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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


versucht, daß die ganze Natur von einer Macht durchdrungen sei, die in ihrem Wesen und ihrer Thätigkeit sich am entsprechendsten mit Wesen und Thätigkeit der menschlichen Phantasie vergleichen läßt, und daß diese Macht oder Gestaltungskraft es sei, durch welche im unendlichen Proceß der Natur endlich auch der Mensch und insbesondere der Menschengeist seinen Ursprung genommen hat.

Sehr verwundern, ja schmerzlich berühren muß es, wahrzunehmen, mit welch leichtgläubiger oder abergläubischer Begierde sich das katholische Volk und selbst auch Leute aus dem gebildeten oder wenigstens vornehmen Stande zu solchen Wunderorten hindrängen und wie nichts so abenteuerlich, widersinnig und abgeschmackt sein kann, daß es nicht blinden und fanatischen Glauben findet. Indeß muß man bedenken, daß in der menschlichen Natur ein ungemein starker Hang zum Aberglaube liegt, wie die ganze Religionsgeschichte zeigt und wie selbst sonst aufgeklärte Menschen in lächerlichen Kleinigkeiten so oft bekunden. Dazu kommt noch, daß das katholische Volk von früher Jugend an leider gerade in dieser Beziehung durch religiösen Cultus und Unterricht zu besonderer Empfänglichkeit ausgebildet wird. Ueber dies haben die Menschen ein natürliches Verlangen, einen Blick in das dunkle Jenseits zu thun oder wenigstens auf leichte Weise aus demselben wunderbare Hülfe in der Noth ihres Lebens zu erlangen oder (bei vornehmeren Ständen) sich die Langeweile vertreiben zu lassen. Wie die Noth oder die Habsucht die Menschen verblendet, daß sie in ihrer Begierde nach Hülfe oder reichlichem Gewinn die gewöhnlichste Ueberlegung außer Acht lassen, selbst die offenbarste Unmöglichkeit nicht wahrnehmen und blindlings dem Schwindel zum Opfer fallen, so ist dies auch bezüglich der Vortheile der Fall, welche sie durch Wunder zu erreichen hoffen. Außerdem aber kommt endlich noch ein Umstand in Betracht. Schon im Alterthume haben die Völker sich die heilsamen, beglückenden, segnenden Kräfte und Gaben der Natur durch ihre lebendige Phantasie persönlich vorgestellt und sich nahe gebracht. So ward die erquickende oder heilende Kraft der Quellen zum Beispiel in Nymphen, Göttinnen etc. in ähnlicher Weise vorgestellt, wie jetzt die heilende Kraft derselben als Gabe ober Wirkung der Madonna der Volksphantasie vorschwebt. Es verdient ernste Erwägung, wie bei einer Neugestaltung der Religion, welche den wissenschaftlichen, sittlichen und ästhetischen Fortschritten der Zeit Rechnung trägt, dieser Gabe und diesem Drange der menschlichen Natur eine der Vernunft entsprechende, wahrhaft hebende und veredelnde Befriedigung gesichert werden kann. Die Schule aller Stufen hat hier unbedingt eine große Rettungsaufgabe, und es darf mit der Vollführung derselbe wahrlich nicht gesäumt werden, wenn man den verdammenswürdig frevelhaften und schamlosen Eifer sieht, welcher von der clerikalen Presse jetzt so beharrlich auf die Pflege und Förderung des haarsträubendsten Gespensterglaubens, des tollsten und rohesten Wunder- und Teufelsspuks verwendet wird.




Originale.
Aus den Aufzeichnungen eines alten Militärs.
I.

Originale, wie man sie noch vor einem halben Jahrhundert in allen Gesellschaftsschichten in einzelnen Exemplaren finden konnte, stehen heutzutage vollständig auf dem Aussterbe-Etat; der Realismus und Materialismus beherrscht die Zeit und bietet für sie keinen Boden mehr. – Originale, welche, besonders in größeren Städten, noch vor fünfzig bis sechzig Jahren ungestört ihr Wesen treiben konnten und mit einer gewissen pietätvollen Rücksicht selbst von der goldenen Straßenjugend behandelt wurden, würden jetzt als Caricatur verhöhnt und verlacht werden und sehr bald vom Schauplatz verschwinden müssen. – Wir glauben, daß selbst so geistreiche Originale, wie weiland Hoffmann und Devrient, heutzutage schwerlich ein solches unantastbares Heiligthum finden würden, wie sie es im zweiten Decennium dieses Jahrhunderts in dem durch sie historisch gewordenen Eckstübchen am Gensd’armenmarkt in Berlin, bei Lutter und Wegener, gefunden und als Hohepriester beherrscht haben.

