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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

gekannt haben. Wir traten in einen großen, übermäßig hohen, mit Fliesen ausgelegten Flur und über einige Stufen durch eine Glasthüre in das einzige schmale, aber tiefe Zimmer parterre, das sein Licht durch ein großes Fenster mit vier Flügeln vom Hof her erhielt, und aus dem der scharfe, anfangs den Athem beengende Geruch von gegerbtem Leder uns entgegendrang.

An dem Tisch, um den in Stapeln Rinds- und Roßhäute, Kalbs- und Ziegenfelle, Saffianrollen und Sohlenstücke lagen, stand, uns den Rücken zukehrend, ein breitschulteriger Mann in Hemdärmeln und Schurzfell, eifrig damit beschäftigt, ein Leder zu untersuchen. Erst als der Doctor ihm ein munteres „Guten Tag!“ und „wie geht’s, Alter?“ zurief, wandte sich das runzelige und graubärtige Gesicht mit den hellen blauen Augen halb zu uns zurück. Das schwarze Sammetkäppchen wurde über der kahlen Stirn ein wenig gelüftet, und eine sonore Stimme antwortete: „Ihre Stiefel kommen morgen vom Leisten, Herr Doctor; früher war’s beim besten Willen nicht möglich.“

„Sicher wieder ein Kunstwerk,“ schmeichelte mein Führer; „man ist das schon so gewohnt vom Meister Lange. – Ich sage Ihnen, lieber Freund,“ wandte er sich zu mir, „ein Stiefel bequem wie ein Schlafschuh, und dabei doch knapp, ohne Falten, wie ausgegossen.“

„Nun, nun, Herr Doctor,“ lächelte das alte Gesicht halb wohlgefällig, halb abwehrend; „loben Sie nicht über Maß! Leder bleibt Leder, und was für die Dauer passen soll, muß zu Anfang nicht zu commode sein. Es geht überall im Leben nicht anders.“

Der Doctor setzte die Posaune nicht so leicht ab. „Aber der Mann hat auch Material,“ rief er, mit dem Stock auf die Stapel rechts und links schlagend. „Meister Lange kennt die Quellen. – Sie sollen einmal sein Lager sehen. Das zeigt er Ihnen ein ander Mal; aber Ihre Sammlung von Leisten, Meister – hoch interessant! übrigens auch historisch merkwürdig. Denken Sie sich, es sind darunter noch Hölzer aus dem sechszehnten Jahrhundert – und für was für Füße!“

„In so einem alten Handwerkerhause sammelt sich dergleichen auf,“ antwortete der Alte ruhig; „und für einen Schuhmacher hat’s wohl Bedeutung, aber für die Herren –“

„Das ist unsere Sache,“ fiel ihm der Doctor in’s Wort. „Mein Freund hier schwärmt für Antiquitäten, und auch ich habe zu allem echt Menschlichen gern Beziehung. Was kann aber menschlicher sein, als der Wunsch, zu so viel anderem Druck, den wir schon zu tragen haben, nicht auch noch von seinem Stiefel gedrückt zu werden? Uebrigens dient das alte Zeug nur zum Vergleich der eigenen Verbesserungen unseres wackeren Meisters.“

„Machen Sie nicht viel Rühmens davon,“ bat der bescheidene Mann. „Ich denke mir immer, wenn Jemand sein ganzes Leben bei einem so einfachen Handwerk zubringt, so wär’s eine Schande, brächt’ er es nicht darin zu was Rechtem. Meisterschaft will freilich auch im Kleinen erworben sein.“ Damit zog er einen Bund Schlüssel aus dem Riemen seines Schurzfells und öffnete die Thüren der mächtigen Schränke. „Da haben Sie alle Kunden dieses Schusterhauses von Anbeginn – fehlt kein Hühnerauge noch Ueberbein,“ sagte er mit derbem Humor.

Zum Ziel kam ich an jenem Tage noch nicht. Alles, was der Doctor für mich erlangen konnte, war, daß der Alte meinen Namen mit Kreide auf die innere Wand einer Thür einschrieb, die auch sonst schon als Tafel gedient hatte. Er verspreche nichts, was er nicht halten könne, meinte er. Mein Begleiter ging noch hinaus „zur alten Mama“, und ich wurde von der Magd mit einem zeremoniellen Knix ausgelassen.

Bei meinem nächsten Besuch fand ich den Meister in der Werkstube im zweiten Stock, wo seine drei Gesellen mit einigen Lehrburschen munter arbeiteten. Der Altgeselle war ein Mecklenburger; der zweite hatte viel in Holland für Java gearbeitet, „wo noch viele Millionen Menschen barfuß gehen“; den dritten, Franz Diestel, der bei ihm selbst ausgelernt hatte, wollte er nächstens in die Fremde schicken, womit der junge Mensch gar nicht einverstanden war. „So sind die jungen Gesellen nun,“ meinte der Alte kopfschüttelnd, „vom Wandern wollen sie nichts mehr wissen. Auslernen und womöglich gleich heirathen – die Fabriken geben ja Arbeit. Sie bezahlen aber auch danach, und das Elend ist hinterher groß, wenn die Familie wächst. Nichts da! Beim Wandern lernt man ein Stück Welt kennen und auf sich selbst stehen. Und man erweitert sich dabei innerlich und hat später für das ganze Leben einen Schatz, von dem man zehrt, wenn man festsitzt. Was weiß nicht unser Holländer zu erzählen!“ Ich stimmte zu und meinte, der Handwerker müsse auch seine Studentenzeit haben. Das gefiel ihm, und er zeigte mir nun auch unaufgefordert seine stattlichen Ledervorräthe in den verschlossenen Kammern desselben Stockwerks.

