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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


die alte und für die neue Regierung – der ältere nicht, weil er viel zu sehr vorsichtiger Handelsmann war, um sich bloßzustellen, Luigi aber, weil er sich gar nicht im Lande befand, sondern in Geschäften in Oberitalien weilte.

Da brachte der Pfarrer von Anagni großes Unglück über seine Gemeinde. Ein fanatischer Anhänger der päpstlichen Regierung, bekämpfte er die neue Ordnung der Dinge mit allen Mitteln; von der Kanzel herab hetzte er gegen die Republikaner als vogelfreie Feinde des Glaubens, forderte unter Verheißung himmlischen und materiellen Lohnes zur Ermordung der Triumvirn und Regierungsagenten auf und verfolgte mit Hülfe der von ihm herbeigeführten neapolitanischen Truppen alle Freidenkenden auf das Leidenschaftlichste. Diesem verrätherischen Treiben machte die Regierung der Republik indeß bald durch energische Maßregeln ein Ende: sie ließ den wüthenden Pfaffen einziehen, der durch das über ihn eingesetzte Kriegsgericht zum Tode verurtheilt ward.

Als nun die Republik mit Hülfe Frankreichs erwürgt worden war und die wuthschnaubende Reaction ihr barbarisches Rachewerk begann, indem sie das arme Volk die wenigen freien Augenblicke mit gesteigerter Sclaverei und mehr als anderthalb tausend Henkersopfern bezahlen ließ, da mußte natürlich auch die „sacrilegische Ermordung“ jenes Pfaffen exemplarisch gesühnt werden. Und da die Mitglieder jenes Kriegsgerichts den als Henker fungirenden „hochwürdigen Inquisitoren“ unerreichbar waren, so hielt man sich an die gänzlich unschuldigen Zeugen, die vor dem Kriegsgericht die incriminirten Handlungen des Pfaffen hatten constatiren müssen und die man nun als „Anstifter des Mordes“ theils auf’s Schaffot, theils auf die Galeere schickte. Auch der ältere Boticelli und sein Sohn wurden zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurtheilt. Aber an dieser Rache hatten die milden Priester-Richter noch nicht genug; nach altbiblischer Praxis mußte auch die ganze Sippe der „Verbrecher“ mit büßen.

Als der mit allem Vorgegangenen unbekannte Luigi, der nach der Wiedereinsetzung des Papstregiments absichtlich mit der Rückkehr gezögert hatte, bis er ruhigere Zustände anzutreffen glaubte, heimkehrte, ward auch er, ohnedies als Freigeist bekannt, gefaßt und über Jahr und Tag im Kerker gehalten. Inzwischen ging ihm sein Geschäft zu Grunde; sein Weib starb aus Gram, und seine Gesundheit ward durch seelisches Leiden und körperliches Entbehren untergraben. Endlich war er frei; auch die gewissenlosesten Richter hatten ihm keine Schuld nachzuweisen vermocht. Aber da die Regierung seine Rache fürchtete, wies sie ihn unter vagen Vorwänden aus dem Lande.

Luigi ergriff den Wanderstab und zog mit seinem Töchterchen bettelarm in die Fremde. Aber obgleich ihm keine Arbeit zu hart war, wollte es ihm nicht glücken, sich und sein geliebtes Kind auskömmlich durch’s Leben zu bringen, und Beide führten länger als ein Jahrzehnt ein entbehrungsvolles Leben, bis Boticelli von einem Verwandten das Gütchen am Bolsenersee erbte, aus dessen Erträgnissen nun Vater und Tochter verhältnißmäßig sorgenlos lebten – von der Regierung stillschweigend geduldet.

Das Andenken an alles Erlittene, an sein vor Jammer gestorbenes Weib, den lebendig begrabenen Bruder und Neffen, der Kummer über das Elend und die Aussichtslosigkeit der Zustände – all das hatte Boticelli verbittert und verschlossen gemacht. Dazu wußte er sich von den zwar unzufriedenen, aber abergläubischen, beschränkten und gedankenlos dahinlebenden Bauern nicht verstanden. Hätten er und seine trotz ihrer Jugend gleichgesinnte Tochter aber auch nicht schon aus diesen Gründen ein Bedürfniß nach Zurückgezogenheit gefühlt, so hätte sie schon die Polizei, unter deren strenger Aufsicht sie standen und die jedes freie Wort, jede Verbindung mit anderen Verdächtigen zu neuen Verfolgungen benützt hätte, dazu gezwungen.

Trotz der Einsamkeit indessen, in welcher der „gelehrte“ Boticelli – wie ihn die Bauern, denen er allerdings an Verstand, Kenntnissen und Erfahrungen weit überlegen war, hießen – und seine Tochter lebten, hatte es der letzteren an Freiern keineswegs gefehlt; denn Domenica war von großer Schönheit, und von ihrer Rührigkeit zeugten Haus und Feld, die besser gehalten waren, als man es weit umher kannte. So waren denn manche Bursche und selbst vermögliche Pächter auf Freiersfüßen zu dem Häuschen am See gewandert, aber freilich nur, um mit abschlägigen Antworten wieder von dannen zu ziehen. Denn Domenica, die von Kindesbeinen an in des Vaters Ideenkreis eingeweiht worden war und ihren Vater hochschätzte, hatte keinen Mann kennen gelernt, der ihr neben ihm so achtenswerth erschien, daß sie seine Lebensgefährten hätte sein wollen. –

Solcher Art waren unsere neuen Bekannten.

