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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Land, stiegen in Flüsse und Weiher und wuschen den blinkenden Kiesel rein von Schlamm und Schlacke oder gruben tiefe Gänge in das krystallene Gestein. Im Herbst zogen sie reich beladen von dannen. Das Volk nannte sie Krystallgänger, Wahlen (Wälsche), Venetianer. Die modernen Thüringer Sommergäste stammen dagegen zumeist aus den Flachländern des deutschen Ostens und Nordens, und der Thüringer sieht sie weit lieber als jene, denn sie bringen ihm an gemünztem Golde wieder, was jene an ungemünztem davon getragen.

Daher liegen auch die Eingangsthore zu der Thüringer Bergfeste vornehmlich auf der Nord- und Ostseite, und eine der gesuchtesten Eingangspforten ist neben Eisenach die Stadt Arnstadt. Sage und Geschichte haben sie mit einem reichen Kranze ihrer Blüthen geschmückt; ihr äußeres Erscheinen hat sich vielfach noch seine Eigenart bewahrt. Ihre anmuthige Lage, ihre waldigfrische und doch wieder sonnig gemilderte Luft, ihre heilkräftigen Bäder laden den Fremden zur dauernden Fesselung, und neuerdings hat der Weltruf einer ihr zu eigen gehörenden gefeierten Dichterin, deren Schöpfungen mit ihrem Boden vielfach innig verwachsen sind, sie mit sonnigem Glanze bestrahlt. So erhebt sie sich aus dem Kreise des Gewöhnlichen.

In der That hat die Stadt zwei Gesichter. Mit dem einen schaut sie hinaus in die wellige Ebene, die sich von Thüringen bis zum Harze breitet, das andere aber blickt noch tief hinein in die Gründe des Thüringer Waldes, der ferne äußersten Vorposten bis zu ihren Füßen sendet. Die rasch dahinrauschende Gera ist ein echtes Kind der Berge. Ihre hellgrüne Welle bringt den Gruß von den Geländen des Schneekopfs, dessen Höhenzug den Hintergrund des Plaueschen Thales in Wechsel- und effectvoller Beleuchtung, malerisch abschließt. Dieser Plauesche Grund, wie ihn uns der Stift des Zeichners vergegenwärtigt, vereinigt in sich bereits die ganze eigenthümliche Scenerie des Thüringer Waldes. Da fehlen nicht die hohen sonndurchglitzerten Kirchenhallen des Buchenwaldes im Contraste zu den düstern Säulengängen der Fichten- und Kiefernwaldung, noch der grüne, saftige Wiesengrund, noch die lauschigen Seitenthäler, noch die Burgruine, um deren Trümmer sich der immer grünende Epheu der Sage schlingt. Das Städtchen Plaue, das ihm seinen Namen gegeben, trägt schon in dem dort vorzugsweise gepflegten Gewerbszweige, der Porcellanfabrikation, die Signatur des Thüringer Waldes. Das Thal hat früh schon seinen Sänger gefunden in dem Arzte W. Neubeck[WS 1], einem Sohne Arnstadts, der seine „arkadischen Hirtengefilde“ in schwellenden Alexandrinern feiert. Im Westen der Stadt, im Hintergrunde des großen Mittelbildes des unserem heutigen Artikel beigegebenen Tableaus, stehen die drei Burgwächter Thüringens, die drei Gleichen: vornan die Wachsenburg, die im modernisirten Gewande jetzt gastliche Herberge bietet, dann links die Mühlberger Gleiche, malerisch gelegen, aber am tiefsten verfallen, da aus dem Chaos der Trümmer fast nur noch der runde zinnengeschmückte Bergfried als letzter Zeuge fehdelustiger Tage hervorragt, und rechts im Hintergrund die Wandersleber Gleiche, die eigentliche Stammburg der Grafen von Gleichen, in deren Bogengängen und Verließen die blaue Blume der Romantik in reicher Fülle blüht.

Arnstadts Vergangenheit geht weit in unserer Geschichte zurück; bezeugt doch eine pergamentene Verbriefung von Walpurgis 704, daß schon zu dieser frühen Zeit der Ort existirte. In den Decembertagen des Jahres 954 wurde hier der Act der Aussöhnung zwischen dem großen Kaiser Otto dem Ersten und seinem aufständischen Sohne, sowie die Wahl des kaiserlichen Bruders Wilhelm zum Erzbischof von Mainz und zum Statthalter von Thüringen gefeiert. Arnstadt stand seitdem unter der Botmäßigkeit der dem Mainzer Bisthume zugehörigen Abtei Hersfeld, die auf der Wachsenburg eine Art Zwinguri errichtet hatte. Im Jahre 1197 geschah hier die Vorwahl Philipp’s von Schwaben zum deutschen Kaiser und nach dessen Tode die Anerkennung des seitherigen Gegenkönigs, des Welfen Otto von Braunschweig, durch die sächsisch-thüringischen Fürsten.

Seit der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts finden wir die Hoheit über Arnstadt zwiefach getheilt. Ueber die eine Hälfte gebot noch die Abtei Hersfeld, über die andere die Grafen von Kefernburg. So trug die Stadt halb ein geistliches, halb ein weltliches Gewand. Die Burg der Grafen von Kefernburg lag nur eine halbe Stunde von der Stadt. Die Kefernburger waren ein altes mächtiges und wohlbegütertes Geschlecht, das seine Ahnherren unter den Heerführern Attila’s suchte, aber schon 1388 ausstarb.

