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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

den Vereinigten Staaten eine ganz enorme Schuldenlast aufgebürdet, zu deren Abtragung sich bald genug schwere und drückende Steuern notwendig machten. Eine der einträglichsten Steuern uber war diejenige, welche die Branntweinbrennereien, mochten dieselben groß oder klein sein, traf. Nun gab und giebt es noch in den wilden Wald- und Bergdistricten der Staaten Georgien, Nord- und Süd-Carolina, Kentucky und Tennessee sehr viele kleine Farmer, die, abgeschlossen von den civilisirteren Gegenden ein verhältnißmäßig äußerst einsames Leben führen. Eisenbahnen, Kanäle und schiffbare Flüsse findet man in den genannten Districten wenig oder gar nicht. Die Einwohner sind, wenige Ausnahmen abgerechnet, Ackerbauer, die vorzugsweise Heu und Mais produciren, da das Klima den Anbau von Tabak und Baumwolle nicht gestattet. Mit dem Heu füttern sie ihr Vieh, von dem sie einen Theil nach den größeren Städten treiben und daselbst um einen geringen Preis verkaufen; aus dem von ihnen gebauten Mais aber, den sie mit ihren Familienmitgliedern nicht verzehren, bereiten sie seit undenklicher Zeit Branntwein, denn die Quantität des nicht für den Hausgebrauch und zur Saat nötigen Mais ist so unbedeutend, daß es sich wegen der hohen Transportkosten kaum lohnt, den Ueberschuß auf den Markt zu bringen. Die zur Fabrikation des Whiskey oder sonstiger Spirituosen nothwendigen Destillirgeräthschaften sind in der Regel klein und werden von den erwähnten Farmern ohne große Schwierigkeit nach wenig besuchten, von reißenden Bergflüssen durchströmten Gegenden gebracht, wohin sich die Steuerbeamten der Union nur selten verirren.

Wenn Letztere indeß diese Verstecke dennoch ausgekundschaftet haben und die betreffende Steuer einziehen wollen, so flüchten die Branntwein brennenden Farmer, denen der Volksmund wegen des von ihnen im Geheimen und mit Umgehung des Gesetzes betriebenen Geschäfts den Beinamen „Mondscheinleute“ gegeben hat, mit ihrem Destillirapparate in die wildzerklüfteten Felsschluchten, wo es an schwer zugänglichen Zufluchtsorten nicht fehlt. Folgen ihnen aber die Vertreter des Gesetzes auch bis in diese letzten Schlupfwinkel, so entspinnt sich nur zu häufig ein blutiger Kampf, der oft in ein förmliches Gefecht ausartet, da die „Mondscheinleute“ wohl bewaffnet sind, nach Tausenden zählen und fest zu einander stehen. So lange das Branntweinsteuergesetz in den Vereinigten Staaten existirte, sind Conflicte dieser Art vorgekommen; in der jüngsten Zeit wiederholen sich dieselben in einer wahrhaft beunruhigenden Weise, und fast gewinnt es den Anschein, als ob die Unionsregierung sich bald gezwungen sehen wird, mit entsprechender Militärmacht dem Unwesen zu steuern.

Es ist in der That ein hartes, eigenwilliges und noch dazu leider sehr unwissendes Geschlecht, dieses Bergvolk in den genannten Südstaaten der Union, rauh und unzugänglich, wie die Bergzüge, die es bewohnt. Es führt nicht allein den Pflug, sondern weiß auch die Büchse meisterlich zu gebrauchen, und seine Wälder bergen nicht nur ungefährliches Wild, sondern auch Raubthiere böser Art. Während des Bürgerkrieges sympathisirte es im Ganzen mit dem freien Norden, seit Einführung der Branntweinsteuer aber, in der es nichts Anderes als eine drückende und tyrannische Gewaltmaßregel erblickt, ist diese Sympathie geschwunden. Man wähnt sich von der Union schwer gemißhandelt und hält sich daher zu revolutionärem Widerstande für berechtigt. Sowohl der Expräsident Grant, wie dessen Amtsnachfolger Rutherford B. Hayes haben den „Mondscheinleuten“ Amnestie versprochen, sobald sie vor Gericht erscheinen, ihre Schuld bekennen und Besserung versprechen würden. Einmal kamen auch mehr als sechshundert dieser Gesetzübertreter nach der Stadt Atlanta in Georgien und gelobten sich zu bessern. Aber sobald die Maisernte vorüber war, nahm das gesetzwidrige Branntweinbrennen wieder seinen Anfang. Unter solchen Umständen ist auf eine dauernde Besserung der „Mondscheinleute“ wohl nicht zu hoffen, bis die Unionsregierung mit starker Hand dem Gesetze Achtung verschafft, oder die Steuer fällt.

