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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


diente. So hielt Ledru-Rollin es wenigstens in den letzten fünfzehn Jahren; die paar ersten seines Hierseins waren etwas bewegter gewesen. Als nächste Nachbarn, nur durch eine Straße getrennt, sahen wir uns am häufigsten und kamen auch wiederholt im Sommer an Seebadeorten zusammen. Oft war es mein Bemühen, bei dem Manne, der eine so hohe Begabung, einen so freien Blick und für die Volkspartei seines Landes eine so große Bedeutung hatte, eine Umstimmung in Bezug auf England anzubahnen. Vergebens! Selbst die englische Sprache war ihm zuwider, und er hat sie nie bemeistert, obwohl seine Gattin, die theils spanischer oder baskischer, theils irischer Abkunft ist, sie gleich einer Eingeborenen redet.

Das Buch „Von dem Niedergange Englands“ („De la Décadence de l'Angleterre“) war es, was ihn sofort in feindliche Berührung zu dem Lande gesetzt hatte, in welchem er als Flüchtling Schutz gesucht. Es war ein bedauerlicher Irrthum des etwas heißblütigen Volkstribuns, der das Werk verfaßte, nachdem er kaum einige Monate in England verweilt!


Ledru-Rollin.
Nach einer Photographie.


Die Gegenkritik ließ englischerseits nicht auf sich warten. Daraus entstand dann bei ihm eine Verbitterung gegen England, welche ihn nur allzu oft zum härtesten Urtheile veranlaßte.

Die kleine Londoner Zeitschrift „Le Proscrit“, an welcher er in Gemeinschaft mit namhaften Gesinnungsgenossen verschiedener Nationalität nach 1849 betheiligt war, ging bald ein. Der „Central-Europäische demokratische Ausschuß“, in welchem er Frankreich vertrat, löste sich nach kurzer Thätigkeit ebenfalls auf. Dann folgte bei Ledru-Rollin eine lange Ruhepause. Sein Name trat in den Hintergrund; höchstens zerrte die französische Polizei denselben hervor, indem sie ab und zu den ruhig lebenden Verbannten fälschlicher Weise in eine Verschwörung gegen das Leben Ludwig Napoleon’s verwickelte. Man wußte, wie Ledru-Rollin in dieser Sache dachte. Da jedoch keine That und kein Beweis vorlagen, die als Inzichten hätten dienen können, so erfand man solche. Auf Grund falscher Anklagen und Verurtheilungen schloß man ihn von jeder Amnestie aus. Sogar ein Auslieferungsgesuch wurde, wie mir aus bester Quelle bekannt, bei einem dieser Anlässe von der französischen Regierung hier übergeben. Es war in der Blüthezeit der Freundschaft Englands mit „unserem erlauchten Verbündeten“, wie Napoleon der Dritte damals hieß. Palmerston versuchte sein Möglichstes, um diesem „erlauchten Verbündeten“, dessen Staatsstreich er auf eigene Faust anerkannt hatte, in Bezug auf die Flüchtlinge dienend entgegen zu kommen. Die Gefahr schien nicht gering, daß Ledru-Rollin zum Opfer fallen werde.

Keine Londoner Zeitung nahm sich seiner an. Mit der einzigen Ausnahme eines radicalen Blattes war die gesammte Tagespresse damals von bitterster Feindschaft gegen die Demokratie erfüllt. Glücklicher Weise hatte das Haupt des Cabinetes alle Ursache, sich gerade dieses Blatt nicht zum Gegner zu machen. Mir gelang es, die Vertheidigung Ledru-Rollin’s darin auf’s Entschiedenste zu führen und die öffentliche Meinung zur Aufrechthaltung des alten, den Verbannten aller Parteien gewährten Schutzes zurückzurufen. Ledru-Rollin sprach dafür seinen innigsten, wärmsten Dank aus: die Auslieferung wäre für ihn gleichbedeutend mit dem Tode gewesen.

