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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

es recht wohl geschehen, daß der Fremde, der bereits seit einer vollen Stunde den Waldfahrweg beschritt, plötzlich Halt machte, um sich an frischem Quellwasser für einen vermeintlich noch längeren Marsch zu erquicken.

Der dünne Wasserstrahl, der am Abhang zwischen dem entblößten Wurzelgeflecht einer schief überhängenden Fichte hervorquoll, war kalt wie Eis und von köstlichem Wohlgeschmack; der kleine silberne Reisebecher wurde wiederholt gefüllt und geleert; dann schritt der Herr fürbaß. Ueber der linken Schulter hing ihm der Plaid und an der Seite eine Ledertasche; eine leichte Reise-Ausrüstung; sonst hätte man den schlanken Mann in der hellgrauen Joppe für einen Spaziergänger halten können, so behaglich schlendernd, ganz dem Genuß der Waldschönheit hingegeben, verfolgte er die Weglinie, die, wie gewaltsam in das Buchendüster hineingeschnitten, sich durch die Stämme drängte.

Er war bisher ein einsamer Wanderer gewesen; keine Menschenseele war ihm begegnet. Er sah die Eichhörnchen von Ast zu Ast schlüpfen und die grünen Fahnen der Farren am Wege zittern, wenn sich kleines Gethier unter dem Pflanzengeschlinge tummelte, das die schaffende Kraft des Waldhumus immer wieder bis in die Fahrgeleise herübertrieb. Die leichtbewegte Luft hauchte ihm Erdbeerdüfte und für Momente auch den appetitlichen Geruch von Bratkartoffeln zu; sie trug auch das schwache Geräusch ferner Axtschläge herüber, und seit einer Viertelstunde begleitete den Gehenden zur Rechten das Murmeln fließender Gewässer, die er nicht sah. Nun aber lichtete sich das Dunkel allmählich nach dieser Seite hin, und sonnige Wiesenflächen leuchteten herein; ein rascher Bach schoß mitten durch das rasige Gelände und trieb weiter unten die Räder einer Schneidemühle. Da war im engen Rahmen dunkelnden Gehölzes der ganze Zauber einer Waldidylle eingefangen. Ein schmaler Steg führte über das Wasser, ein primitives Gefüge, durch dessen aus einander klaffende Bretter das drunten rauschende Gewässer heraufblinkte.

Der Fremde beschleunigte seine Schritte. Er betrat den Steg, jedenfalls um den vollen Anblick des hübschen Landschaftsbildes zu gewinnen, aber er kannte wohl die Heimtücke solcher sorglos über die Bäche geschlagener Holzbrückchen nicht; denn während er die Augen gefesselt auf die Mühle richtete, versank sein Fuß plötzlich und saß wie eingekeilt zwischen dem den äußersten Rand bildenden Fichtenstamm und dem nächsten Brett.

Eine Verwünschung auf den Lippen, mühte er sich unter allen Zeichen zorniger Ungeduld, den Fuß aus der Klemme zu ziehen, aber der Steg hatte kein Geländer, und dem Gefangenen stand nicht einmal ein Gehstock zur Verfügung, auf den er zu nachdrücklicher Kraftaufwendung den Oberkörper hätte stützen können. Bebend vor Aerger und Erregung hielt er inne und schaute nach irgend einem Beistande aus, der in dem einsamen Thale sehr fraglich schien.

Just in dem Moment kam eine weibliche Gestalt um die Ecke der Schneidemühle und schritt geradewegs auf den Steg zu. Sie trug ein Grasbündel auf dem Kopfe, das sie mit dem gehobenen Arm stützte. Allem Anschein nach war es eine Dienstmagd, ein junges blödes Bauernmädchen, das sich vor dem Fremden auf der Brücke fürchtete; denn ihr anfänglich sehr rascher Gang verlangsamte sich augenscheinlich bei seinem Erblicken.

„Heda, spute Dich ein wenig, mein Kind!“ rief er ihr ungeduldig zu. Nun blieb sie gar wie festgemauert stehen.

Er murmelte etwas von bodenloser Bauerndummheit zwischen den Zähnen und machte abermals einen verzweifelten Versuch, sich zu befreien. Angesichts dieser Anstrengungen mochte es dem Mädchen doch wohl klar werden, daß er kein zu Fürchtender, vielmehr ein Hülfloser sei. Sie besann sich nicht länger und kam herbei.

„So, weißt Du nun, daß ich kein Menschenfresser bin?“ sagte er, ohne sie weiter anzusehen. „Sieh her, Du mußt mir aus dem Schraubstock helfen. Stelle Dich hierher, dicht neben mich, aber fest, damit ich meinen Arm auf Deine Schultern legen kann!“

Sie trat zu ihm, ohne ein Wort zu sagen, aber in dem Moment, wo er Miene machte, sich auf sie zu stützen, sah er, wie sie verstohlen in das Grasbündel hinaufgriff und einen dicken Halmbüschel zwischen ihre Schulter und seinen Arm niederzog – lächerlich! – das Bauernmädchen da war eine Prüde.