„Ueber uns sind die Schlafstuben für die Gesellen und Lehrlinge,“ erklärte er, als wir uns wieder zum Hinabgehen anschickten. „Ich halt’s noch so nach der alten Art und wie’s in diesem Hause allezeit Sitte gewesen ist. Wer bei mir in Arbeit tritt, muß bei mir auch Wohnung und Kost nehmen, wie ein Glied der Familie. Da merke ich denn gleich, wer mein Mann ist. Paßt’s einem nicht unter des Meisters Aufsicht zu stehen und sich nach dessen Weisungen zu richten, wenn er’s doch gut mit seinen Gesellen meint und ihn zu einem ordentlichen Menschen erziehen und vor allerhand Anfechtungen in schlechten Schlafstellen und Kneipen bewahren will – meinetwegen! ich kann’s nicht ändern. Aber ein Verhältniß zu so einem hab’ ich nicht, und mein Haus mag er meiden. Zwischen Meister und Gesellen, denk’ ich, muß etwas mehr sein, als ein Vertrag: so viel Stunden arbeitest du für mich und so viel bekommst du dafür! Dabei fällt das Handwerk auseinander, denn es steht in seinem tiefsten Grunde aus Vertrauen und gegenseitiger Zuthulichkeit. Die Dreitheilung in Meister, Gesell und Lehrling hat kein Mensch gemacht; die ist von selbst geworden, und wird immer bestehen, so lange einer etwas lernen und üben muß, um es zu können. Daß man alte Zwangssatzungen aufhebt, mag seinen guten Grund haben, aber nun sollte Jeder, der das Handwerk liebt, erst recht darauf achten, daß es aus freien Stücken das alte Band festhalte, das es zugleich in die Familie einschließt. Es ist traurig, wenn der Meister ein Herr und der Geselle ein Arbeiter wird, statt daß sie doch Genossen an demselben Werktisch sein sollen.“

Wir waren wieder unten in seiner Stube angelangt, und ich setzte mich zu ihm, um noch mehr von ihm zu hören. „Wenn Sie das nächste Mal ansprechen,“ sagte er beim Abschiede, „will ich Ihnen auch Maß nehmen.“ Ich merkte, daß er zu mir Vertrauen faßte.

Als ich nun erst die Ehre hatte, sein Kunde zu sein, und meinen Leisten in seinem Schrank stehen wußte, fand er sich allmählich auch in meine öfteren Besuche, die keinen geschäftlichen Grund hatten. An Sonntagen litt er aber nicht, daß ich in der Wohnstube blieb, sondern führte mich eine Treppe hinauf in sein „Putzzimmer“, wo ich stets auf dem Sopha Platz nehmen mußte. Die Möbel sahen wie neu aus und mußten doch nach ihrer Rococo-Façon sehr alt sein; wahrscheinlich wurde dieser Raum nur selten betreten. Ueber dem Sopha hing ein großes Oelbild in schwarzem Rahmen, einen Geistlichen im Ornate darstellend, die Bibel mit eingelegtem Zeigefinger in der Hand und, was nicht unbemerkt bleiben konnte, das eiserne Kreuz auf der Brust. Ein kleines Crucifix von Elfenbein und Ebenholz und Leonardo da Vinci’s Abendmahl mochten derselben Erbschaft angehören, die, wer weiß auf welche sonderbare Weise, in das Schustergäßchen gekommen war. Aelter schienen einige andere Reliquien zu sein: zwei Silhouetten in Barockrahmen, ein kleines Pastellbild, eine Korkschnitzerei, das Modell eines zierlichen Damenschuhes unter einer Glasglocke, diverse Taschenuhren mit Ketten, und Behängen, sämmtlich auf kleinen Tuchunterlagen an der Wand aufgehängt. Ich vermied es, neugierig zu fragen, woher alle diese Herrlichkeiten stammten.

Endlich wurde ich auch gelegentlich einmal in das Hinterzimmer des ersten Stockes eingelassen. Ich fand darin ein altes Mütterchen, das ich öfters beim Vorbeigehen hatte husten hören, am Spinnrocken. Der altmodische Lehnstuhl, das große Himmelbett mit geblümten Gardinen, der schwarzgrüne Kachelofen auf Holzfüßen, der große Tisch mit zwei Klappen, die Messingschale mit weißem Sand paßten trefflich zu einander und zu dem Mütterchen in weißer Tüllhaube am Spinnrocken. „Das ist meine Frau,“ stellte Meister Lange vor, „und das ist der Herr, Mamachen, dem unser Haus so ausnehmend gefällt, daß er schon bis unter’s Dach gestiegen ist. So findet doch jedes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_512.JPG&oldid=- (Version vom 9.7.2021)