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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Auf die Sittlichkeitsbegriffe und die Sittenzustände der russischen Gesellschaft zur Zeit des falschen Demetrius wirft ein erschreckend kennzeichnendes Streiflicht, was unmittelbar nach dem Tode von Boris in Moskau geschah. Obgleich nämlich die ganze Bewohnerschaft der Hauptstadt im Herzen willig und schon bereit war, dem herankommenden Schwindler zuzufallen und zuzujubeln, huldigten alle Moskauer, alle, vom Erzbischof-Patriarchen an bis zum letzten Kleinbürger, der Witwe des Boris, der Zarin Maria, ihrem sechszehnjährigen Sohne Feodor, sowie ihrer Tochter Xenia, und die Huldigenden alle verpflichteten sich mittels furchtbarer Eidschwüre, mit unverbrüchlicher Treue an der Zarin-Witwe und ihren Kindern unentweglich festzuhalten. So that auch der Bojar Peter Basmanow, welcher als der fähigste der russischen Generale an der Spitze eines neuausgerüsteten Heeres dem Prätendenten entgegengeschickt wurde.

Schon am 7. Mai jedoch erklärte sich derselbe Basmanow, welcher gar wohl wußte, wie es mit der Zarensohnschaft des angeblichen Dmitry bestellt wäre, und welcher dieses sein Wissen gegenüber dem ehrlichen Konrad Bussow, unserem Hauptgewährsmann, ohne Umstände verlautbart hatte – ja, derselbe Basmanow erklärte sich für den Betrüger und mit ihm das ganze Heer.

Das gab den Ausschlag. Boten, welche Dmitry nach der Hauptstadt sandte, um dieselbe zur Unterwerfung und Huldigung für ihn, als den rechtmäßigen Zaren aufzufordern, wurden mit Jubel empfangen. Die Spitze von Adel, Klerus und Bürgerschaft traten zusammen, anerkannten den Dmitry als den echten Zaréwitsch und den rechten Zaren und sandten ihm eine Abordnung von Bojaren nach Tula entgegen, um ihn einzuladen, in seine „getreue“ Hauptstadt einzuziehen. Er erklärte gnädig, bald kommen zu wollen. Bevor er aber kam, sandte er Befehle, die Zarin-Witwe Maria und ihren Sohn Feodor zu erdrosseln, was dann am 10. Juni geschah. Der Tochter des Boris, der jungen Xenia, war noch Schlimmeres bestimmt als der Tod. Dmitry, der Mörder ihrer Mutter und ihres Bruders, zwang sie, seine Kebse zu werden. Weiter hat man von ihr nichts mehr vernommen.

Am 20. Juni von 1605 hielt Zar Dmitry, wie er jetzo sich nannte und nennen ließ, seinen Triumphalpompeinzug in Moskau unter Voranritt der polnischen Hussaren, welche in Gliedern von 20 Mann hoch einherzogen, mit eingelegten Lanzen und unter dem Getön ihrer Trompeten und Kesselpauken. Dann schritt die Klerisei in Procession mit Fahnen und Heiligenbildern vor dem Zaren einher, welchen Bojaren in höchster Gala umgaben. Von der Pracht seiner Erscheinung kann eine Vorstellung schon der Umstand geben, daß er einen Halskragen im Werthe von 150,000 Dukaten trug. Das Volk jubelte dem Götzen des Tages zu: „Hoch unser Väterchen! Gott segne und erhalte dich! Wir waren im Finstern. Jetzt aber mit dir ist die rothe Sonne (krasnoe zolnza) Russlands wieder über uns aufgegangen.“

Neun Tage später ist Dmitry in der Marienkirche zu Moskau feierlich-prunkhaft zum Zaren aller Reußen gekrönt worden.

Es fehlte aber noch das Tüpfelchen auf dem i dieser zarischen Herrlichkeit. Das war die Anerkennung des neue Zaren durch die noch lebende Mutter des wirklichen Dmitry. Damit, d. h. mit der Erlangung dieser Anerkennung, sollte allen etwaigen Zweifeln ein Ende bereitet werden. Die zwei ersten Bojaren des Reiches, der Fürst Feodor Mstislawski und der Fürst Wassily Schuisky, wurden in das Kloster im Norden entsendet, wo Marfa Nagoy, die Witwe und letzte Frau Iwans des Schrecklichen, lebte, um sie nach Moskau zu holen. Sie kam und wurde von Dmitry mit der ganzen Ehrfurcht und Zärtlichkeit eines Sohnes empfangen. Was die Beiden mitsammen gesprochen, weiß man nicht; das aber weiß man, daß Beide vortrefflich schauspielten. Marfa hat zwar nie förmlich ausgesprochen, daß der falsche Zar ihr Sohn wäre. Wie konnte sie das auch, sie, welche den wirklichen Dmitry todt in ihren Armen gehalten hatte? Aber sie fand die Rolle der Zarin-Mutter mehr nach ihrem Geschmack als das Klosterleben und lebte demzufolge mit ihrem angeblichen Sohn im besten Einverständniß. Will man die Gefühle zergliedert sehen, welche die Witwe des „grausen“ Zaren bestimmten, die ihr angebotene Rolle und Stellung anzunehmen, so lese man im Demetrius-Fragment Schillers die herrliche Scene zwischen Marfa und dem Erzbischof Hiob – eine Scene, wie sie eben nur Schiller schaffen konnte.

