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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Kammerberichte der Zeitungen zu bringen, glücklich erreicht ist. In einer solchen Gesellschaft werden sämmtliche diplomatische Finessen und all die kleinen Kniffe, mit denen die Fürstin früher ihren Einfluß auf den Gang der Weltgeschichte bekunden wollte, einfach lächerlich. Wie in den Zeiten des Glanzes, findet man auch jetzt noch, etwa unter einem Buche oder Album, ein wie zufällig liegen gebliebenes vertrauliches Handschreiben Gortschakow’s, das den Inhalt eines früheren Briefes dunkel bestätigt und ein räthselhaft angedeutetes Ereigniß voraussagt. Böse Zungen behaupten freilich, der russische Kanzler schreibe an seine Freundin viel seltener, als sie an ihn, oder jedenfalls weniger häufig, als sie behaupte, und das unvermeidliche Billet sei immer das nämliche, wie eine Theaterpastete.

Kurz, der ehedem glänzende Salon ist zur Caricatur geworden. Man sagt, die Diplomatin habe in Paris schon runde fünf Millionen ausgegeben, und werde demnächst vor ihrer Concurrentin, der geistreichen Freundin Gambetta’s, Madame Edmond Adam, die wirklich Präfecten ernennen und Minister stürzen soll, enttäuscht und besiegt das Feld räumen und nach St. Petersburg heimkehren. – –

Seitdem ich Vorstehendes in mein Tagebuch schrieb, hat die Fürstin T. wirklich Paris verlassen, und kein Mensch in Paris würde mehr von ihr sprechen, wenn nicht jüngst die Zeitungen gemeldet hätten, sie stehe im Begriffe, an die Seine zurückzukehren, um wieder einen politischen Salon zu eröffnen. Wird dieser zweite Versuch besser gelingen, oder wird sie abermals glauben, Geschichte zu machen, und blos – Geschichten machen?

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Schöngeistiger Salon bei Victor Hugo! Prachtvoller rother Saal mit prismatisch funkelndem venetianischem Kronleuchter. Nur Spiegel, aber keine Bilder an den Wänden. Schwere Lehnstühle und leichte Sessel aus vergoldetem Bambus, die doch stark genug sind, um das sterbliche Theil Gambetta’s, Augier’s, Renan’s und anderer gewichtiger Persönlichkeiten zu tragen. Nebenan ein ebenfalls reicher Saal mit gepreßten Ledertapeten aus Cordova und einem kostbaren Gobelinteppich an der Decke. Dann das Eßzimmer, von grünem Sammt verhängt; eine Glasgallerie, in welche sich die Raucher vor dem nikotinfeindlichen Dichter zu flüchten pflegen; endlich ein Zimmer mit kostbarer Bibliothek und herrlicher Jugendbüste des Dichters von David d’Angers.

Die politische und künstlerische Welt ist gleich stark vertreten. Neben dem aristokratischen Frack sieht man den bürgerlichen Gehrock. Echte Figuren aus vorstädtischen Wahlversammlungen und aus den Bierstuben des lateinischen Viertels tragen unter schlichtem Kittel eine bunte, offenbar sonntägliche Weste. Dort plaudert der gravitätische Gambetta mit dem Socialisten Louis Blanc, einem blassen, breitmäuligen Männchen, und wird von seinem Freunde Coquelin, dem besten Schauspieler Frankreichs, ostentativ gedutzt und „Mon cher Léon!“ angeredet.

Unter den alten und jungen Damen bemerken wir die honneursmachenden Hausfrauen, nämlich die weißlockige Madame Drouet, die getreue Begleiterin des Dichters, und seine in zweiter Ehe mit dem Abgeordneten Lockroy vermählte jugendliche Schwiegertochter, die Mutter von Georges und Jeanne Hugo, welche letzteren von ihrem Großvater so schön besungen wurden.

Dort lehnt er selbst mit dem Rücken am Kaminbord. Ob seinem herrlichen Kopfe vergißt man seine vierschrötige kleine Statur und den philiströsen Spitzbauch. Dichtes, blendend weißes Kopf- und Barthaar umrahmt das Gesicht. Die prächtig gewölbte Stirn ist wie aus Erz gegossen und von breiten Falten gefurcht. Sie hat am besten des Lebens Stürme überdauert. Die kräftige Nase senkt sich altersschwach zum Mund herab, und die Augen sind klein geworden. Ein feuchter Schleier verdeckt diese schwimmenden Sterne, die von unbestimmter Farbe sind. Die früher Feuer gesprüht, verrathen jetzt die stille Beschaulichkeit des Alters. Sie versinken fast in den faltigen Höhlen, und nur im Momente des Affectes, wenn der Dichter sie mühsam aufreißen will und sich die unendliche Stirn in tausend Runzeln und Linien bricht, zuckt es darin von Leben und Gluth, doch blos auf einen Augenblick. Eine milde Hoheit ist über das ehrwürdige Greisenantlitz ausgegossen, und wer darin zu lesen versteht, dem erzählt es von einem reichen uns guten Herzen, von heißen Kämpfen für Ehre und Recht, von tiefer Menschenliebe und hohem Gedankenflug, von immerfort gewaltiger Schöpferkraft und einer Poetenseele, deren Gluth noch nicht in Asche versunken ist.