Es ist eben die Zeit eine andere geworden, und mit ihr hat auch das ganze gesellschaftliche Leben eine andere Richtung gewonnen. Die hohe Politik, die Speculation und leider auch – der Schwindel sind die Hauptfactoren, mit welchen die heutige Gesellschaft rechnet. Die Welt ist zu rationell geworden, und der Idealismus der Neuzeit ist entweder zu ernst oder zu ausschweifend, um auch dem Humor der Originale einige Geltung verschaffen zu können.

Vielleicht ist es nicht uninteressant Einzelnes aus dem Leben, Denken und Handeln solcher origineller Existenzen zu vernehmen. Wir wollen, ohne grelle Farbentöne zu benutzen, Episoden aus dem Leben einiger Sonderlinge mit historischer Treue vorführen, wobei wir ausdrücklich bemerken, daß wir nur von solchen sprechen, die uns persönlich bekannt wurden, und daß wir nichts fingiren. Der Vorwurf der Indiscretion kann uns nicht treffen, da die handelnden Persönlichkeiten längst heimgegangen sind.

Einige Originale leben mir noch aus den Berliner Jugendjahren in der Erinnerung; mögen sie hier zuerst ihren Platz finden !

Ein Sonderling durch und durch war ein alter pensionirter Rittmeister, in steter Begleitung seines ungefähr in gleichem Alter befindlichen ehemaligen Wachtmeisters. Jeden Nachmittag, ohne Ausnahme, präcis fünfzehn Minuten vor zwei Uhr, im Winter und Sommer, gleichviel ob bei Sonnenschein, Regen oder Schneegestöber, traten die Dioskure aus einem kleine Hause der Poststraße, der bescheidenen Garçonwohnung des Rittmeisters, um ihre gemeinsame Wanderung nach einem sich nie ändernde Ziele anzutreten.

Mein Weg zum Joachimsthalischen Gymnasium, welches ich damals als Obertertianer besuchte, führte mich an der Wohnung des alten Rittmeisters vorüber; der Sohn seines Wirthes war ein Classencollege und Freund von mir, und ich rief ihn in der Regel zum Schulgange ab. Einer Uhr bedurften wir nicht, um pünktlich zu sein; dafür sorgte der alte Herr, denn so wie die drei Viertelschläge vom nahen Nicolaikirchthurme ertönten, überschritt der Rittmeister und hinter ihm sein unzertrennlicher Begleiter, der Wachtmeister, die Hausthür. Letzterer war wenige Minuten früher in das Haus und ganz militärisch, ohne anzuklopfen, in das Zimmer seines strengen Gebieters getreten, wo er in dienstlicher Haltung nur die Meldung machen durfte: „Es ist Zeit, Herr Rittmeister,“ worauf dieser erwiderte: „Gut, Wachtmeister.“ Nun kamen sie mit schweren Schritten die Treppe herab, um die beregte Wanderung zu beginnen. Waren Beide auch nicht in Uniform, so war doch ihr Anzug und ihre Haltung so uniform und eigenartig, daß sie wohl der Beschreibung werth sein dürften. Langer blauer, fast bis zum Halse zugeknöpfte Tuchüberrock, steife sehr schwarze Halsbinde ohne jeden weißen Vorstoß, bis zum Knie reichende Reiterstiefel mit schweren Sporen, die des Rittmeisters von Silber, die des Wachtmeisters von Stahl, blaue Militärmütze mit großem Schirm und dito Cocarde, weiße waschlederne Handschuhe, in der rechten Hand ein starkes spanisches Rohr, in der linken eine halblange Pfeife mit silberbeschlagenem Meerschaumkopfe. Schirm oder Mantel waren selbst bei stärkstem Regen oder strengstem Froste verpönt.

So pilgerten die Unzertrennlichen schweigend in gravitätischer Haltung, der Wachtmeister einen Schritt links von seinem Gebieter, doch etwas zurück, in gemessenem Schritte durch die Post- und Königsstraße, über den Alexanderplatz, durch die Frankfurter Linden zum Frankfurter Thor hinaus, bis zu einem Etablissement, die „Neue Welt“ genannt. Hier versammelte sich alltäglich in einem reservirten Zimmer eine Anzahl alter Herren, den gebildeten Ständen angehörig, als Stammgäste, um bei einer „kühlen Blonden“, dem renommirten Berliner Weißbier, und einer Pfeife Knaster die Stadtneuigkeiten zu besprechen, Familienklatsch zu treiben, oder mit großer Vorsicht zu kannegießern, denn politische Meinungen äußern war damals ein gar gefährlich Ding. Anderen Genüssen gab man sich nicht hin, es sei denn, daß dieser oder jener der Herren so extravagirte, daß er auf die genossene „Stange“ – die Bezeichnung für die hohen schlanken Gläser, in welchen das schäumende Weißbier credenzt wurde – noch einen kleinen Kümmel setzte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_167.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)