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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Schwere, wuchtige Schläge fallen auf den Ambos; die Blasebälge schnauben; die Dampfmaschinen ächzen und krächzen und aus den Schloten qualmen dichte Rauchwolken, die bei Regenwetter sich als flüssiger Ruß auf die geschwärzten Häuser senken und dieselben noch dunkler färben. Hier befinden sich Blei-, Zink-, und Bronzegießereien, Glashütten, Tapetenfabriken, zahlreiche Werkstätten der Holzschnitzer, Elfenbeindrechsler, Marmorschleifer und Ciselirer. Dieser volkreichste aller Pariser Stadttheile wird fast ausschließlich von der Arbeiterclasse bewohnt. Hier herrscht die Blouse vor, die man nicht gern in den eleganten Stadttheilen sieht; denn die schwieligen Hände, die in ruhigen, friedlichen Zeiten die geschmackvollen Gegenstände verfertigen, welche als „Articles de Paris“ nach allen Enden der Welt versendet werden, um die Kamingesimse oder die Nipptische zu zieren, dieselben Hände greifen in Zeiten der Aufregung schnell zur Waffe und legen sie nicht ebenso schnell nieder.

Ist man etwa zehn Minuten lang durch diese Straße gewandert, so befindet man sich auf einem weiten Platze, von dem sich, rechts bis zur Place Saint Antoine und links bis zum Chateau d’Eau, der unter der Herrschaft Napoleon’s des Dritten und des Herrn Haußmann neu angelegte Boulevard du Prince Eugène mit seinen prachtvollen Häusern ausdehnt. Auf diesem schönen Platze befindet sich die Mairie des elften Arrondissements. Wie der Boulevard selbst trug dieser Platz früher den Namen des Prinzen, dessen Bildsäule auf einem granitenen Sockel vor der Mairie stand. Nach dem Sturze des zweiten Empire wurde der Name Eugène durch den Namen Voltaire verdrängt. Die Statue des Prinzen ward entfernt und an deren Stelle die Bildsäule des Philosophen von Ferney aufgerichtet. Am Fuße derselben ließ die Commune an einem Aprilmorgen die Guillotine, oder wie man dieses Instrument beschönigend nennt: die „bois de Justice“ feierlichst verbrennen. Dieser Verbrennungsproceß hatte dieselben Folgen wie der Scheiterhaufen, auf welchem im Jahre 1848 der Thron Louis Philipp’s in Asche verwandelt worden. Der Thron des Bürgerkönigs ward nämlich bald darauf durch einen andern, durch einen Kaiserthron ersetzt; und so sind auch die verbrannten „Hölzer der Gerechtigkeit“ längst durch eine neue Guillotine ersetzt, welche im Dienste der rächenden Justiz schon rechtschaffen gearbeitet hat.

Was nun die Bildsäule Voltaire’s betrifft, so ist ihr während des Kampfes der Commune der unterste Theil des Rückens durch eine Bombe zerschmettert worden. Man hat das beschädigte Werk vom Sockel gehoben und, nachdem es ausgeflickt war, in dem Jardin Monge am linken Seine-Ufer aufgestellt. Im Quartier latin ist Voltaire’s Statue auch mehr an ihrem Platze. Da man jedoch den Prinzen Eugène nicht wieder aufgerichtet, so steht jetzt der granitene Sockel ohne Bildsäule.

Wir legen diesen Platz zurück und befinden uns in der Fortsetzung der Rue de la Roquette, die sanft aufsteigend einen andern, viel kleineren, mit Platanen bepflanzten Platz durchschneidet. Es ist dies der Platz de la Roquette, der allen Parisern einen Schauder einflößt. Hier finden nämlich die Hinrichtungen statt. Das hohe Thor, das wir rechts in der Mauer erblicken, führt zum Gefängnisse gleichen Namens, und etwa zehn Schritte vor dem Thore bemerken wir am Boden fünf weiße Quadersteine. Auf diesen Steinen wird das Gerüst mit dem Fallbeile errichtet.

Haben wir diesen düstern Platz hinter uns, so erblicken wir zu beiden Seiten der Straße in fast ununterbrochener Reihe große und kleine Magazine und Schuppen, in welchen Grabsteine, Kreuze, Immortellenkränze und sonstige Gegenstände verkauft werden, mit denen der Ueberlebende die Ruhestätten seiner theuren Hingeschiedenen schmückt. Die Straße de la Roquette, die am Bastillenplatze, im Mittelpunkte des Pariser Volkslebens, beginnt, mündet nämlich in den Boulevard Montménil, zwanzig Schritte vor dem Thore des Père Lachaise, wo alles Leben aufhört und Groß und Klein, Jung und Alt, Hoch und Niedrig den ewigen Schlaf schlafen.

In der Rue de la Roquette, in den Seitenstraßen und auf dem Père Lachaise wurde der letzte Kampf der Communards mit den Versaillern gekämpft. In diesem blutigsten aller Bürgerkriege wurde selbst der Schlummer der Todten nicht geschont; denn zwischen den Gräbern hatten die Communards eine Batterie aufgepflanzt, die unaufhörlich Verderben und Zerstörung auf die Stadt schleuderte.