Der Verkehr in des Dichters Salon ist frei und ungezwungen. Nach französischer Sitte wird Niemand vorgestellt und meldet man nur die seltenen Gäste an. Man tritt herein, mischt sich in die Gruppen und begrüßt gelegentlich den einfachen und herzlichen Dichter, wenn er einem nicht zuvorkommt; denn er hat ein vortreffliches Auge. Den Damen gegenüber ist er von ausgesuchter, fast altväterischer Galanterie: er liebt es, ihnen zum Willkommen und Abschied die Hand zu küssen. Das gemachte oder, wie der selige Philipp Ulrich Schartenmayer sagen würde, „übermachte“ Pathos seiner Werke liegt seiner Plauderei fern. Ein ausgezeichneter Erzähler, kramt er gern in seinen Erinnerungen, wobei er vom jugendfrischen Gedächtniß nie im Stiche gelassen wird. Er weiß die überraschendsten Anekdoten höchst anschaulich zu erzählen, und wenn er in kurzen Worten das Portrait irgend einer historischen Persönlichkeit aus den Zeiten Karl’s des Zehnten oder des Bürgerkönigs zeichnet, so glaubt man den Betreffenden leibhaftig vor sich zu sehen.

Bitten ihn die Damen darum, so holt er wohl aus seinem Studirzimmer, das noch kein fremder Fuß betrat, einige große Bogen holländischen Büttenpapieres, das er in Stunden dichterischer Arbeit mit seiner riesenhaften Kielfederschrift zu bedecken pflegt, und liest das neueste Kind seiner Muse mit der ihm eigenen vollen, vibrirenden Stimme vor, die aus tiefstem Herzen kommt und mit sympathischer Gewalt wieder zu Herzen dringt.

Offen gesagt, ich bewundere die französische Prosa, aber der Alexandriner ist mir ein Gräuel, und ich entschuldige die Abonnenten des Théâtre Français, die den classischen Donnerstagsaufführungen von Corneille, Racine und Voltaire nur einen seligen Schlummer entgegenbringen. Die Schönheit und das Erhabene mancher Stellen wird durch die steife Monotonie des Versmaßes und den geschraubten Vortrag der Schauspieler fast immer verkümmert. Die letzteren zerfallen in zwei Schulen: die Einen singen die gereimten Bandwürmer im herkömmlich langweiligen Zwölfsilben-Rhythmus, die Anderen – und die Herrschaften nennen sich Realisten – lösen die Verse in regellose Prosa auf, indem sie die Cäsur willkürlich brechen und die Reime durch eine subtile Kunst im Verschlucken und Ueberhasten wegescamotiren.

Victor Hugo thut weder das Eine noch das Andere. Er gewährt der Poesie ihr Recht und läßt den Reim nachklingen, doch ohne ihn zu betonen. Sein Vortrag übereilt nichts und ist doch bewegt und feurig, was allerdings schon der kecke Wurf seiner Verse ermöglicht. Nie wird der herrliche Wohlklang seiner Dichtung so klar wie in seinem Munde. Und folgt eine jener zahlreichen Stellen, wo die Poesie in grellen Antithesen und leerem Wortgepränge und Bombast unterzugehen scheint, dann glaubt man im Zauberbanne seiner gewaltig erhobenen Stimme einem mystischen Propheten zu lauschen, dessen Erhabenheiten kühlem Verstande, der nichts Uebersinnliches faßt, verschlossen bleiben, während sie gläubiger Hingabe eine Welt von Schönheit ahnen lassen. Man muß Victor Hugo sich selbst vorlesen hören, um ihn zu verstehen, oder um wenigstens zu fühlen, wie er’s versteht.

Leider läßt der greise Dichter meistens den anwesenden jungen Lyrikern das Wort. Alsdann werden oft ganze Sonettenkränze vor den arglosen Gästen heruntergehaspelt. Zum Glück giebt es noch gewisse Ruhepunkte, wo Vorleser und Publicum Athem schöpfen können, nämlich wenn das bereitgehaltene Glas Zuckerwasser durch die trockene Kehle gegossen wird. So träufelt man löschendes Naß auf die Wagenachse, die sich zu entzünden droht; aber die lyrische Gluth hat noch kein Zuckerwasser gedämpft.

Was den Besuch dieses Pariser Salons noch mehr verleiden kann, ist der überschwängliche Götzendienst, den seine Jünger mit dem achtundsiebenzigjährigen Dalai Lama treiben. Jedes Wort aus seinem Munde wird wie ein Evangelium betrachtet und – heimlich aufgeschrieben; denn die meisten Gäste führen ein Hugo-Tagebuch, mit dem sie nach des Dichters Tode ein hübsches Stück Geld zu verdienen hoffen. Nehmen solch ergiebige Publicationen doch schon zu seinen Lebzeiten immer mehr überhand. Anders als „Meister“ und „Lieber Meister“ wird der Greis gar nicht angesprochen. Der Hugo-Cultus hat entschieden etwas Abgeschmacktes. Kürzlich, wurde Hugo als größter Mann des Jahrhunderts angeredet, und der phrasenhafte Louis Blanc rief in Verzückung:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_443.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)