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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

eingeführt. Ihre ursprüngliche Aufgabe, die Einführung und Verbesserung der Tiegelstahlfabrikation, hat sie vor allen anderen gelöst; das Verfahren kam zuerst von England nach Deutschland. Schon im Jahre 1740 hatte Hundsmann bei Sheffield die erste Tiegelstahlfabrik angelegt und zum Einschmelzen hauptsächlich schwedisches Stahleisen verwandt, nachdem dasselbe zuvor in der oben angedeuteten Weise cementirt war. In Deutschland haben Friedrich Krupp in Essen vor fünfzig Jahren, Jacob Mayer in Bochum vor fünfunddreißig Jahren die Tiegelstahlfabrikation begonnen und nach und nach zu einer Bedeutung zu erheben gewußt, welche selbst die englischen Fabriken überflügelte und den beiden deutschen Werken den ersten und zweiten Rang in der Welt sicherte. Wenn Krupp seine Energie und seine Mittel hauptsächlich dahin richtete, durch enorme mechanische Einrichtungen die Erzeugung schwerer Gußstahlschmiedestücke zu ermöglichen, so gebührt Jacob Mayer das Verdienst, durch die Erfindung des Stahlfaçongusses ohne Hammer oder Walze schwere Gegenstände aus Gußstahl für den Maschinenbau herzustellen, die aus Gußeisen nicht haltbar, aus Schmiedeeisen dagegen nicht ausführbar oder zu kostspielig sein würden, z. B. Kirchenglocken bis zum Gewichte von dreißigtausend Pfund, Schiffsschrauben bis zum Gewichte von zwanzigtausend Pfund, schwere Cylinder für hydraulische Pressen von zehntausend Pfund, schwierig construirte Façonstücke für den Brückenbau, Scheibenräder und Herzstücke für Eisenbahnen etc. Aber das nicht minder hoch anzuschlagende Verdienst, diese geniale Erfindung zur Anerkennung gebracht und dadurch in dem kurzen Zeitraume von zwanzig Jahren das kleine Etablissement zur heutigen Größe erhoben zu haben, gebührt der geschickten und energischen Leitung des Bochumer Vereins. Das kleine Werk an der Essener Chaussee wollte nämlich trotz jener wichtigen Erfindung nicht recht voran. Es kamen trübe Zeiten für die Besitzer, und erst nachdem im November 1854 die Fabrik der Herren Mayer und Kühne an die mit ausreichendem Capital versehene Actiengesellschaft Bochumer Verein für Bergbau und Gußstahlfabrikation übergegangen und nach kurzer provisorischer Verwaltung des jetzigen Geheimen Regierungsrathes Alexander von Sybel Anfangs 1855 der noch jetzt als Generaldirector fungirende Commerzienrath Louis Baare an die Spitze getreten war, begann allmählich das Aufblühen der jetzt so bedeutenden Schöpfung. In zwanzigjährigem Zusammenwirken haben die Herren Baare und Mayer, gemeinsam mit dem ebenso lange fungirenden jetzigen Vorsitzenden des Verwaltungsrathes, Herrn Jean Marie Heimann in Köln, aus der kleinen Gußstahlfabrik, die sie mit dreihundert Arbeitern übernahmen, jenes gewaltige Werk geschaffen, welches unser Bild darstellt und welches Stadt und Umgegend mit wahrhaft elementarer Gewalt umgestaltet hat.

Im Jahre 1854 betrug die Production bei dreihundert Mann Belegschaft 18,182 Centner Gußstahl, im ungefähren Werthe von einer Viertel Million Thaler; 1867 war sie bei zweitausend Arbeitern auf 220,000 Centner, im Werthe von 2,800,000 Thaler, gestiegen; 1873 lieferte die Fabrik 1,300,000 Centner Gußstahlfabrikate, im Gesammtwerthe von circa acht Millionen Thaler, bei 5570 Arbeitern. Ihre Hauptforce besteht in der Fabrikation von Eisenbahnmaterial, namentlich Stahlschienen, Rädern, Achsen, Bandagen, Federn, Herzstücken etc.. – die gegenwärtige Tagesproduction von Stahlschienen beträgt zwischen 1000 und 1500 Stück. Das sogenannte „Bochumer Scheibenrad“ aus Stahlfaçonguß war lange Zeit nur in Bochum herstellbar. Erst seit 1864 gelang auch der Krupp’schen Concurrenz die Herstellung dieses weitaus dauerhaftesten und betriebssichersten aller Eisenbahnräder. Bei Gelegenheit seiner Referate über die Wiener Weltausstellung äußert sich Max Schlesinger über das Verhältniß zwischen Krupp und dem Bochum-Verein in der „Kölnischen Zeitung“ wie folgt:

„In Artilleriematerial steht Essen obenan, wogegen Bochum ihm im Bereiche des Eisenbahnmaterials den Rang abgelaufen hat. Beide können neidlos und selbstbewußt einander in’s Auge schauen, und wie Goethe in Bezug auf Schiller, so könnte das ältere Essen auch von dem jüngeren Bochum sagen: ‚Die Deutschen sollte sich glücklich schätzen, zwei solche Kerle, wie wir sind, zu haben.‘“

In der Geschützbranche ist Fr. Krupp an maschineller Leistungsfähigkeit dem Bochumer Werke zur Zeit überlegen. Es ist ihm gelungen die colossalen Bedürfnisse Preußens auf diesem Gebiete für sich zu einem ebenso lehrreichen wie einträglichen Monopol zu gestalten. Aber die Bochumer Fabrik hat nicht nur bereits 1874 die erste Gußstahlkanone angefertigt und damit die Verwendung dieses Materials für Geschützguß eingeführt, sie hat auch von der preußischen Regierung die officielle Bescheinigung, „daß ihre Geschütze als denen der Krupp’schen Fabrik ebenbürtig anerkannt seien“.

