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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Dicke an der Schmalseite des Tisches. Es giebt doch noch bequeme Stühle in der Welt, an deren gepolsterter Rückwand man nicht nur sein müdes Haupt bergen kann, sondern auf deren Armlehnen auch die Ellenbogen den Stützpunkt finden, dessen die gefalteten Hände zur würdigen Fassung bedürfen. Er scheint zu beten – ob er wohl den Himmel anruft, daß er die sündige Welt bald in Bausch und Bogen bekehren möge? ob er wohl aus den Bitten des Vaterunsers insbesondere die vierte „unser täglich Brod gieb uns heute“ zum Gegenstande seiner Privatandacht macht? Das runde Bäuchlein und das feiste Unterkinn lassen darauf schließen, daß ihm am pünktlichen Eingehen seiner Sporteln ungleich mehr gelegen sei, als an dem oratorischen Erfolge seines Amtsnachbars, den er für einen unverbesserlichen Streitbold hält, und daß er bei dem nun hoffentlich bald beginnenden Conferenzessen im „Schwarzen Stern“ eine viel activere Rolle spielen werde, als bei der langweiligen Disputation über „das ist“ und „das bedeutet“.

Und nun zu dem vierblätterigen Kleeblatt, welches dem geistlichen Falstaff gegenüber gleichsam an einem Stengel sitzt – vier Diener des Evangeliums, nicht vier Evangelisten. Zwar der nach innen sitzende mit dem vierschrötigen Gesicht, dem massiven Munde und ein wenig ungeordneten Haar hat etwas, was an den Stier des Lucas erinnert; er ist ein Landpastor aus einem Guß, der mit „seinen“ Bauern um so besser fertig wird, je näher er selbst nach Anschauung und Lebensweise ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen steht. Auch Marcus hat seinen Epigonen gefunden: der glattrasirte Herr ohne Brille mit den dräuenden Augenbrauen mahnt von weitem an den Löwen dieses Evangelisten; freilich ist er ein zahmer Löwe, der nur, wenn er mit des Basses Grundgewalt auf seiner Kanzel donnert, ängstliche Gemüther fürchten macht. Pseudo-Lucas und Pseudo-Marcus vermögen nicht ohne Schwierigkeit den Subtilitäten der Vorträge des Tages zu folgen. Aber Matthäus und Johannes haben die Rollen getauscht: jener hat diesem den Adler als unsichtbares Attribut abgetreten. Jener, der am Rande des Bildes seinen Platz hat, trägt zwar den neumodischen Lutherrock und Stehkragen, zum Zeichen, daß er ein rechter Pfarrer sei, aber damit hat er das Kind der Welt noch nicht gänzlich ausgezogen, dessen Reflexe sich ab und zu nur in seinem nicht unsympathischen Gesicht spiegeln. In müßigen Stunden greift er gern einmal wieder zu seinem Horaz, dessen Lieder er als Primaner so eifrig gelesen hat, und in den Concerten der städtischen Capelle pflegt er nicht zu fehlen. Der letzte im Kleeblatt, mit dem sorgfältig in der Mitte gescheitelten Haar, dem Taubenblick und dem süßlichen Munde, der durch das erhobene Augenglas nach dem Texte der streitigen Bibelstelle schielt, ist ein „gar lieber“ Mann, der Vertraute aller Geheimräthinnen, der Hausfreund in den Familien verabschiedeter Militärs. Innere und äußere Mission, conservativer Club und Gefängnißverein, Sonntagsschule und Magdalenen-Asyl – das alles trägt er in eifrigem Herzen und geschäftigen Händen. Man erzählt sich, daß ihm die demnächst zur Vacanz kommende, mit über 10,000 Mark dotirte Patronatsstelle des Barons von Iftelfingen, dem seine Gattin, eine geborene von Iftelfingen-Diftelfingen, weitläufig verwandt ist, nicht entgehen könne.

Sind wir zu Ende? Noch nicht! Ueber der Lehne des Armstuhls, in welchem der wohlbeleibte Herr Platz genommen hat, wird der obere Theil eines markirten Antlitzes sichtbar: ein Paar intelligente Augen überfliegen beobachtend die Scene. Wer mag der junge Mann sein, der sich in so bescheidener Reserve hält? Ein unlängst von der Universität Heidelberg heimgekehrter Candidat, seit einigen Monaten als Hülfsprediger einer größeren städtischen Gemeinde angestellt.

