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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

haben und die den Schlag eines guten Finken oder den melodischen Ruf der Drossel ungleich höher schätzen als die Tiraden der besten Canarienschläger.

Deshalb hatte Onkel Heinrich auch die Zucht aufgegeben, „aber den Fang laß ich nicht! ohne den könnt’ ich nicht dauern, ohne den hätt’ ich am Leben keine Freud’ mehr. Wenn ich im Herbste nicht mehr hinausziehen sollt’ in den gelben Wald und könnt’ nicht mehr mit meinen Vögeln plaudern und sollte die schönen Finken und Stieglitze und die runden Amseln alle vorüberziehen lassen in die Ferne, wo fremde wilde Völker sie todtschlagen, dann wär’s vorbei mit mir. Dann mögen sie mich nur einscharren drüben am Berghange, wo – Ihr wißt es ja selbst – so Viele schlummern, die uns lieb gewesen; dort mögen sie ein Bäumchen auf meinen Hügel pflanzen; denn das möcht’ ich wohl, daß dort ein Paar Vöglein nisteten und ein Fink sein liebliches ‚Weida‘ über mein Grab erklingen ließe.“

L.     


Von der Abstammungslehre.

1. Naturphilosophische Begründung der Schöpfungsgeschichte.

     „Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie
und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft;
alle wahre Wissenschaft ist Naturphilosophie.“
 (Häckel.)

Jeder nur halbwegs Gebildete weiß oder sollte doch wissen, daß es im Himmel und auf Erden ganz anders zugeht, als unsere Vorfahren glaubten. Dieser Glaube, der nichts als kindlicher Aberglaube war, läßt sich nun bei unseren Vorfahren dadurch entschuldigen, daß diesen die den Naturerscheinungen zu Grunde liegenden Gesetze noch vollständig unbekannt waren. Wenn aber in der Jetztzeit jener Aberglaube, wie dies leider der Fall ist, noch im Volke herrscht, so ist dies eine Schande für die Volksbildung. Leider bildeten früher und bilden auch jetzt noch Unwissenheit und Aberglaube die Grundlage, auf welcher sich die meisten Menschen das Verständniß der Natur aufzubauen suchen, trotzdem daß es Männer der Wissenschaft (echte Naturphilosophen) genug giebt, welche den Aberglauben zu bekämpfen und Aufklärung zu verbreiten bestrebt sind. Wie früher, so sind es auch noch heutzutage herrschsüchtige Kasten, welche den Fortschritt in der Cultur der Menschheit aufzuhalten und jene Aufklärungsmänner in ihrem Wirken zu behindern suchen. Nur schade, daß man gegen letztere heutzutage die beliebten Beweismittel der strafenden Kirche, Tortur und Scheiterhaufen, nicht mehr anwenden kann.

Am hartnäckigsten hingen und hängen zur Zeit auch noch die meisten Menschen an dem Aberglauben fest, welcher sich mit den Schöpfungen auf unserer Erde beschäftigt und welcher von den unnatürlichsten, dem Menschenverstande geradezu Hohn sprechenden Erklärungen ganz natürlicher Vorgänge durchaus nicht ablassen will. So hält es zum Beispiel schwer, die alte mosaische Schöpfungsgeschichte, welche doch nur der Unwissenheit und dem Aberglauben ihre Entstehung verdankt, aus den Köpfen der meisten Menschen zu treiben, obschon die neuere oder natürliche Schöpfungsgeschichte, welche sich zur alten wie das Wissen zum Glauben verhält, auf die einfachste und natürlichste Weise die Entstehung aller lebenden und leblosen Dinge auf unserer Erde darlegt. Während sich die natürliche Schöpfungsgeschichte streng an die in der Natur herrschenden, unabänderlichen Gesetze hält, kümmert sich die mosaische sehr wenig um diese Gesetze und überläßt alles Schaffen dem Willen eines eigenmächtig handelnden Schöpfers.

Die mosaische Schöpfungslehre, welche auch als teleologische, vitalistische und dualistische bezeichnet wird, nimmt eine gleichzeitige Entstehung aller lebenden Wesen an und denkt sich diese als die Wirkung einer übernatürlichen Schöpfungsthätigkeit, einer außerhalb der Materie stehenden schöpferischen Kraft, demnach als das Werk eines Schöpfers, der Alles zweckmäßig geschaffen und eingerichtet hat. Nach dieser Lehre sind alle Organismen (Pflanzen, Thiere und Menschen) selbstständig erschaffen und nicht etwa auf natürlichem Wege, sondern durch den Machtspruch eines Schöpfers.