Eine weitere, bisher noch von Niemand erreichte oder auch nur annähernd ermöglichte Specialität ist der schon erwähnte Glockenguß. Nach Ausweis des Glockenprospectes hängen im deutschen Reiche circa zwölfhundert Stück große Kirchenglocken, im übrigen Europa circa fünfhundert, in Asien sechs, in Afrika zehn, in Nordamerika fünfundvierzig, in Südamerika zehn; gewiß ein Beweis für die Vorzüge dieses allerdings erst langsam zur allgemeinen Anerkennung gekommenen Fabrikates, welches an Klang den Bronzeglocken gleich, an Dauerhaftigkeit ihnen weit überlegen ist und etwa halb so viel kostet. Die Haltbarkeit der Gußstahlglocke hat sich vor einigen Jahren beim Brande einer der deutschen Kirchen Petersburgs glänzend bewährt. Als der Glockenstuhl vom Feuer verzehrt ward, stürzten die drei daselbst hängenden Bochumer Stahlglocken circa 130 Fuß hinab auf das feste Gewölbe des Thurmes und lagen daselbst längere Zeit in der Gluth, ohne äußerlich oder an Ton und Stimmung irgend welchen Schaden zu nehmen.

Außer der Gußstahlfabrik und deren Zubehör besitzt das Werk in Bochum eine große Hochofenanlage und Coaksbrennereien, eine Fabrik feuerfester Steine und, drei Kilometer entfernt, aber mit einer eigene Eisenbahn verbunden, drei vereinigte, höchst werthvolle Tiefbaukohlenzechen „Maria“, „Anna“ und „Steinbank“, außerdem bei Mühlheim am Rhein eine weitere Hochofenanlage und zahlreiche Eisensteingruben in Nassau und im Siegerlande. Alle diese zum Etablissement gehörige Grundstücke arbeiten vorwiegend für den Bedarf der Fabrik, deren täglicher Kohlenverbrauch sich bei mittlerer Beschäftigung auf 15,000 Centner, bei voller Arbeit auf circa 20,000 Centner Kohlen und Coaks beläuft, zu deren Anfuhr demnach vier Kohlenzüge von zwanzig bis fünfundzwanzig Doppelwaggons täglich nöthig sind.

Diese Kohlen heizen circa hundertfünfzig Dampfkessel und qualmen aus fünfzig große Kaminen, deren einer der höchste auf dem Continent ist. Derselbe senkte sich kurz nach seiner Fertigstellung nach einer Seite hin, wurde aber von dem Herrn Bauinspector Haarmann – einem langjährigen Mitglied des Verwaltungsraths – in sehr erfindungsreicher Weise wieder gerade gerichtet. Im Jahre 1874 beschäftigte die Fabrik 5630 Arbeiter, die, größtentheils verheirathet, 8765 Angehörige ernährten und mit Hinzurechnung von circa 250 Beamten und deren Familien reichlich 15,000 Köpfe ausmachten.

Für verheirathete Beamte ist ein großes Beamtenhaus mit Etagenwohnungen der verschiedensten Größe erbaut. Für verheiratete Arbeiter sind Häuser nach den verschiedensten Systemen errichtet, in denen hunderte von Familien ihr Unterkommen finden und zwar zu Preisen, die eine Kündigung als Strafe erscheinen lassen. Für die Unverheiratheten ist durch den Bau eines großen Kost- und Logierhauses gesorgt, in welchem bei einfacher Belegung 1200 Mann beherbergt und in einem riesigen Saale gleichzeitig gespeist werden können. Für Kost und Logis bezahlt der Mann pro Tag 7 Silbergroschen (der niedrigste Lohnsatz im Jahre 1874 betrug 25 Silbergroschen, der durchschnittliche 38 Silbergroschen pro Tag).

Daneben besteht ein Consumverein der Fabrik, der an verschiedenen Verkaufsstellen gute und billige Nahrungsmittel und Kleidung liefert; in eigenen Bierschenken wird vorzügliches Bier 20 bis 33⅓ Procent unter dem sonst üblichen Preise verzapft.

Wenn heutigen Tages ein Reisender die Stadt Bochum besucht, so ist vielleicht das Einzige, was ihn noch an die Zustände von „Kaubaukum“ erinnern kann, die klägliche Verbindung, welche die Bergisch-Märkische Eisenbahn seit Jahren in Dortmund mit der großen Berlin-Köln-Pariser Route unterhält, obgleich sie z. B. auf ihrer Station Bochum-Riemke 1873 die anständige Summe von 806,839 Thalern an Personenbillets und Frachten gelöst hat.

Jedermann, der aus dem Osten kommt und statt der längeren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_543.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)