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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Ein angenehmer Gegensatz zu jenen Casino’s sind die Veteranenvereine, die jetzt allenthalben entstehen. Gewöhnlich vereinigen sich zwei oder drei Dörfer, stellen den Brüdern, die im letzten Kriege gefallen, im Friedhofe oder auch im grünen Walde ein Denkmal auf, ziehen zu dessen Enthüllung mit Musik und Fahnen hinaus, stellen sich in Parade auf, halten ihre Reden, setzen sich dann zusammen, toastiren auf Kaiser und Reich und schließen die Feier mit Gesang und Tanz, um sie nächstes Jahr in ähnlicher Weise zu wiederholen. Diese Vereine wären ein Band, das die reichsfreundlichen Kräfte im Lande trefflich zusammenhalten könnte, allein es ist nicht zu bemerken, daß ihnen die gebildeten Liberalen oder die Behörde irgend eine Ehre oder Aufmerksamkeit erweisen. Niemand scheint zu ahnen, welche Bedeutung ihnen mit geringer Mühe zu verleihen wäre.

„Nur nicht lutherisch werden!“ hallt es jetzt aus allen Winkeln der Kirche. Nur schade, daß wir’s schon sind oder wenigstens schon in einer ganz protestantischen Atmosphäre leben! Wir erinnern nicht an die mächtigen Ketzerschaaren in unserer Hauptstadt, aber auf dem Lande, ja selbst in Miesbach, in Schliersee, wo immer eine Fabrik, ein Hüttenwerk, eine größere oder kleinere Unternehmung ersteht, sind die Vorstände, die Verwalter, die Leiter, alle die, die gute einträgliche Stellen einnehmen, entweder aus dem protestantischen Franken, aus Württemberg oder aus Norddeutschland. Die katholische Erziehung in Altbaiern liefert diese Gattung nicht. In der dreihundertjährigen geistigen Erstarrung, welche die Jesuiten bekanntlich über das Land verbreitet, ist das Nationalgenie in der That etwas eingeschlummert. Bis zum Anbruche der Reformation ging Altbaiern auf den Wegen der deutschen Kunst und Wissenschaft freudig mit; seitdem die Väter Jesu in’s Land kamen, ist es in allen Fächern zurückgeblieben und vom Auslande abhängig geworden. König Max der Erste hat die Dickhaut nur Etwas aufgeschürft; Ludwig des Ersten Seltsamkeiten und Max des Zweiten Milde ließ sie gemüthlich wieder zuheilen. Altbaiern führt wohl sein Nationalgetränk in’s Ausland, aber geistige Erübrigungen hat es nie versandt. Es mußte vielmehr seine Blößen immer mit Berufungen decken. Unter den Kurfürsten führte man die Gelehrten und die Künstler aus Frankreich und Italien ein; unter den Königen fing man an, sie aus dem protestantischen Deutschland zu verschreiben. Letzteres war den frommen Patrioten immer ein Dorn im Auge; aber das sichere Mittel dagegen ist doch noch unheimlicher als das Uebel. Man müßte dem Volke nämlich die Augen öffnen, es etwas denken lehren, es innerlich und äußerlich erziehen, es an Kunst und Wissenschaft gewöhnen (denn der „ordentliche“ Altbaier weiß zur Zeit mit Liebig so wenig anzufangen wie mit Kaulbach), kurz, man müßte es geistig heben und eine andere geistige Luft schaffen, als es jetzt athmen muß. Dann würde es vielleicht selbstständig werden und keine Fremden mehr brauchen, vielmehr sogar eigene Celebritäten exportiren können. Aber wo käme nach einer solchen Hebung die jetzige Kirche mit allen ihren Mißbräuchen hin, wo die Infallibilität, die unbefleckte Empfängniß und die schönen, genußreichen Wallfahrten nach Birkenstein, nach Altenötting oder gar zum Judenmord in Deggendorf? Auch möchte wohl manches Kirchenlicht erwägen, daß jetzt noch die Flagge die Waare deckt, während die kritischen Augen einer späteren Zeit in seinem Wesen leicht Mängel entdecken möchten, die zum Besten der Kirche besser verhüllt bleiben. Darum lassen wir’s lieber beim Alten.

Unter solchen Betrachtungen sind wir nach Birkenstein gekommen. Dort steht also unter alten und jungen Birken eine Wallfahrtskirche, welche nach dem Muster des Heiligthums zu Loreto gebaut sein soll. Das heilige Haus zu Loreto ist aber dasselbe, in welchem Maria zu Nazareth wohnte, dasselbe, welches von den Engeln bekanntlich einmal aus Galiläa dahin getragen wurde, wo es jetzt die Pilger zur Andacht ladet. Ihren Ursprung verdankt aber die Kirche zu Birkenstein einem Traumgesichte, welches 1663 drei Männer zu Fischbachau, der Pfarrer, der Wirth und ein Bauer, zu gleicher Zeit erlebten. Es erschien ihnen nämlich die allerseligste Jungfrau und theilte ihnen mit, daß sie auf dem Birkenstein verehrt sein wollte. Dem frommen Wirthe mag wohl die heilige Mahnung am tiefsten zu Herzen gegangen sein, denn ein guter Wirth gedeiht nirgends besser als bei einer guten Wallfahrt. Und so kam nach manchen Hindernissen die Capelle zu Stande.

