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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Camerad. „Der wird Dir wohl eine neue Flasche besorgen können, wenn es auch nur eine blecherne französische ist.“

„Oder auch seine Nichte!“ tröstete spöttisch ein Anderer. „Die giebt Dir doch sicher eine Flasche, wenn sie eine hat.“

„Wer den Schaden hat, braucht, für den Spott nicht zu sorgen,“ dachte ich und grübelte im Stillen über die Möglichkeit nach, zu einer neuen „Schluckpulle“ – wie die technische Bezeichnung lautet – zu kommen.

Bald darauf kam die Ablösung; die neuen Posten zogen auf, die alten wurden abgelöst, und wir trollten uns fröhlichen Herzens, aber so vorsichtig wie möglich nach Hause. „Nach Hause“, das heißt nach dem hinter der Vorpostenkette liegenden Flecken Argenteuil, wo wir zum Entsetzen aller noch vorhandenen Einwohner Cantonnements bezogen hatten. Das Entsetzen bezog sich eigentlich nur auf den Umstand, daß wir auf die französischen Granaten bedeutende Anziehungskraft ausübten und so auch die guten Einwohner gefährdeten; sonst war es ihnen durchaus nicht unlieb, daß wir da waren. Die Leute, die etwas zu verlieren hatten – an ihrer Spitze der Pfarrer – hatten ihre Schätze aufgepackt und waren vor den verfluchten Preußen oder, wie sie sich ausdrückten, den maudits Prussiens ausgerückt. Was sie nicht fortschleppen konnten, brachten sie in die Keller zu ihren Weinfässern, mauerten die Eingänge zu und dachten, nun wäre Alles gut, die dummen Preußen würden nichts finden.

Dem war nicht so; wir fanden eine große Menge; aber schon vor uns hatten die zurückgebliebenen Leute, welche nichts zu verlieren hatten, viel mehr gefunden. Sie nahmen von den leeren Häusern Besitz, eigneten sich an, was sie fanden, und eröffneten mittelst der vermauerten Weinschätze einen einträglichen Handel mit den Preußen, denen gegenüber sie nun wieder auf die verfluchten Reichen schimpften, die an allem Unglücke schuld seien. „Ah! quel malheur pour nous, pour vous, pour tout le monde!“ – das war der Stoßseufzer, der alle Reden schloß und alle Herzen tröstete durch das Bewußtsein, daß die ganze Welt mit Frankreich zu leiden hätte. Im Uebrigen ließ es sie ziemlich kalt, wenn wir in den Häusern, die wir bewohnten, so viel wie möglich Hausgeräth aus allen unbewohnten Häusern zusammenschleppten, wenn wir alle Kellerwände zerklopften, um Wein zu finden, wenn wir die Dachsparren herauszogen oder die Treppen zu den obersten Stockwerken abtrugen, weil wir kein Brennholz hatten. Nur sehr Wenige trieben ihren Patriotismus so weit, daß sie nichts mit uns zu thun haben wollten; die Mehrzahl war vergnügt, mit uns Geschäfte machen zu können, und das genügte uns auch.

Unter dieser Mehrzahl war auch ein Belforter, der ziemlich geläufig Deutsch sprach und bei den Soldaten sich bald sehr beliebt gemacht hatte; er tauschte ihnen für Reis und Erbswurst Kartoffeln und Wein ein und schenkte ihnen zuweilen Kleinigkeiten, die er sich nachher theuer bezahlen ließ; kurz, der alte Jean wurde allgemein „Landsmann“ genannt und als solcher behandelt. Er war Allerweltscommissar, aber eigentlich Kirchendiener und bewohnte ein kleines Haus in der Nähe der Kirche als Amtswohnung. Einige Zeit, nachdem wir seine Bekanntschaft gemacht hatten, eröffnete er – da er als Kirchendiener augenblicklich nichts zu thun hatte – eine Weinstube und zapfte nun lustig aus drei verschiedenen Kellern, die er mit der schützenden Inschrift „Jean sein Keller“ versehen hatte.

Zog Jean’s billiger Wein und seine Stellung als „Landsmann“ die Soldaten in seine Kneipe, so that es noch mehr seine Nichte Désirée, eine blonde Schönheit von ganz deutschem Typus. Sie machte die Honneurs als Wirthin und bezauberte Alle gleichmäßig durch ihr freundliches und anstandsvolles Benehmen, wie durch ihre Schönheit und ihre allerliebste deutsch-französische Mundart.