Seitdem blieb ihr altes Stammschloß verödet. Regen und Sturmwind schlossen gemeinsam den Bund zu seiner Zerstörung, und zuletzt trug die nüchterne Zeit auch noch den letzten Stein von dem freiliegenden Hügel. Noch vor dem Aussterben der Kefernburger Grafen war Arnstadt durch Kauf an die Grafen von Schwarzburg gekommen. Auch der Abt von Hersfeld gab seine Hälfte an sie dahin, und die Stadt verblieb seitdem beim Hause Schwarzburg und zwar zuletzt bei der Sondershäuser Linie. Unter diesen in Arnstadt residirenden Schwarzburger Grafen tritt uns vor Allem die leuchtende, ritterliche Gestalt Günther’s des Einundzwanzigsten entgegen, der eine kurze Zeit die Krone Deutschlands trug.

Im Jahre 1560 hielt Günther der Streitbare mit Katharina von Nassau, einer Schwester Wilhelm’s von Oranien, in dem von ihm erbauten Schlosse zu Arnstadt ein hochzeitliches Beilager ab, das die immensen Ziffern des dabei Genossenen zu einem chronikalischen Curiosum gemacht haben. Noch ruht der Segen vieler städtischen Stiftungen auf dem Andenken des fürstlichen Ehepaares.

Mit dem Aussterben eigener Fürsten kam auch das Arnstädter Schloß, das schon unter den Kefernburgern als Schloß Neideck bestand, in Verfall und wurde allmählich zu jener malerischen Ruine, die unser heutiges Bild zeigt. Nur der seltsam geformte hohe Thurm mit seinem Freigeländer blieb noch unversehrt. Der Schloßgarten war sonst ein „Klein-Trianon“. Namentlich fehlten darin nicht die wälschen Wasserkünste mit ihren neckischen Ueberraschungen. Da gab es Grotten, welche den ahnungslos Eintretenden mit einem Bade überschütteten, einladende Rasenbänke, die den sorglos Niedersitzenden unversehens unter Wasser setzten. Eine Stelle im Parke hieß das Maienfest. Dort pflanzte nach einem alten Brauche jeder fürstliche Thronerbe im achten Jahre eine Linde. (Siehe das erste Capitel der Marlitt’schen Erzählung. „Die zweite Frau“.) Das Alles haben nur die alten prachtvollen Linden überdauert.

In gleicher Verödung, aber nicht den Schlaf des Todes, sondern nur den Erstarrungsschlaf Dornröschens schlafend, harrend und gewärtig seiner Wiedererlösung, liegt auch das edelste Kleinod der Stadt, das stolze Denkmal mittelalterlicher Bauherrlichkeit, die Liebfrauenkirche, nicht hoch und dominirend, wie die meisten Heiligthümer der Hierarchen-Herrschaft, sondern tief versteckt in einer Senkung des Terrains, da „wo die letzten Gäßchen steil den Berg hinan klettern“. Die Liebfrauenkirche wurde zum befruchtenden Keime für die schlummernde Gestaltungskraft einer Marlitt, zur scenischen Basis ihrer reizenden zuerst veröffentlichten Erzählung „Die zwölf Apostel“.

Der zierliche Dom hat verschiedene bauliche Metamorphosen durchlebt, die ihn zum würdigen Gegenstande einer Baukunststudie machen. Anfangs wohl nur eine schlichte Capelle im prunklosen Stile der ersten christlichen Kirchen, wie das ein paar Fenster im Mittelschiffe zu bezeugen scheinen, gegründet, wie es heißt, zu Ehren der Bischofswahl Wilhelm’s von Mainz, erweiterte sie sich später zur romanischen Basilika, die noch jetzt die Grundform bildet, bis eine noch spätere Zeit einen Hauptchor im rein gothischen Spitzbogenstile hinzufügte und auch sonst noch die Gothik ihre Zierrathen von halb neckischer, halb geheimnißvoller Symbolik überall anbrachte, wie überhaupt an Fenster und Portal sich Rund- und Spitzbogen vielfach den Rang streitig machen. Von den zierlichen Thürmen ist gleichfalls der westliche älter als der östliche. Der letztere ist eine wahrhafte in Stein ausgeführte Filigranarbeit. Die Sage, welche in der mannigfachsten Gestalt das alte Bauwerk durchschwirrt, sich an Knauf und Simse hängt und im Dämmerlichte der Seitencapellen kauert, nennt den zierlichem der beiden Thürme das Werk eines Gesellen, den der über den künstlerischen Obsieg seines Gehülfen erzürnte und beschämte Meister, der Erbauer des weniger zart ausgeführten andern Thurmes, mit hinterlistiger Rede hinauf auf den Thurm gelockt und beim Hinausblicke aus dem Fenster in die Tiefe gestürzt haben soll. Sein Hündlein, treuer als der treulose Meister, ist dem Stürzenden nachgesprungen. Das Wahrzeichen dieser sündigen Blutthat hat der arge Meister dann hoch am Thurmfenster selbst im Steine versinnlicht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: W. Neubert
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_538.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)