Unser heutiges kunstreiches Bild, das Herr L. Braun aufgenommen hat, zeigt uns die Capelle mit ihrem Thürmchen und dem hölzernen Umgang, der ihr vorgebaut ist. Vom Thurme weht eine Flagge, wahrscheinlich in den baierischen Farben; die Vorderseite des Kirchleins und die Tragbalken des Umgangs sind mit Blumengewinden verziert. Es scheint ein großes Fest, ein Frauentag, eine Kirchweih, ein Jubiläum gefeiert zu werden.

Vielleicht giebt es Leute, welche es für überflüssig halten, sich eigens aufzumachen und nach Birkenstein zu gehen, denn wenn Gott überall allmächtig und allgegenwärtig ist, warum soll er in Birkenstein noch mächtiger und noch näher sein als anderswo? Allein so ist die Sache nicht aufzufassen, sondern vielmehr ganz anders. Der liebe Gott ist nämlich dem katholischen Landvolke ein unbekanntes, tief im dunklen Hintergrunde schwebendes Wesen, mit dem es persönlich keinen Verkehr unterhält. Es wendet sich nur an seinen Hofstaat, an die allerseligste Jungfrau, gleichsam die Königin-Mutter, und an die lieben Heiligen. Daß diese nicht allmächtig sind, ist ziemlich gewiß; ob sie allgegenwärtig, ist eher zweifelhaft. Man bietet ihnen daher auf dieser Erde gewisse Heiligthümer an, die sie gleichsam als ihre Wohnung beziehen und wo sie immer sicher zu sprechen sind. Dort trägt man ihnen dann vor, was man auf dem Herzen hat, und bittet sie um ihre Verwendung bei dem unbekannten Gott.

Uebrigens trägt zur Blüthe der Wallfahrten auch die germanische Wanderlust bei. Nicht alle können nach Maria-Einsiedeln oder gar nach Loreto pilgern; aber ein Ausflug, der nur einen oder zwei Tage beansprucht, ist für Männlein und Weiblein leicht erschwinglich. Kommt also die schöne Sommerszeit, so erwacht die Sehnsucht nach der blauen Ferne, und der Bauer, die Bäuerin, die Söhne und die Töchter freuen sich auf eine Wallfahrt nach Birkenstein ebenso herzlich, wie sich ein gebildeter Berliner oder Hamburger auf den Rigi oder auf den Comersee freut.

Diese Wanderlust können wir auch aus den weiblichen Trachten, die das Bild uns bietet, mit ziemlicher Sicherheit herauslesen. Die ländlichen Schönen mit dem kegelförmigen Hütchen, welches eine Goldschnur einfaßt, sind freilich nicht weit her, da dies die jetzige Mode der Miesbacher Gegend ist; aber die Figur, die gerade unter dem Prediger steht, mit dem niedrigen Hute, von dem zwei breite Bänder wallen, sie mag schon eine halbe Tagereise weit gegangen sein, denn dieser Hut deutet auf die Gegend von Audorf oder Brannenburg im Innthal. Den Weitpreis unter den Anwesenden erhält aber jedenfalls die breitschulterige Person, die vorn im Grase sitzt. Die Grenadiermütze, die sie schmückt, ist nämlich eine sogenannte Schwazerhaube, ein uraltes tirolisches Wahrzeichen, das schon die Heldinnen von Anno Neun geführt. Leicht möglich, daß diese Dame in dieser Versammlung auch die Ehre der Alterspräsidentin ansprechen dürfte, denn die Schwazerhauben sind in Nordtirol jetzt fast verschwunden und werden als Andenken an die gute alte Zeit nur noch von hochbetagten Mütterchen getragen.

Auf der Laube steht ein Capuziner und predigt. Was mag er vortragen? Als August von Platen vor bald sechszig Jahren eines Sonntags nach Birkenstein gekommen war, wurde da auch gepredigt, und zwar von den Wunderkräften des heiligen Scapuliers und von den gräßlichen Qualen des Fegefeuers, aus welchen die heilige Jungfrau alle Samstage eine Anzahl Seelen zu erlösen pflege. Das Scapulier, die lodene Schulterdecke, die in ihre Ausläufern vorn bis auf die Füße heruntergeht, ist ein wichtiges Kleidungsstück in der Geschichte des Carmeliterordens. Ein Prior desselben soll nämlich zur Zeit der Hohenstaufen ein besonderes Exemplar aus den eigenen Händen der heiligen Jungfrau Maria und damit die Versicherung empfangen haben, daß, wer darin sterbe, der ewigen Strafe enthoben sei. Kein Wunder, daß sich viele Kaiser, Könige und andere Fürsten mit großen Kosten dieses Scapulier verschrieben, um darin den letzten Seufzer auszuhauchen.

In der katholischen Kirche, also auch in der Wallfahrt zu Birkenstein, ändert sich sehr wenig. Es ist daher wohl möglich, daß der Capuziner, den Herr L. Braun im vorigen Jahre dort gehört, wieder über das heilige Scapulier gepredigt hat. Solche Gegenstände sind auch die passendsten, denn sie geben kein Aergerniß. Spricht der Prediger dagegen über Keuschheit,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_305.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)