Selbstverständlich war in dieser freuden- und frauenarmen Zeit ein jedes Exemplar des weiblichen Geschlechts Gegenstand allseitiger zartester Bewerbungen; ja sogar unserer siebenundvierzigjährigen, vertrockneten Marketendermatrone soll es nicht an Bewunderern gefehlt haben. Natürlich war also ein hübsches, junges Mädchen, wie Désirée, das Licht, um das alle militärischen Schmetterlinge herumflatterten und ich mitten unter ihnen. Ich that, wie alle Anderen, mein Möglichstes, um ihren Augen zu gefallen, und der Zufall begünstigte mich mehr als die Anderen. Ich hatte nämlich einmal Gelegenheit, ihr einen kleinen Dienst zu erweisen, indem ich ein paar betrunkene Franzosen, die sehr unartig wurden, verjagte; seitdem zeigte Désirée mir eine gewisse Zutraulichkeit, die mich zum Gegenstand des Neides für meine Cameraden machte. Sie erzählte mir von ihren Schicksalen, klagte über ihre Lage, in der sie so viel Unfreundlichkeit von ihrem Onkel ertragen mußte, weil sie mittellos und von seiner Gnade abhängig war, und fragte mich dann wohl naiv, ob sie es bei den Prussiens besser haben würde, wenn sie mit uns nach Berlin käme. Sie wollte ganz gern eine Deutsche werden; denn ihre gute verstorbene Mutter hatte nur deutsch gesprochen und so schöne deutsche Lieder und Märchen gewußt. Erst allmählich hatte ihre Mutter sich daran gewöhnt, auch französisch zu sprechen; ihre Désirée hatte aber auch deutsch lernen müssen. Nun waren Vater und Mutter todt. Vermögen hatten sie nicht hinterlassen, und der Onkel Jean hatte die kleine Nichte nach Argenteuil geholt, damit sie ihm die Wirthschaft führe. Er war eigentlich immer mürrisch und unfreundlich gewesen, war geizig und warf dem armen Mädchen jeden Bissen vor, den er ihr gab; ganz schlimm war es aber mit ihm geworden, als der deutsch-französische Krieg ausgebrochen war und die Gloire der Franzosen völlig über den Haufen geworfen hatte. Wenn Désirée nun einmal deutsch mit ihm sprach oder ein deutsches Liedchen summte, schalt er sie „Prussienne“ und beschuldigte sie, daß sie die Feinde lieber sähe als ihre Landsleute.

„Was können aber die armen Soldaten dafür, daß jetzt Krieg ist? Soll ich sie deswegen hassen? Sie thun mir nichts Böses; ich will es ihnen auch nicht thun,“ meinte Désirée.

Ich tröstete sie, indem ich ihr eine bessere Zukunft in Deutschland ausmalte; genug, wir schwatzten gar vertraulich miteinander, und ich hatte mich schließlich so an das Mädchen und ihr naives Geplauder gewöhnt, daß ich jeden freien Augenblick benutzte, um sie zu sehen.

Jean beobachtete mich wohl mißtrauisch, sagte aber nichts weiter in meiner Gegenwart. Im Geheimen schien er jedoch seiner Nichte Lectionen zu geben; denn sie war, so lange er anwesend, scheu und zurückhaltend gegen mich und athmete erst frei auf, wenn er nicht mehr zugegen war und wir unbeobachtet plaudern konnten. Mochten Désirée’s Worte oder das ganze Wesen Jean’s der Grund sein, ich fühlte gegen den Alten einen geheimen Argwohn. Trotz seines Entgegenkommens mußte ich ihn immer unwillkürlich beobachten, als ob ich ihn einmal auf einer verrätherischen Handlung ertappen würde.

Am Tage nach dem Verlust meiner Feldflasche ging ich, da wir keinen Dienst hatten, zu Jean’s Budike, um einen Frühschoppen zu trinken und mich zugleich zu erkundigen, ob er vielleicht eine alte französische Feldflasche für mich habe. Ich traf Désirée allein an. Sie brachte mir Wein, setzte sich zu mir, und ich erzählte ihr nun mein Erlebniß von gestern. Die Gefahr, in der ich geschwebt hatte, ließ sie erbleichen; ich fühlte mich geschmeichelt und gerührt durch ihre Theilnahme, und wir waren im besten Zuge, einander Geständnisse zu machen. Da fuhr Désirée plötzlich erschreckt auf. Jean und der Vicar traten in die Thür, ohne uns zu bemerken; ich hörte blos noch die Worte: „Auf Wiedersehen heute Abend!“ Dann machte der Vicar Kehrt, und Jean trat ein. Er schien unsere Verwirrung wohl zu bemerken, gab es aber nicht zu erkennen, sondern begrüßte mich in seiner gewöhnlichen übertrieben herzlichen Weise als „Landsmann“, erzählte mir sofort, daß der „Paffen“, damit meinte er den Vicar, auf die in seinem Hause wohnenden Soldaten sehr böse wäre, weil sie ihm den Wein austränken, und fragte, ob ich etwa auch einen Weinkeller gefunden hätte, da ich doch schon seit zwei Tagen nicht bei ihm gewesen wäre.

„Das eben nicht; aber wir waren auf Vorposten.“

„So? habt Ihr dort auch Wein? Wo steht Ihr denn jetzt? Ich werde hinkommen, um Wein zu bringen,“ meinte er lachend; „dann wird man mich wohl passiren lassen.“

Mochten diese Worte noch so unschuldig sein, sie weckten doch das in mir schlummernde Mißtrauen, und da ich überhaupt ärgerlich war über sein störendes Erscheinen, so entgegnete ich kurz:

„Nun, ich würde Euch sicher nicht durchlassen. – Ich wollte Euch nur fragen, ob Ihr mir vielleicht eine Feldflasche verkaufen könnt? Das ist der Zweck meines Hierseins.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 717. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_717.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)