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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


wieder scheiden sahen, war dabei seltsam zu Muthe. Während der Zeit des Besitzes regte sich das Bewußtsein der Entbehrung mit doppelter Stärke, und doch konnte ihnen keine Reue erwachsen, denn Dora’s harmonische Entwickelung bewies, daß sie jene Lebensluft athmete, für die sie geschaffen erschien.

Einfach und doch stets überraschend, alles Geistige mit Leichtigkeit, alles Seelische mit Inbrunst erfassend, war Dora schon im vierzehnten Jahre ein ungewöhnliches Kind und versprach ein ausgezeichnetes Mädchen zu werden. Die Art und Weise, womit sie sich im Elternhause bewegte, hatte etwas Reizendes. Ihre freudenvolle Hingabe an jede kleinste Erinnerung aus frühen Kindertagen, ihr Anschmiegen an die Gewohnheiten des Hauses hoben den leisen, im Grunde wesenlosen und doch nicht zu übersehenden Unterschied gleichsam auf, der ihre ganze Erscheinung von der ihrer heimathlichen Umgebung abhob. Vor Allem verband zärtlichste Liebe sie ihrem Vater und ihrem nur zwei Jahre jüngeren Bruder Robert. Der Knabe, als Aeltester des Hauses betrachtet und durch seinen klugen, klaren Kopf schon früh den Eltern nahe stehend, sah zu der schönen Schwester auf wie zu einem höheren Wesen und liebte sie mit der tiefen Innigkeit einer sonst etwas verschlossenen Natur. Ihr alljährliches Erscheinen war für ihn der lichte Punkt des Lebens, worauf sein Sinnen und Denken sich fast schwärmerisch concentrirte.

Wieder wurden die lieben Gäste erwartet, als statt ihrer ein Brief bei Rostans anlangte, der nicht allein die nahe Hoffnung aufhob, sondern Neues brachte, das von keiner Seite vorgesehen war. Die Gräfin theilte Sophien ein Geheimniß mit, das nicht mehr lange ein solches bleiben sollte. Was früher so heiß erfleht, als Versagtes so herb empfunden worden, kam jetzt als späte, kaum noch ersehnte Gabe: Matterns sahen eigenem Ehesegen entgegen. Indem Minna dies ihrer Freundin schrieb, mehr verzagt als freudig fast, berührte sie auch den unvermeidlichen Einfluß, welcher hierdurch auf ihre zu Dora’s Gunsten getroffenen Bestimmungen geübt wurde. Sie hatte von ihrem Privatvermögen der Pflegetochter die Hauptsumme, ihrem Gatten dagegen jenes Pflichttheil bestimmt, welches das Gesetz dem nächsten Erben zuerkennt. Nun, wo ihr ein eigenes Kind leben sollte, durfte sie diese Bestimmung nicht unbedingt aufrecht erhalten. Ihr väterliches Gut, jetzt das Eigenthum ihres Gatten, war Majorat. Wurde ihnen ein Sohn geschenkt, dann konnte die getroffene Verfügung fortbestehen; sollte aber eine Tochter geboren werden, so ging nach Mattern’s Tode das Gut an einen andern Agnaten über und des Hauses Tochter blieb auf das Privatvermögen angewiesen. Die Gräfin eröffnete Dora’s Eltern, daß ihr die Pflicht gebiete, unter diesen Umständen das bisherige Testament abzuändern, und daß sie bereits ihren Sachwalter berufen habe, um mit ihm zu berathen, in welcher Form ihrer Herzenspflicht wie ihren Mutterpflichten zugleich Genüge werden könnte.

Dieser Botschaft, welche Rostan nicht ohne stille Bedenken aufnahm, folgte bald eine Hiobspost. Der Gräfin Entbindung trat vorzeitig ein, sie gab unter schweren Kämpfen einer Tochter das Leben und – erkaufte dieses verfrühte, kaum einen Hauch besitzende Dasein des Kindes mit ihrem eigenen.

Sophie folgte auf der Stelle der Eingebung ihres rechten, praktischen Wesens; ein paar Stunden nach Empfang der Trauerbotschaft war ihr Koffer gepackt, für Mann und Kinder vorgesorgt, so gut es sich thun ließ, und sie selbst mit dem Nachtzug unterwegs, um Beistand zu bieten und nach Befund der Verhältnisse einzugreifen. Als sie am folgenden Nachmittage im Schlosse eintraf, fand sie doppelte Trauer: das schwache Leben der kleinen Neugeborenen war vierundzwanzig Stunden nach dem der Mutter erloschen.

Frau Rostan’s Anwesenheit wurde für das zerstörte Haus zum wahren Segen. Ruhig, als sei dies selbstverständlich, ergriff sie sofort die Leitung des aus dem Geleise gebrachten häuslichen Triebwerkes, ordnete und sorgte, bis Alles wieder seinen gewohnten Gang hatte, und that damit namentlich dem Wittwer wohl, der sich ganz außer seinem Elemente, und doch, abgesehen von der Erschütterung, eine Hoffnung verloren und ein Gewohnheitsband gelöst zu sehen, schon durch den Anstand vorerst an die Stätte gefesselt fand.