R. Doehn.


Der Stolz der Familie. (Zu dem Bilde S. 113.) Es ist eine noch wenig bemerkte culturgeschichtliche Beobachtung, daß sich das jeweilige Verhältniß der Völker zu den Fürsten immer auch in dem Verhältniß der Kinder zu ihren Eltern wiederspiegelt. Die letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in welcher der patriarchalisch-absolutistische Geist auf den Thronen den Höhepunkt seines Selbstbewußtseins erreichte, in welcher die Anrede „Er“ für den Niedrigerstehenden die größtmögliche Erweiterung der Kluft zwischen ihm und dem Höherstehenden bezeichnete, – diese letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist zugleich durch die tiefste Unterordnung der Kinder unter die Autorität der Eltern und das höchste Autoritätsbewußtsein der letztern bezeichnet. Das war die Zeit, da die Kinder den Eltern die Hand küßten und dieselben mit „Sie“ anredeten selbst bis in die untersten Stände hinab, die Zeit, in welcher es für ein strafwürdiges Vergehen galt, wenn die Kinder etwas besser wissen zu wollen, klüger zu sein sich erdreisteten als ihre Eltern. Aus jener Zeit ist die bekannte Formel für eine strafende Abweisung solcher Ueberhebung auf uns gekommen. „Das Ei will klüger sein als die Henne.“

Die demokratische Umwandlung des folgenden halben Jahrhunderts hat auch die Eltern den Kindern wieder genähert, die äußeren Zeichen unterwürfiger Devotion sind geschwunden, und wenn bei uns auch nicht, wie in dem eingefleischt republikanischen Amerika, die Jugend sich des Besitzes ihrer Freiheit bis zu dem Grade erfreut, daß sie zur Verteidigung ihres Willens über Revolver verfügt, so ist ihr doch nicht nur nicht verwehrt, klüger zu werden als die Eltern – im Gegenteil, der Wettkampf der entfesselten Kräfte hat es zum Ziel elterlicher Sehnsucht gemacht, von seiten der Kinder ein Maß an Kenntnissen und Bildung errungen zu sehen, welches jenen zu erreichen verwehrt war. Zu keiner Zeit hat die Schule eine solche Bedeutung gehabt, eine solche Förderung erfahren, und zu keiner Zeit haben die Eltern mit der nämlichen Aengstlichkeit die Leistungen ihrer Kinder verfolgt, wie jetzt. Welch ein Kummer, wenn der Sohn zu den unfähigen, welcher Stolz, wenn er zu den besten gehört!

Unser Künstler hat dieser letzteren Empfindung den sprechendsten Ausdruck gegeben. Wohlgefälliger, breiter, behäbiger kann dieser Stolz auf das jugendlich aufgehende Familienlicht, welches da voll feiner Lesefertigkeit vor dem großelterlichen Besuch Zeugniß ablegt, sich nicht geben, als in Haltung und Miene des glücklichen Vaters, verklärter seine Bewunderung des kleinen Hausgötzen nicht ausdrücken als im Antlitz der Großmutter, und wenn man das, was dem würdigen Alten auf den Lippen schwebt, mit zwei Worten sagen wollte, die wir ebenso gut zur Unterschrift unseres Bildes hätten wählen können, so würden diese zwei Worte lauten: „Ein Teufelsjunge!“

 Darwin.
     (Zum 12. Februar 1879.)

Wie es die kühnsten Bergesriesen wagen,
Hoch über andere emporzustreben,
So seh’ ich in der Menschheit Geistesleben
Titanisch hoch ob Vielen Darwin ragen.

Die auf dem Götterbild zu Saïs lagen,
Die Schleier wagte er emporzuheben,
Und nieder sank er nicht vor ihm mit Beben:
Er hat der Wahrheit Anblick stolz ertragen.

Die Muth’gen rief er zu des Tempels Stufen
Und kündete, was er geschaut, verweg’ner
Als Hutten sein: „Ich hab’s gewagt!“ gerufen.

Des Aberglaubens Dunkel ist gelichtet,
Und damit hat des Wunders größter Gegner
Das größte Wunder aller Zeit verrichtet.

