller.

Sicherlich hat die Erforschung der Ausdrucksformen ihre Schwierigkeiten, einmal bei der Flüchtigkeit vieler dieser Bewegungen, dann bei den Fehlerquellen, die theils in der Trübung des Urtheils durch’s Mitgefühl, theils in der Einbildung liegen. Darwin, der seine Beobachtungen bereits im Jahre 1838 begann, und seit jener Zeit bis zur Stunde den Gegenstand gelegentlich verfolgte, richtete seine Aufmerksamkeit zunächst auf Kinder, da ja im spätern Leben viele Ausdrucksformen einer minder reinen und einfachen Quelle entspringen und Gewöhnung eine so gewaltige Rolle spielt. Er beobachtete ferner den Ausdruck Geisteskranker, die ja den Ausbrüchen stärkster Leidenschaften ausgesetzt sind.

Darwin erstreckte seine Beobachtungen über den ganzen weiten Erdkreis. Es lag ihm daran, zu erfahren, ob dieselben Ausdrucksformen bei allen Menschenracen sich finden, namentlich bei denen, die nur wenig mit Europäern in Berührung kamen. „Sobald nur immer,“ sagt er, „dieselben Bewegungen der Gesichtszüge oder des Körpers bei mehreren verschiedenen Racen des Menschen dieselben Seelenbewegungen ausdrücken, können wir mit großer Wahrscheinlichkeit folgern, daß derartige Ausdrucksarten echte, d. h. daß sie angeborene oder instinctive sind.“ Deshalb vertheilte er im Jahre 1867 gedruckte Fragen mit der Aufforderung, die Ergebnisse der Beobachtung ihm mitzutheilen. Er erhielt sechsunddreißig Antworten von verschiedenen Beobachtern, zum Theil Missionaren oder Beschützern der eingeborenen Bevölkerung. Diese Antworten beziehen sich auf mehrere der verschiedensten und wildesten Racen. Aus der hierdurch erlangten Belehrung aber folgte, daß ein und derselbe Zustand der Seele durch die ganze Welt mit merkwürdiger Gleichförmigkeit ausgedrückt wird. Dies ist für die Beziehung der Menschenracen zu einander von großem Interesse.

Darwin ließ es aber hierbei nicht bewenden; er zog endlich auch die Ausdrucksformen der Leidenschaften bei Thieren in’s Bereich seiner Beobachtung, sicher, hier auf nichts Conventionelles, das Urtheil Trübendes zu stoßen. Wer unbeschadet seiner Gottinnigkeit das Bewußtsein natürlicher Abstammung eingesteht und nun ganz unbefangenen Blicks die Thiere beobachtet, der wird sich überzeugen, daß es keineswegs blos Wuth oder Furcht ist, was sie auszudrücken vermögen, denn „selbst der Mensch kann Liebe und Demuth durch äußere Zeichen nicht so deutlich ausdrücken wie ein Hund, wenn er mit hängenden Ohren, herabhängenden Lippen, sich windendem Körper und wedelndem Schwanze seinem geliebten Herrn begegnet.“ Daß viele Ausdrucksformen unserer Gemüthsbewegungen in der Abstammungslehre ihre einzig natürliche Erklärung finden, davon weiter unten einige Andeutungen.

Hören wir nun zunächst die drei Principien, auf welche Darwin die Ausdrucksformen der Gemüthsbewegungen zurückführt, ohne sich indeß zu verhehlen, daß es nicht in allen Fällen möglich ist, zu entscheiden, wie viel Gewicht dem einen oder dem andern derselben beizulegen sei, und daß überhaupt manche Punkte noch unerklärt blieben. Er hofft gleichwohl nach dem bis jetzt Erreichten, daß sicher alle Ausdrucksformen durch diese Principien sich werden erklären lassen. Es ist 1) das Princip zweckmäßiger associirter Gewohnheiten, 2) das Princip des Gegensatzes und 3) das Princip der directen Thätigkeit des Nervensystems.

Nach dem ersten Principe werden zweckmäßige Handlungen gewohnheitsgemäß mit gewissen Seelenzuständen associirt und ausgeführt, sie mögen nun von Nutzen sein oder nicht. „Gewisse complicirte Handlungen,“ sagt er, „sind unter gewissen Seelenzuständen von directem oder indirectem Nutzen, um gewisse Empfindungen, Wünsche etc. zu erleichtern oder zu befriedigen; und sobald derselbe Seelenzustand herbeigeführt wird, so schwach dies auch geschehen mag, so ist in Folge der Macht der Gewohnheit und der Association eine Neigung vorhanden, dieselben Bewegungen auszuführen, wenn sie auch im gegebenen Falle nicht von dem geringsten Nutzen sind. Einige in der Regel durch Gewohnheit mit gewissen Seelenzuständen associirte Handlungen können theilweise durch den Willen unterdrückt werden,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_299.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)