Er hielt inne und zog den Arm zurück. „Möchtest Du nicht?“ fragte er belustigt.

„Nein – eigentlich nicht! Aber der Sägemüller und sein Knecht kommen vor Abends nicht heim, und die Müllerin ist schwach und krank.“

„Ach so, da müßte ich ja wohl wie der Fuchs im Tellereisen hier verkommen, wenn Du Dich nicht erbarmtest?“

Er bog sich vor, um unter das große weiße Tuch zu blicken, das sie gegen den Sonnenbrand über den Kopf gezogen und unter dem Kinn geknüpft hatte; es ragte weit vor, wie ein umfangreicher Hutschirm, und beschattete Stirn und Nase bis zur Unkenntlichkeit; die untere Gesichtspartie verschwand noch mehr in den dicken Falten der verschlungenen Leinenzipfel – hübsch oder häßlich, das blieb unentschieden.

„Ja, meine kleine Prüde, da kann ich Dir freilich nicht helfen. Du wirst Dich herablassen müssen,“ setzte er endlich mit verhaltenem Lachen hinzu. „Denke, Du seiest eine barmherzige Schwester, und thue es um der christlichen Liebe willen!“

Sie schwieg und stemmte die Linke auf die Hüfte, um ihrer Haltung mehr Festigkeit zu geben. Sie war ein großes, schlank- und schöngebautes Mädchen und stand wie eine Mauer, als er, den Arm auf ihre Schulter pressend, mit einigen heftigen Rucken den Fuß aus der Klemme zu ziehen sich abmühte. Ein leises Aechzen, eine halbverbissene Verwünschung klangen an ihrem Ohr hin; dann sprang er plötzlich befreit mitten auf die Brücke und stampfte wiederholt auf, um sich zu vergewissern, daß das mißhandelte Glied unverletzt geblieben sei.

Das Mädchen schritt unterdessen weiter.

„Halt auf ein Wort!“ rief er ihr nach.

„Hab’ keine Zeit. Der Fisch verdirbt,“ antwortete sie, unbeirrt weitergehend. Sie zeigte ihm halb zurückgewendet, daß ihr ein Netz mit einer Forelle am rechten Arm hing.

„Ließe sich in dem Falle das Fischchen nicht ersetzen, wie?“

„Nein.“

„Nein? Also nicht … Aber mein Dank?“

„Behalten Sie ihn!“

„Oho – Du bist kurz angebunden, mein Kind,“ lachte er und steckte das seidene Taschentuch, mit welchem er die Reste der Fichtenrinde von seinem attakirten Fuße weggestäubt hatte, wieder zu sich. Gleich darauf schritt er an ihrer Seite.

„Mir scheint, unter dem häßlichen Tuche da steckt ein ganz verteufelt trotziger Kopf,“ sagte er. „Wie aber, wenn ich nun ebenso trotzig bin, wie Du, und Deine Hülfe absolut nicht geschenkt haben will?“

„Dann thun Sie wohl, an Ihren Platze auf der Brücke zurückzukehren.“

Er lachte laut auf und suchte gespannt abermals einen Blick unter das verhüllende Tuch zu werfen. Das Mädchen hatte Mutterwitz; die „Bauerndummheit“ hatte sie sicher so wenig im Gesicht, wie auf den Lippen. Sie wandte flink den Kopf nach der anderen Seite, und ihm blieb nur die Musterung ihrer Gestalt. Sie war ärmlich gekleidet. Aus dem verschossenen Kleide waren die Aermel getrennt und hatten den Hemdärmeln Platz machen müssen; sie fielen lang und schön weiß bis über die Ellenbogen herab. Busen und Rücken umhüllte plump ein zerwaschenes hinten geknüpftes Baumwollentuch, und die starren Falten der steifgestärkten blauen Schürze verhäßlichten Taille und Hüften. Sie war ohne Zweifel eine Dienende. Das Kleid, wenn auch entstellt und zum Arbeitskittel degradirt, war von städtischem Schnitt und stammte sicher aus der Garderobe der Dienstherrin.

„Nun, dann will ich Dir für Deinem Samariterdienst wenigstens die Hand drücken.“

Er streifte rasch den Handschuh von der Rechten, einer weißen, kräftigen Hand mit einem schönen Siegelring am Finger, und hielt sie ihr hin.

„Meine Hand ist hart,“ versetzte sie zurückweichend; der Arm, an welchem ihr das Netz hing, vergrub sich förmlich in den Schürzenfalten.

„Na ja, ich hätte das wissen können,“ sagte er mit Humor. „Die Thüringer Disteln stechen, wo man sie anrührt; das merkte ich schon vorhin auf der Brücke. Dienst Du in der Mühle drüben?“

Sie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie: „Der Sägemüller kann keine Magd halten. Er hat die Mühle nur in Pacht; sie gehört zum Gute im Hirschwinkel.“ – Dabei schritt sie in tannengerader Haltung, das Grasbündel auf dem Kopfe stützend und weder rechts noch links blickend, beschleunigten Schrittes den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_002.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2016)