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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


und von dem deutschen Ingenieur W. Conradi, einem Schüler des genialen Semper, ausgeführte neue Universitätsgebäude zu Glasgow. Diese musterhafte Tempelhalle der Wissenschaft wirkt wohl auch insofern schon wohlthätig auf Berlin, als der jetzt in Berlin wohnende Conradi von zwei Männern der Wissenschaft ersucht worden ist, ihnen Auditorien und Laboratorien dieser Art im Kleinen zu entwerfen und auszuführen.

Die Universität Glasgow steht nicht allein auf dem solidesten Bau-, sondern auch auf dem ehrwürdigsten Geschichtsgrunde. Im Jahre 1450 entstanden, gehört sie zu einem der ältesten Freitempel der Wissenschaft, durch ihre Entwickelung und Lehrer zu einem der wirksamsten. Sie erwuchs aus eigener Kraft und durch die in England auch noch heutzutage blühende und Früchte tragende „Poesie des Reichthums“ und des Wohlthätigkeitssinnes, durch welchen in London allein die meisten der siebenhundert Anstalten der Barmherzigkeit erhalten werden. Die Zahl der Studenten stieg bald über tausend und schwankt jetzt zwischen zwölf- und fünfzehnhundert. Einige Professoren derselben haben europäischen Ruf erworben, den wirksamsten jedenfalls Adam Smith durch sein Werk „The Wealth of Nations“. Aus seinen Lehren und diesem Buche entsprangen die großartigsten Umwälzungen in der Staats- und Volkswirthschaft, in Handel und Wandel. Er ist der Urvater der allmächtigen Freihandelsbewegung und der Manchesterschule, nach welcher alles Wohl und Wehe der Völker und einzelnen Menschen dem eigenen Ermessen, der Freiheit in „Angebot“ und „Nachfrage“ überlassen bleiben soll. Sie hat nun ihre weltgeschichtliche Mission erfüllt und muß einer höheren, sittlicheren Auffassung und Behandlung der Menschen und Dinge weichen, da alle Freiheit nach der jetzigen höheren und tieferen Erkenntniß auf Pflichten gegen uns und Andere beruht und nicht auf Rechten, für unseren Privatvortheil Andere zu schädigen.

Die große und wachsende Anzahl von Professoren und Studenten machte öftere Erweiterungen nothwendig, und schon vor dreißig Jahren wurden Versuche gemacht, einen ganz neuen, großen, einheitlichen Wissenschaftstempel zu erbauen. Sie gelangen erst vor acht Jahren. Man kaufte zunächst einen prachtvollen, umfangreichen Baugrund für siebenhunderttausend Thaler, und nachdem der Plan des Professor Scott genehmigt worden war, gingen er und der Schüler Semper’s an die heroische Arbeit der Ausführung, welche nun in allen Theilen bis in’s Kleinste als siegreich abgeschlossen betrachtet werden kann. Der Wissenschaftstempel erhebt sich auf freundlichst umgrünter und parkartiger Höhe als rechtwinkeliges, sechshundert Fuß langes und dreihundert Fuß breites Viereck, dessen Inneres durch einen prachtvollen Mittelbau in zwei Würfel von je hundertachtzig Geviertfuß getheilt ist. Um diese beiden großen inneren Würfel gruppiren sich alle die unzähligen Säle, Auditorien, Laboratorien, Wirthschafts- und Gesundheitseinrichtungen. Letztere gelten als das Vollkommenste, was überhaupt bis jetzt je irgendwo erstrebt und mit bestem Erfolge durchgeführt ward. Luft und Licht, diese Sinnbilder des Geistes und Wissens, können von innen und außen stets frei einwirken, und durch den Ventilationsthurm wird fortwährend die reinste Luft aus der Höhe durch alle Räume so mächtig hineingetrieben, daß schädliche Gase und Ausdünstungen sich nie ansammeln können.

Das ganze Gebäude zerfällt in vier Hauptabtheilungen. Die südliche Front mit dem westlichen Eckturme ist den Naturwissenschaften in den prächtigsten Auditorien und Laboratorien gewidmet, der östliche Theil der Arzneikunde mit Bibliothek, Museum und allen nur erdenklichen Hülfsmitteln; die nördliche Front enthält einen Versammlungssaal für die Studenten, eine Lesehalle mit prachtvoller Bibliothek und das berühmte Hunter-Museum, vielleicht die vollständigste Sammlung von Münzen, außerdem die über hunderttausend Bände umfassende allgemeine Universitätsbibliothek. Daran schließen sich über ein Dutzend Privathäuser, jedes mit besonderen bequemen und heiteren Professorenwohnungen, ein fünf Morgen großer Spielplatz für die Studenten, am Ende noch das neue Universitätshospital.