Abwesend von Paris, hatte ich die Schilderungen dieses gräßlichen Kampfes mit um so größerer Angst gelesen, als einer meiner besten Freunde damals in der Straße de la Roquette, und zwar in der Nähe der Bastille, wohnte. Es ist dies ein polnischer Gelehrter, der mit seiner Gattin, einer gutmüthigen, lebhaften Rheinländerin, und zwei Knaben in stiller Zurückgezogenheit lebt. Ich wußte nicht, ob er während der Belagerung und der Herrschaft der Commune in Paris geblieben und was aus ihm geworden war. Ich entschloß mich daher, bei meiner Rückkehr nach Paris seine Wohnung aufzusuchen. Indessen entschwanden mehrere Wochen, bevor ich diesen Entschluß auszuführen vermochte. Ich traf die Familie wohlbehalten, wenn auch etwas bleich und abgemagert, an. Sie hatten Paris keinen Augenblick verlassen, und Mann und Frau versicherten, daß die Belagerung trotz aller Entbehrungen, die sie ihnen verursachte, trotz des Mangels an Feuerung in dem ausnahmsweise strengen Winter, trotz der allerdürftigsten und fast ungenießbaren Nahrung, die unmittelbar vor der Capitulation nur aus Kleienbrod und dürrem Obst bestand, kaum einen Eindruck in ihnen zurückgelassen; denn die Erinnerung an alle Noth und alle Leiden während jenes Winters sei verwischt worden durch den entsetzlichen Kampf, der in ihrer Straße, der vor ihrer Thür gewüthet, und durch die schauderhaften Scenen, die er in ihrem Hause und selbst in ihrer Wohnung veranlaßte.

Ich bat meinen Freund, als ich mit ihm allein war, mir etwas von seinen Erlebnissen mitzutheilen, und er begann:

„Während der Woche, in welcher die Versailler einen Stadttheil nach dem andern den Communards entrissen, lebten wir in beständiger Angst, da wir wußten, daß die Katastrophe in unserer nächsten Nähe stattfinden und wie viel Blut sie kosten würde. Schon der fünfundzwanzigste Mai sollte uns von Dem, was uns erwartete, einen Vorgeschmack geben. Trotz meiner Ermahnungen wollte sich meine Frau, muthig und entschlossen, wie sie ist, nicht abhalten lassen, über den Bastillenplatz zu gehen, um einige Einkäufe für die Haushaltung zu machen.

‚Heute kann ich noch den Gang thun,‘ sagte sie; ‚morgen ist es gewiß schon zu spät. Ich bin ein Weib. Niemand wird mir ein Leid zufügen. Ich gehe nur nach der Rue St. Antoine und bin bald wieder zurück.‘

Sie nahm den Korb und ging.

Aber eine Stunde nach der andern verging, und sie kam nicht. Mich hielt’s nicht mehr in der Wohnung. Ich ermahnte meinen ältern Jungen, seinen Bruder zu überwachen, und begab mich auf den Bastillenplatz, wo rings umher furchtbare Barrikaden aufgerichtet waren. Kaum war ich dort angelangt, als ich auf einige Communards stieß. Einer von ihnen hielt mich sogleich fest.

‚Was treiben Sie sich hier müßig herum ?‘ rief er. ‚An die Barrikaden!‘

‚Ich kann keine Barrikaden machen,‘ erwiderte ich.

‚Die Barrikaden sind längst gemacht Sie werden dieselben vertheidigen helfen, statt hier herumzulungern!‘

‚Ich bin ein Gelehrter,‘ sagte ich.

‚Die Gelehrsamkeit wird Sie nicht verhindern, auf unsere Feinde zu schießen,‘ entgegnete er.

‚Ich habe Weib und Kind,‘ rief ich in Verzweiflung.

‚Wir haben ebenfalls Weib und Kind,‘ schnaubte er mich an und fügte hinzu, indem er mir den Lauf des Gewehrs vor die Brust hielt: Ich schieße Sie nieder, wenn Sie nicht ruhig stehen bleiben. Man wird Ihnen ein Chassepot geben, und Sie werden mit uns kämpfen. Kein Wort mehr!‘

Er hatte kaum das letzte Wort gesprochen, als ich meinen Namen rufen hörte. Mein Weib stürzte herbei und wollte mich den Händen des Communards entreißen. ‚Ich bin seine Gattin,‘ fuhr sie ihn an, indem sie sein Gewehr bei Seite stieß. ‚Es ist feige, einen friedfertigen Familienvater, der als Ausländer sich nicht in Euern Bürgerkrieg mischen will, zum Kampfe zwingen zu wollen.‘

Ein Officier, der einige Schritte von uns mit gekreuzten Armen schweigend der Scene zugesehen, kam nun herbei und sagte zu dem Communard: ‚Lassen Sie ihn los!‘

Der Communard gehorchte mit finsterm Gesichte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_163.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)