Vor Allem empfand jedoch Sophie ihrem Kinde gegenüber, wie richtig ihr rascher Entschluß gewesen. Dora’s leidenschaftlicher, ja übermäßiger Schmerz um die Pflegemutter bedurfte des Gegengewichtes, welches die Anwesenheit der eigenen Mutter ihr bot. War auch Sophie weit davon entfernt, ihrer Tochter eine Empfindlichkeit zu zeigen, die sie nicht einmal empfand, so lag doch schon in ihrer bloßen Gegenwart ein Zügel für unbeschränkte Aeußerung der wilden Verzweiflung, welche Dora’s heißes Herz erfüllte. Tiefes Zartgefühl, ein Erbe der Geschiedenen, warnte Dora, sich vor Der, welche das nächste Recht auf sie besaß, dem Jammer um die Entrissene allzu stürmisch hinzugeben, und so ging sie blaß und stumm, aber doch im gewöhnlichen Gebahren, an der Mutter Seite durch Tage und Nächte.

Seit der Gräfin Bestattung war etwa eine Woche vergangen. Sophie saß zur Dämmerzeit im Gespräch mit Mattern vor dem Kamin, in welchem, des kühlen Octobertages wegen, helle Flammen prasselten, deren Widerschein über das halb schon in Abendschatten gehüllte Zimmer zuckte.

„Ich darf nicht widersprechen,“ sagte Graf Hugo. „Die Ihrigen haben nähere Rechte an Sie, und ich kann nur dankbar sein, daß Sie um unsertwillen Haus und Hof so lange allein gelassen. Daß ich es also nicht versuchen will, Sie zu halten, sei gelobt, so sehr wir Sie vermissen, ja entbehren werden. Nur, liebe Freundin, bestehen Sie nicht auch darauf, mir Dora zu nehmen. Hören Sie mich ruhig an, bitte! Ich habe absichtlich verschoben, mit Ihnen über die eigenthümliche Lage zu sprechen, in welche wir Alle so unerwartet gerathen sind, doch ich wünschte, Sie möchten vorher Zeit behalten, mich wenigstens einigermaßen kennen zu lernen. In Tagen, wie wir solche eben gemeinsam durchlebten, blickt man rascher und schärfer in das Leben des Andern, als während das Alltagstreibens. Ich hoffe deshalb, Ihnen nicht mehr fremd zu sein, rechne sogar darauf, denn was ich Ihnen zu sagen habe, setzt, wenn es zu Resultaten führen soll, persönliches Vertrauen voraus. Zur Sache denn!

Sie wissen, daß es Minna’s Absicht gewesen, neue Bestimmungen zu treffen, wonach zwei Drittel ihres Privatvermögens unserer Tochter zufallen, ein Drittel dagegen Dora gesichert bleiben sollte. Dies war das angenommene Resultat vieler Ueberlegungen, fast dürfte ich sagen, Kämpfe; denn die Liebe meiner Frau zu Dora war so stark, daß ihr Rechtsgefühl mit ihren eigenen Wünschen dadurch leider allzulang im Streit lag. Wenigstens finde ich bei dem sonst ziemlich entschiedenen Wesen Minna’s keine andere Erklärung für das beständige Hinausschieben der Ausführung ihres Entschlusses. Als sie ihn endlich festgestellt und die Ausfertigung eines neuen Dokumentes eingeleitet hatte, war es zu spät. Wie schnell die Katastrophe kam, ist Ihnen bekannt. Beim Anblick unseres Kindes, der ihr ja kaum eine Stunde gegönnt war, schien sie große Unruhe zu ergreifen. Sie gedachte wohl der Zukunft und wie ihr Zögern dieselbe in Frage gestellt. Auf ihr Verlangen brachte ich das noch unberührt in ihrem Schreibtisch liegende erste Testament an ihr Bett und verbrannte es vor ihren Augen. Eine andere Willensmeinung zu dictiren reichte schon ihre Kraft nicht mehr aus. Das Einzige, was sie noch zu sprechen vermochte, galt aber diesem Gedanken. Ihre letzten Worte an mich waren: ‚Ich vertraue Dora’s Zukunft Deiner Ehre.‘“

Mattern schwieg und blickte Sophie an, als erwarte er eine Entgegnung. Als sie aber nur ein stummes Zeichen gab, daß sie höre, fuhr er fort:

„Da keine gesetzliche Bestimmung vorliegt, fiel das ganze Vermögen meiner Frau an unser Kind und, nachdem die Kleine ihre Mutter überlebt hat, schließlich an mich. Hierdurch, liebe Freundin, trete ich in die moralische, lassen Sie mich sagen in die Herzensverpflichtung ein, welche Minna dereinst gegen Ihre Tochter übernommen, und hoffe, Sie werden gleich meiner Frau meiner Ehre vertrauen. Lösen Sie deshalb nicht das Band, welches Dora diesem Hause verknüpft, entziehen Sie Minna’s Pflegling nicht der Obhut, die ich ihr zu bieten wünsche! Sie ist ein eigenthümliches Kind, ein Charakter. Bis jetzt war sie mir nur äußerlich verbunden; erst während der letzten Monate, die ich ungestört mit den Meinen verlebte, habe ich sie genauer kennen gelernt und mit großem Interesse beobachtet. Bei ihrer Selbstständigkeit und scharfen Auffassung der Dinge wäre sie im Stande, später hartnäckig zurückzuweisen, was ihr aus einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 757. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_757.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)