Der Eindruck, den er heute, wo er zum ersten Male an der amtlichen Conferenz Theil nimmt, empfangen hat, ist kein sehr ermuthigender. Wie viel Stumpfheit und Geistlosigkeit hat er bei seinen zukünftigen Standesgenossen gefunden! Was soll der Streit über Silben und Buchstaben in einem Kreise, der auf Sinn und Geist der heiligen Schriften hingewiesen ist und andere hinzuweisen hat? Soll denn der Hader über den Wortlaut der Glaubenssätze und Bekenntnisse wie eine Plage sich von Geschlecht zu Geschlecht schleppen? Soll auch er, der Jüngling mit dem idealen Geistesfluge und dem aufrichtig frommen Herzen, wider seinen Willen hineingezogen werden in die Leidenschaft der Parteien, in die Intriguen des Cliquenwesens? Möge er nie den Rückblick auf seine Studien mit dem wehmüthigen Geständniß schließen müssen, welches in seinem Munde wie die Klage über ein verfehltes Leben klingen würde: „und leider auch Theologie“!

Und wenn nun die Reden verstummt sind, die Folianten zugeklappt und die Sitzung aufgehoben, welches wird der Erfolg des Streites sein? Wird der eine den anderen überzeugt haben? Wird die Wissenschaft einen Gewinn einheimsen? Werden die Gemeinden einen Segen davon verspüren und eine Hebung ihrer religiösen und sittlichen Zustände davontragen? Wir glauben keines von alledem. Denn leider ist es denjenigen, die sich in theologischen Streitigkeiten gefallen, in der Regel nicht um wissenschaftliche Beweisführung und Belehrung, sondern um Hinüberziehen zum eigenen Glaubensstandpunkt, also um Bekehrung zu thun. Dazu kommt, daß die Art, in der solche Fehden geführt werden, sich durchaus nicht immer in den Grenzen der sachlichen Gegensätze und der persönlichen Würde hält. Wenn Philosophen, Juristen oder Mediciner streiten, so lassen sie einander, der wissenschaftlichen Differenzen ungeachtet, gewöhnlich die Ehre eines leidenschaftlosen, ihrem Bildungsgrade angemessenen Tones widerfahren. Wenn Theologen streiten, so gerathen sie oft hart an einander; der Kampf wird auf das Gebiet des Persönlichen hinüber gespielt und nimmt den Charakter der Gereiztheit und Gehässigkeit an. Jeder geberdet sich, als ob der Andere die Heiligthümer des Glaubens angetastet, die Grundlage der Kirche unterwühlt, den Bestand des Evangeliums in Frage gestellt, den Namen des Höchsten gemißbraucht habe, und als sei nun er selbst berufen, dem verirrten Schafe – nicht etwa mit Liebe und Geduld nachzugehen, um es der Heerde wieder zuzuführen, sondern ihm „wehe!“ nachzurufen, damit die treugebliebenen Schäflein glauben sollen, das verscheuchte sei ein räudiges gewesen. Ist es doch bereits dahin gekommen, daß Parteiversammlungen von Kirchenmännern ihren Verhandlungen oft dadurch die einzige Würze geben, daß sie über die Vertreter abweichender Richtungen ein Verdammungsurtheil nach dem andern fällen. In ähnlicher unverantwortlicher Weise haben die lutherischen Orthodoxen des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts durch ihre Silbenstechereien und Wortklaubereien das Volk um die Früchte der großen, preiswürdigen Befreiungsthat des deutschen Geistes betrogen. Und Viele von Denjenigen, die sich heute nach Luther’s Namen nennen, haben von ihm nichts weiter als den Starrsinn und die unbeugsame Hartköpfigkeit seines Wesens geerbt, die ihm als sein Theil menschlicher Unvollkommenheit anhaftete, aber kein Atom der Riesengröße seines Geistes, der den Plunder der Baalspfaffen des Mittelalters in Trümmer schlug.

Man täusche sich doch nicht: die künstliche Erregung gewisser exclusiv kirchlicher Kreise für lutherische Rechtgläubigkeit ist Strohfeuer von unheiligen Händen entzündet, früher oder später von widrigen Windstößen ausgelöscht. Aber unsere Gemeinden kümmern sich im großen Ganzen herzlich wenig um diese spitzfindigen Difteleien der Zionswächter über dogmatische Formulirungen ihres Christenglaubens; nicht Steine wollen sie, sondern Brod, lebendiges Brod, Nahrung des Geistes, Labsal des Herzens aus den unerschöpflichen Vorräthen des Evangeliums, dessen Ideal das Reich der Wahrheit, der Liebe, aber auch vor allem der Freiheit ist.




Blätter und Blüthen.