Da durch die Erdkunde nach und nach an den Tag kam, daß die Bildung unserer Erdrinde verschiedene Perioden durchlaufen haben muß, und daß die Erdoberfläche einst mit lebenden Wesen, verschieden von den jetzigen, bevölkert war, so nahm man, im Einklange mit jenem mosaischen Schöpfungsglauben, an, daß die Erdoberfläche mehrere große und plötzlich auftretende Revolutionen (Sündfluthen) erlitten habe, welche sich über die ganze Erde ausdehnten und durch Naturkräfte bewirkt wurden, wie sie heutzutage nicht mehr vorkommen und von denen wir uns keine Vorstellung machen können. Bei diesen Revolutionen und Katastrophen, die mit plötzlichen Einbrüchen des festen Landes und mit Ueberschwemmungen desselben, sowie mit Erhebungen anderer Erdstriche verknüpft waren, gingen in Folge der allgemeinen Umwälzungen alle die gerade lebenden Wesen zu Grunde und ganz neue Thier- und Pflanzenarten wurden vom Schöpfer geschaffen, welche nun unverändert bis zu einer nachfolgenden Katastrophe existirten. Sonach mußte nach Beendigung jeder Katastrophe eine vollständig neue Schöpfung stattfinden, und jede Periode wurde mit einer durchaus neu geschaffenen Welt von lebenden Wesen bevölkert. Alle während dieses Zeitraums existirenden Pflanzen- und Thierarten blieben unveränderlich und stets so, wie sie einmal aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen waren.

Diese Schöpfungsgeschichte, welche nichts als eine aus Unkenntniß der Natur hervorgegangene willkürliche Dichtung ist, wurde schon durch Copernicus als der crasseste, unwissenschaftlichste Irrthum nachgewiesen; trotzdem hat sie sich aber doch bis zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als die allein herrschende und sogar bis auf den heutigen Tag in solchem Ansehen erhalten, daß sie sogar von sonst gebildeten und gelehrten Personen als eine durchaus göttliche Offenbarung und für unumstößlich anerkannt wird. Leider wird auch noch jetzt von den Meisten das ganze Gebiet der belebten Natur als ein vollkommenes Räthsel betrachtet und die Entstehung der verschiedenen Thier- und Pflanzenarten für ein Wunder gehalten. Uebrigens ist es nicht zu verwundern, daß die mosaische Schöpfungsgeschichte der natürlichen Schöpfungsgeschichte noch nicht den gehörigen Eingang in’s Volk gestattet hat, da sogar verdienstvolle Naturforscher noch in unserem Jahrhundert versucht haben, diese kindische Erzählung mit den Ergebnissen der neueren Naturwissenschaft in Einklang zu bringen. Selbst Linné (1707 n. Chr.), dieser große schwedische Naturforscher, der zuerst ein vollendetes System der Thier- und Pflanzenarten und ihrer Namen aufstellte, schloß sich der Schöpfungsgeschichte des Moses (welcher ungefähr um das Jahr 1480 v. Chr. lebte) noch an. Und selbst der berühmte Cuvier, welcher sich um die Versteinerungskunde die größten Verdienste erworben hat, war der eifrigste Vertheidiger der Erdrevolutionen und der damit zusammenhängenden Schöpfungstheorie.

Wie ganz anders verhält es sich dagegen bei der neueren sogenannten mechanischen, einheitlichen, causalen oder monistischen Schöpfungsansicht! Diese betrachtet nicht blos die Erde, sondern die ganze Welt als das Werk eines von Ewigkeit her und in Ewigkeit hin sich stets neuschaffenden Werdens und nicht als das Gebilde einer auf einmal fertig gemachten Schöpfung. Nach ihr sind alle organischen Wesen auf unserer Erde veränderliche Erzeugnisse der Natur, welche diese nach und nach in langen Zeitfolgen hervorgebracht hat. Diese mechanische Schöpfungsansicht leugnet das Eingreifen einer übernatürlichen, außerhalb der Materie stehenden schöpferischen Kraft und sieht Alles, die organischen (Organismen: Pflanzen, Thiere und Menschen) wie unorganischen Naturkörper (Wasser, Luft, Gestein, Erdboden), als die nothwendigen Producte natürlicher Kräfte, als die nothwendigen Wirkungen ewiger und unabänderlicher Naturgesetze an. Von plötzlichen, gleichzeitigen und allgemeinen Umwälzungen der Erdoberfläche kann, wie Lyell deutlich bewiesen hat, keine Rede sein. Nur ganz langsam und allmählich und nur über ein Stück der Erdoberfläche ausgedehnt, verliefen die Veränderungen derselben, so daß die Entwickelungsperioden ganz unmerklich ineinander übergingen. Ebenso fand eine gleichzeitige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_698.JPG&oldid=- (Version vom 6.1.2019)