(Schluß folgt.)




J. J. Weber.
Ein buchhändlerisches Culturbild.


Es ist wenig über ein halbes Jahrhundert her – es war im Jahre 1825 – daß zu dem deutschen Boisseré’schen Prachtwerke über den Kölner Dom, welches im Verlage der Cotta’schen Buchhandlung erschien, Titelblatt und Vorrede in deutscher Sprache mit deutschen Lettern in Paris gedruckt werden mußte, weil in Deutschland, der Wiege der großen Erfindung Guttenberg’s, typographisch nichts geleistet werden konnte, was den Forderungen der Schönheit und des guten Geschmacks entsprochen haben würde.

Die französische Typographie und ihre Schwesterkünste, namentlich die Holzschneidekunst, waren damals der deutschen weit voran geschritten, und mit dem Aufschwung dieser Künste hatte sich auch der Unternehmungsgeist der französischen Buchhändler weit über den der deutschen erhoben. Der Buchhändler Masson kündigte unter anderen Werken gleichzeitig an: „Voyage pittoresque en Autriche“, „Collection des vases grecs“, einen „Buffon“ mit 1150 Kupfern, „Monumens de la France“, „Biographie universelle“, in 50 Bänden, Werke, die 1000 bis 2000 Franken kosteten. Die „Description de l’Égypte“ (die freilich auf Kosten der Regierung erschien) kostete sogar 4000 bis 6000 Franken. Außer Masson waren Didot, Panckoucke, Bertrand, Bossange und Andere berühmt wegen der Großartigkeit ihrer Unternehmungen. Namentlich wurden Reisewerke auf das Prachtvollste ausgestattet, wie die von de Laborde, Choiseul, Gouffier, d’Ohsson etc. Luxuriöse Ausstattung war sozusagen Tagesmode, aber diese Mode wurde in Deutschland, das sonst leider nur zu schnell ausländischen Tand nachzuahmen liebt, nicht nachgeahmt.

Allerdings war schon früher auch in Deutschland ein rühmenswerther Anlauf zu geschmackvoller Verschönerung der typographischen Ausstattung gemacht worden. Der Verlagsbuchhändler Georg Joachim Goeschen entfaltete seit 1787 eine hochbedeutsame Geschäftsrührigkeit, seitdem er eine Prachtausgabe von Wieland’s Werken mit lateinischen Lettern drucken und seine eigene Buchdruckerei etabliren wollte, da die vorhandenen Druckereien seine ästhetischen Forderungen nicht erfüllen konnten. In der Blüthezeit des dickverfilzten Zopfthums, des Zunft- und Innungswesens mußte Goeschen in seinem Concessionsgesuche an den Kurfürsten 1793 geltend machen, daß er nur „mit lateinische Lettern nach Didot“ drucken wolle, daß diese in Leipzig nicht vorhanden, daß seine Typen noch schöner seien, als die von Unger in Berlin, daß Leipzigs Buchdruckerruhm dadurch steigen würde u. dergl. m. Außerdem wolle er nur für sich drucken und sogar nur solche Artikel seines Verlages, die Andere nicht ausführen könnten – trotzalledem mußte er 1797 seine Druckerei nach Grimma verlegen, wo er unbeschränkte Dispensation von allem Zunftzwang erhielt.

Die Gesamtausgabe von Wieland’s Werken war etwas noch nie Dagewesenes in Deutschland; sie erschien in vier Ausgaben, von denen die große Prachtausgabe in 42 Quartbänden, mit Antiqua gedruckt und mit 36 Kupfern geschmückt, 250 Thaler kostete. Das Werk machte das Aufsehen einer Wundererscheinung, und als Wieland nach Leipzig kam, wurde ihm der erste Band unter festlichem Gepränge von griechisch gekleideten Genien überreicht, während die Muse ihn mit einem Lorbeerkranze schmückte.

Aber schon die Napoleonische Invasionszeit war nicht geeignet, die deutsche typographische Kunst zu fördern, und noch ärger, als der Kriegsdruck des fremden Feindes, wirkten nach den ruhmreichen Siegen im sogenannten Freiheitskriege die Karlsbader Beschlüsse, die schnöden Polizeigesetze der 38 deutschen Landesväter auf den Aufschwung der Literatur, der Presse, der typographischen Kunst. Daher mußte auch Alexander von Humboldt zur Herausgabe seines amerikanischen Reisewerks nach Paris gehen. Es waren

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