Zuerst fällt natürlich der große Centralthurm mit den Haupteingängen unten in die Augen. Er ist nicht, wie andere Thürme, für Glocken bestimmt, sondern wesentlich für den praktischen Zweck der Ventilation. In einer Höhe von zweihundert Fuß zieht hier gleichsam die Lunge des ganzen Gebäudes jede Stunde seine Million Cubikfuß der reinsten Luft ein und hinunter in alle Poren des Gebäudes, durch welche gleichzeitig alle verbrauchte Luft immerwährend ausgetrieben wird. Noch mehr. Diese frische Luft wird je nach Jahreszeit und Temperatur entweder entsprechend gewärmt oder gekühlt, ehe sie den Lungen geboten wird. Darüber hernach noch ein Wort. An den Hauptthurm schließen sich der große Saal für öffentliche Prüfungen und der Versammlungssaal für den Senat an. Die medicinischen und naturwissenschaftlichen Auditorien sind halbcircelförmig, amphitheatralisch so gebaut, daß der Lehrer mit seinen Experimenten in der Mitte des Halbkreises unten von jeder Stelle aus gut gehört und gesehen werden kann.

Für Equipagen sind mehrere Portale so eingerichtet, daß diese ohne Verwirrung bequem ein- und ausfahren können, und für größere Bücher und sonstige Lasten im Museum, der Bibliothek etc. verschiedene Flaschenzüge mit Dampfbetrieb angebracht. Als nachahmungswerthe Einrichtung verdient noch erwähnt zu werden, daß unmittelbar an jedem Auditorium sich noch ein kleines Privatzimmer mit besonderem Eingange für die Docenten und Professoren befindet.

Um alle Einzelnheiten der vortrefflichen praktischen Einrichtungen anschaulich zu machen, müßte man nicht nur einen Grundplan, sondern auch architektonische Zeichnungen der verschiedenen Etagen zu Hülfe nehmen. Da es uns hier aber nur auf eine Generalansicht und Veranschaulichung der Ventilationseinrichtungen ankommt, weisen wir auf die photographisch aufgenommene Abbildung hin und beschränken uns auf eine Skizze dieses großartigen Ein- und Ausathmungssystems mit den Dampflungenkräften der Ein- und Ausathmung, durch welche der ganze riesige Bau gleichsam zu einem lebendig athmenden Wesens wird.

Die Einathmungswerkzeuge bestehen in vier weiten Luftröhren des Thurmes, durch welche dampfgetriebene Fächer die Luft mit großer Gewalt hinunterschrauben und in die verschiedenen Luftbehälter treiben, wo sie im Winter erst gewärmt und durchfeuchtet und im Sommer gekühlt und dann von derselben Gewalt in unzählige, durch die Wände vertheilte Röhren und von da in alle Räume gepreßt wird. Ueberall sind Klappen angebracht, um den etwaigen zu großen Zustrom zu mildern oder ganz abzuschließen. Vielleicht würde es auch manchmal zu viel werden, da das freie Spiel dieser Luftzufuhr in jeder Stunde jedem Auditorium 1050 Cubikfuß der reinsten Luft zuführt.

Wo kommt aber die schlechte Luft hin? Das ist vielleicht die Hauptsache. Bei uns denken noch häufig selbst gebildete Leute, daß sie den Gesundheitsanforderungen die größten Opfer bringen, wenn sie etwa im Winter täglich einmal auf so und so viel Minuten die Fenster öffnen, obgleich dies keine andere wesentliche Wirkung hat, als Abkühlung der im Zimmer verharrenden Luft und Erkältung. Wenn frische Luft eindringen soll, muß es der schlechten leicht gemacht oder sie muß, noch besser, gezwungen werden, sich an die Luft zu setzen. Unter den Sitzen der Auditorien der Glasgow-Universität sind überall solche Oeffnungen angebracht, daß die verbrauchte Luft, durch die frisch eindringende gepreßt, entweichen kann, ohne Zug zu verursachen. Um dieser nun auch den etwaigen heimlichen Aufenthalt in den Abzugsröhren unmöglich zu machen, sind immerwährend dampfgetriebene schraubenartige Fächer mit je vier Propellers und sechs Pferdekraft damit beschäftigt, ebenso stark für Austreibung, wie ihre dampfgetriebenen Collegen für Eintreibung, zu sorgen. Das ist die Hauptsache bei aller Ventilation: Verbindung einer Einathmungs- und Ausathmungskraft. Von Natur ist die Luft trotz ihrer Lockerheit faul und läßt sich nur durch äußere Gewalt, so zu sagen, auf die Beine bringen.

Diese Ein- und Ausathmungsorgane bestehen aus Röhren, die in gerader Linie fünf englische oder mehr als eine deutsche Meile lang sein würden. Ueber das Baumaterial und die Construction wäre für Sachverständige noch viel zu sagen; wir machen’s mit noch einigen Hauptthatsachen ab. Der Hauptthurm, vierundzwanzig Fuß unter der Oberfläche auf einem soliden Steinblocke von sechsunddreißig Quadratfuß ruhend, steigt erst in zwölf Fuß dicken Mauern von hundertcentnerigen Steinböcken empor. Diese Dicke verringert sich allmählich auf sieben und endlich auf fünf Fuß, so daß der ganze Thurm blos in seinem Rohmaterial hundertsechszigtausend Centner wiegt. Das vortreffliche Baumaterial von Fels und Gestein war meist in nächster Nähe zu haben und wurde an Ort und Stelle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_436.JPG&oldid=- (Version vom 4.9.2018)