Explosion eines Diamanten. Vor einem halben Jahrhundert veröffentlichte der englische Physiker Brewster eine Abhandlung, in welcher er zeigte, daß Edelsteine der verschiedensten Art nicht selten mikroskopische oder auch dem bloßen Auge erkennbare Höhlungen enthalten, die mit einer in der Wärme sehr ausdehnbaren Flüssigkeit gefüllt sind. Er machte deshalb darauf aufmerksam, daß es nicht ohne Gefahr sei, Edelsteine zu tragen; denn wenn sich solche Höhlungen zufällig in der Nähe der Oberfläche befänden, so würde die Wärme der Haut unter Umständen hinreichen, „sie mit beunruhigender und selbst gefahrvoller Explosion zu zersprengen. Es ist mir nie ein solcher Zufall bekannt geworden,“ schloß Brewster seine Abhandlung; „hat er sich ereignet, oder sollte er sich künftig ereignen und träfe, um seinen natürlichen, merkwürdigen Charakter zu erhöhen, irgend ein unglückliches[WS 1] Ereigniß zufällig damit zusammen, so werden die in dem Vorhergehenden beschriebenen Erscheinungen hinreichen, ihn des Wunderbaren zu entkleiden.“ In einer vor einigen Monaten abgehaltenen Sitzung der Akademie der Wissenschaften von Philadelphia theilte Professor Leidy ein neueres Beispiel der von Brewster vorausgesehenen Edelstein-Explosionen mit und zeigte den explodirten Stein, einen in Gold gefaßten Diamanten von sieben Millimeter Durchmesser vor, der in einem Manschettenknopf von Achat steckte. Derselbe war ihm von einem Juwelier Namens Kretzmar mit der Mittheilung überbracht worden, daß der frühere Eigenthümer desselben eines Tages die Hand an seine Stirn gelegt habe, und daß dabei der Diamant so gewaltsam explodirt sei, daß er ein Fragment in die Hand und ein anderes in die Stirn getrieben habe. Eine nähere Besichtigung zeigte an der beschädigten Oberfläche eine kleine Höhlung, in welcher ein undurchsichtiges Stückchen Kohle in der Krystallmasse lag. Dieser Fall scheint die kürzlich in der „Gartenlaube“ ausgesprochene Meinung, daß der Diamant auch in der Natur unter hohem Dampfdruck entstanden sei, zu bestätigen. Wir wollen bei dieser Gelegenheit bemerken, daß der Verfertiger der „künstlichen Diamanten“, J. B. Hannay in Boston, der Londoner königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in einer Julisitzung genauere Mittheilungen über die von ihm angewendete Methode gemacht hat, und daß dieselbe darin bestanden hat, in einer starken zugeschweißten Eisenröhre eine Mischung von Paraffinöl, nebst zehn Procent Knochenöl mit einem Alkalimetall zum Glühen zu erhitzen. Der Entdecker ist übrigens mit seinen bisherigen Ergebnissen unzufrieden und will demnächst eine neue Reihe von Experimenten beginnen.




Das Denkmal von Folkestone. Fast drei Jahre sind dahingegangen, seit die Schreckensbotschaft von dem Untergange eines unserer größten und schönsten Panzerschiffe mit seinem kostbaren Inhalt an maritimem Material und seinem noch unendlich kostbareren an Menschenleben uns erreichte, seit der „Große Kurfürst“ in den Wellen versank. Was damals bei der ersten Kunde davon alle Herzen in tiefem Wehgefühl und Schmerz ergriff, und nachmals, in fast leidenschaftlichem Für und Wider sich Bahn brechend, noch so lange in ihnen nachzitterte, das findet jetzt auf dem stillen kleinen Marinekirchhof zu Folkestone seinen endlichen Abschluß. Das Vaterland errichtet dort seinen ehrenvoll in ihr nasses Grab gesunkenen Söhnen, die Marine ihren unvergessenen Cameraden ein Denkmal, das noch späten Geschlechtern im fernen Lande erzählen soll, wie deutsche Männer in ihrem Beruf zu sterben wußten.

In Folgen einer vorn Marineminister Stosch ausgegangenen Anregung wurde unter den Mannschaften und Officieren der Marine eine allgemeine Sammlung veranstaltet und der Erlös derselben zur Errichtung des in unserer Illustration dargestellten Denkmals verwendet. Dasselbe ist von Professor E. Luerssen (nicht zu verwechseln mit seinem Bruder, dem Bildhauer A. Luerssen) ausgeführt worden.

Auf grauen Granitstufen erhebt sich ein Obelisk aus weißem Sandstein, dessen Spitze zum Theil mit der Flagge der kaiserlich deutschen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ungückliches
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_843.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)