Wie ich später erfuhr, war die von Napoleon geforderte Auslieferung im englischen Cabinetsrathe blos mit Einer Stimme Mehrheit abgelehnt worden. –

Von da an verhielt sich Ledru-Rollin wo möglich noch stiller. Wohl gehörte er fortwährend zu dem engeren Kreise der Wenigen, die von den Vorbereitungen für den sicilianischen Aufstand von 1860, wie auch für den polnischen Aufstand von 1863, und später für die spanische Revolution von 1868, lange Zeit vorher unterrichtet waren. Mazzini (nicht Garibaldi, wie man gewöhnlich annimmt) hatte die sicilianische Erhebung geplant. Sechs Wochen nach Ausbruch derselben unter Rosolino Pilo führte Garibaldi durch die Landung der Tausend den Aufstand siegreich bis nach Neapel durch. Ich kann aus persönlicher genauer Kunde bezeugen, daß Mazzini die Erhebung angelegt und daß Mazzini’s Vertraute sie zuerst leiteten. Ledru-Rollin, der ebenfalls von allen Vorbereitungen wußte, hoffte aus dem Siege italienischer Einheit und Freiheit einen Umschwung in Frankreich. Noch erinnere ich mich, wie er, sehnlichst die Nachrichten aus Palermo erwartend, mir eines Tages mit dem Ausrufe entgegenkam: „Die Wochen vergehen. Der Aufstand läßt lange auf sich warten. Sind wir wieder getäuscht?“ Ich sprach ihm Hoffnung zu, und er athmete befriedigt auf.

Der Sturz der neapolitanischen Bourbons gelang; doch am Volturno trat eine Wendung ein, welche die erhoffte revolutionäre Rückwirkung auf Frankreich hintertrieb. Mazzini’s Plan, dem Garibaldi zugestimmt hatte, nach erfolgter Befreiung Süd-Italiens auf Rom loszumarschiren und dorthin eine italienische Nationalversammlung zu berufen, wurde durch den von Napoleon angeregten piemontesischen Einmarsch vereitelt. Garibaldi mußte seine Dictatur niederlegen; Mazzini verließ Neapel. Für die in das innere Getriebe der italienischen Actions-Partei eingeweihten französischen Republikaner war eine Aussicht zunichte geworden.

Jahre vergingen. Ich fand, daß Ledru-Rollin sich allmählich immer mehr in Studien und Kunstgenüsse vertiefte; beim Beginn eines Gespräches liebte er es, an wissenschaftliche, künstlerische oder philosophische Fragen anzuknüpfen. Erst nach und nach, wenn wir längere Zeit darüber geredet, war ein Uebergang zur Politik möglich, deren Besprechung ihn augenscheinlich aufregte. Ein guter Kenner von Gemälden, hatte er seine Wohnung mit den Erzeugnissen manches älteren Meisters geziert und beschäftigte sich viel mit dem Aufsuchen verdunkelter Bilder, deren Ursprung zweifelhaft geworden. Stets war er froh, wenn er uns etwas neu Entdecktes dieser Art wieder zeigen konnte. Nach und nach nahm ihn die Beschäftigung mit diesen Dingen beinahe ausschließlich in Anspruch.

Mit Vorliebe wandte er sich in der Unterhaltung den Fragen über den Urgrund, über Ziel und Zweck der Dinge und über die Bestimmung der Menschen zu. Allen Kirchenglauben, alle priesterschaftlich religiösen Vereinigungen verwarf er mit großer Entschiedenheit. Die Bibelkritik übte er im vollsten Maße. Er huldigte der Geistesrichtung Voltaire’s; die Büste des Philosophen von Ferney zierte seinen Schreibtisch. Gleich Voltaire glaubte er an ein höchstes Wesen und an die Unsterblichkeit der Seele; diese Ansicht verfocht er nicht blos als nothwendige Ergebnisse seines Denkens, sondern mit einer gewissen religiösen Gluth. Er wurde leicht ungeduldig, wenn ihm etwa vom Standpunkte naturwissenschaftlicher Forschung Einwände gemacht oder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_161.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)