Anfänglich zeigte sich freilich sowohl Boticelli wie seine Tochter zurückhaltend gegen uns – waren wir doch Werkzeuge der Regierung, von denen kaum Gutes zu erwarten war. Aber in dem Maße, in welchem wir gegenseitig unsere Anschauungen kennen lernten, traten wir einander näher, und wir Freunde suchten öfter und öfter das Landhaus auf, in welchem wir stets freundlich empfangen wurden.

Nicht am wenigsten zog uns die schöne Domenica an, deren gewinnendes Wesen uns Alle erfreute, unsern Freund Werner aber vollständig bezauberte. Auch Domenica’s Auge ruhte mit Wohlgefallen auf der markigen Gestalt des jungen Westfalen, und bald umschlangen Beide süße, beglückende Bande. Wohl sprachen sie von ihrem Glück viel weniger, als es sonst Liebende thun, denn die Geheimnisse der melodischen Sprache Dante’s und Boccaccio’s hatten sich Werner nur in bescheidenem Maße erschlossen, und Domenica vermochte gar von dem Idiom ihres „Guarino“ kaum den Namen auszusprechen; aber auch schweigend genossen sie das Glück zarter Liebe in vollen Zügen.

Als unsere häufigen Besuche bei Boticelli in der Gegend bekannt wurden, wuchs die Mißstimmung gegen ihn, besonders aber fühlten sich die einst abgewiesenen Freier Domenica’s dadurch verletzt, daß ihnen ein Fremder vorgezogen worden. Am aufgebrachtesten zeigte sich ein gewisser Castelvetri, ein häßlicher, tückischer Kerl. Zu Allem fähig, nur zu keiner ehrlichen Arbeit, war er, nachdem er alles Mögliche getrieben und seines Bleibens nirgend gewesen als eine zeitlang im Zuchthaus, wohin ihn seine Sicherheitsgefährlichkeit gebracht, unter die Sbirren (Gensd’armen) gegangen, wo für Leute seines Schlages der passende Ort um eine Carrière zu machen war. Die allgemeine Verachtung, welche auf seinem Schergenamt ruhte, genirte ihn wenig; war er doch nun der Mächtige, der die ihm Widerstrebenden unter seinen Willen beugen und sie nach Herzenslust schinden und drücken konnte, was er denn auch selbstverständlich nicht versäumte. Dieses elenden und rachsüchtigen Charakters halber, sowie wegen seiner ausgedehnten Macht, zu schaden, war Castelvetri in der ganzen Gegend gefürchtet, was aber Domenica doch nicht hatte abhalten können, seine ungestümen Bewerbungen energisch abzuweisen.

Als nun der Sbirre, dessen Leidenschaft durch seinen Mißerfolg nur noch stärker geworden war, von Werner’s Verhältniß zu Domenica vernahm, gebärdete er sich wie rasend, stieß die wildesten Verwünschungen und Drohungen aus und sann Tag und Nacht auf Rache an Domenica und ihrem Vater, während er sich gegen uns hündisch kriechend zeigte. Da die römischen Sbirren sich fast jede Gewaltthätigkeit gegen das Volk ungestraft erlauben durften und Castelvetri das Schlimmste zuzutrauen war, so war die äußerste Vorsicht und Wachsamkeit für unsere gefährdeten Freude in dem einsamen Haus am See nöthig. Wir sprachen, besonders gelegentlich unserer zahlreichen Patrouillen, noch öfter als bisher und zu jeder Tageszeit bei Boticelli vor, um ihm unsern Schutz gewähren zu können, außerdem aber nahm Boticelli einen entfernten Verwandten, Namens Ambrogio, als Knecht in’s Haus. So glaubten wir unsere Freunde vor der Rachsucht des Gensd’armen geborgen, ließen indeß in unserer Aufmerksamkeit keine Verminderung eintreten.

Eines Nachts kamen wir, von einem ermüdenden Streifzug durch die Berge zurückkehrend, in einiger Entfernung an Boticelli’s Haus vorbei, dem wir jedoch, sowohl der späten Nachtstunde wie unserer Ermüdung wegen, die uns den Umweg scheuen ließ, keinen Besuch abstatten wollten; wir marschirten deshalb trotz lebhaften Widerspruches von Seiten Werner’s direct auf Montefiascone los. Eben waren wir daran, in eine Schlucht einzutreten, in der das Haus am See unserer Wahrnehmung entzogen gewesen wäre, als von dorther plötzlich der gellende Angstschrei eines Mannes ertönte, dem weibliche Hülferufe und verworrene Stimmen folgten. Im Flug war all unsere Ermattung verschwunden, und wir eilten, so schnell es die Dunkelheit und der von Wurzeln und Schlingpflanzen überwachsene Weg gestattete, auf Boticelli’s Besitzung zu.

Da – als wir gerade dicht vor der Hausthür angelangt waren – ward dieselbe von innen gewaltsam aufgerissen und unsern Augen bot sich ein Bild, das uns einen Augenblick erstarren machte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 687. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_687.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)