Alois Wohlmuth.


Der Storch als Lastthier. In Nr. 42 des vorigen und in Nr. 5 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ ist der schönen Volkserzählung gedacht worden, daß der Storch und andere große Wandervögel kleinere Singvögel, die keine besonderen Flugvirtuosen sind, auf den Rücken nähmen und in das Land ihrer Sehnsucht trügen. Es wäre eine allerliebste Geschichte, besonders wenn man annehmen könnte, daß der Storch die Last willig auf sich nähme, um sich durch die Lieder seines Passagiers die Zeit bei dem Fluge über weite Wasser- und Landwüsten vertreiben zu lassen. Möglich, daß dieser Geschichte etwas Wahrheit zu Grunde liegt, vorläufig mag darauf hingewiesen werden, daß man sie sehr vorsichtig aufzunehmen hat, einmal, weil sie in die Kategorie der Storchsagen gehört, und dann auch, weil sie an anderen Orten und mit Nebenumständen erzählt wird, welche deutlich auf eine Naturdichtung hinweisen. Schon der ältere Darwin kannte diese Geschichte und theilte sie in seiner 1794 erschienenen Zoonomia, ohne sie zu glauben und nur zum Vergnügen der Leser mit. „Gmelin“, erzählt er, „beobachtete in der Nachbarschaft voll Krasnojarsk (in Sibirien) zwischen verschiedenen anderen wandernden Wasservögeln eine große Menge Rallen, welche, wenn sie verfolgt wurden, niemals aufstoben, sondern durch schnelles Laufen zu entkommen suchten. Wir sprachen davon wie diese Vögel, welche nicht fliegen, im Winter nach anderen Himmelsstrichen gelangen könntest, und sowohl die Tataren als die Assanier berichteten uns, daß sie wohl wüßten, daß die Vögel nicht allein in andere Länder ziehen könnten, sondern daß, wenn die Störche im Herbste zögen jeder derselben eine Ralle auf seinen Rücken nähme und sie so in wärmere Klimate trüge.“ Man sieht, die Störche bekämen viel Gepäck, wenn sie alle schlechten Flieger huckepack nehmen sollten, und wenn sie sich auch allenfalls den leichten und kurzweiligen Sänger gefallen lassen könnten, dürften sie sich die vielleicht doppelt so schwere Ralle wohl verbitten. Auch haben die Rallen, Wachtelkönige und alle Sumpfhühner, die ebenso gut laufen wie schwimmen können, keinen genügenden Vorwand, sich geduldigen Lastthieren aufzudrängeln, die am Ende mit sich selber zu tun haben. Wahrscheinlich wandern diese Thiere des Nachts und zu Fuße, und die Sage ist eben nur dadurch entstanden daß man sie nicht oft fliegen sieht und doch ihre Wanderungen wahrnimmt. Auch mag der schwarze Saum der Storchflügel aus der Ferne die Täuschung begünstigen, als ob beim Auffliegen ein dunkles Thier auf den weißen Rücken steige und beim Niederlassen davon herabgleite, in der Höhe wird man den Reiter schwerlich jemals wahrnehmen. Diese Erwägungen widerlegen die hübsche Geschichte nicht, aber sie mahnen zur Vorsicht.

C. St.


Kinderverkauf! – Zu welchen Opfern fähig, oder – wie hartherzig die Noth machen kann, dafür spricht ebenso ergreifend wie empörend ein „Aufruf an mildtätige Menschen“, der uns zur Veröffentlichung eingesandt wurde. Wir können nicht umhin, ihn als ein Zeichen der Zeit abzudrucken, keineswegs im Sinne der Einsender. Er lautet:

„Eine durch die Ungunst der Zeitverhältnisse sehr gedrückte Familie beabsichtigt nach Amerika auszuwandern, und da ihr die Mittel gänzlich fehlen, wäre sie gern erbötig, zwei von ihren fünf Kindern, im Alter von vier bis zwölf Jahren, an rechtschaffene kinderlose Eheleute gegen einmalige Abfindung an Kindesstatt abzutreten zur Bezahlung der Ueberfahrtskosten.“ (!)


Kleiner Briefkasten.


P. B. in R. Zur Entzifferung unleserlicher Manuscripte fehlt uns jede Zeit. Möge man alle uns zugedachten Beiträge so deutlich wie möglich schreiben!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_124.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)