Seite:Die Gartenlaube (1881) 008.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

des Körpers wieder; sie verleiht denselben, je nach ihrer Art, ein befonderes, schärferes oder verschwommeneres Colorit; ja noch mehr: die eigentlichen Nervenkrankheiten, denen die nervöse Constitution der Zeit das geeignete Material liefert, sind in rapider Zunahme begriffen. Die Leiden, welche hier in Frage kommen, sind die verschiedenen Formen von Neuralgien, an erster und hervorragendster Stelle der in den höheren Gesellschaftskreisen so weit verbreitete und so sehr gefürchtete Gesichtsschmerz mit oder ohne Lähmungen und Krämpfen, ferner die hysterischen und hypochondrischen Leiden, das Stottern, die Veitstanzformen, die Taubstummheit, die Epilepsie, die verschiedenen Formen der Geistesstörungen und der Idiotismus. Alle diese genannten Leiden sind Geschwister oder Geschwisterkinder, Abkömmlinge einer und derselben Stammmutter, Sprößlinge der nervösen Constitution.

Die ärztliche Wissenschaft unterscheidet nun accidentielle und sogenannte individuelle, erblich bedingte Krankheiten. Zu den ersteren rechnen wir beispielsweise die fieberhaften, die rein entzündlichen und die ansteckenden Krankheiten, zu letzteren die chronischen, wie Scrophulose, Schwindsucht und, last not least, alle jene vorhin näher bezeichneten Nervenleiden. Es giebt keine Krankheit, welche das nachfolgende Geschlecht so sehr belastet, wie gerade die Geisteskrankheiten und die mit ihr verwandten Leiden. Die nothwendige Folge davon ist, daß die Infection, je mehr diese Krankheiten sich verbreiten, in desto größere Kreise dringen wird. Und in der That, schaue ein Jeder sich einmal in seiner eigenen Familie, oder bei Eltern und Geschwistern oder den nächsten Blutsverwandten um, und er wird staunen über die Ausdehnung, welche diese oder jene Form der nervösen Schwäche gefunden hat.

Die Uebertragung der Krankheiten von Eltern auf Kinder geschieht nun aber nicht immer in der Weise, daß das Leiden der Eltern in derfelben Form bei den Kindern zur Geltung kommt. Eltern, welche an ausgeprägten Nervenkraukheiten leiden, zeugen in dem einen Falle blödsinnige Kinder, oder solche, welche später geisteskrank werden, in dem anderen Falle Kinder, bei denen sich später Veitstanz oder Epilepsie entwickelt, in dem dritten solche, von denen das eine oder das andere taubstumm ist oder stottert, in dem vierten Falle endlich scheinbar ganz normale Kinder, bei denen von allen diesen Leiden während der ganzen Lebensdauer gar nicht die Rede sein kann. Aber eine genaue Prüfung dieser Kinder oder der Männer und Frauen, zu denen diese Kinder herangewachsen sind, ergiebt überraschende Resultate. Ein Theil entwickelt sich geistig ungleich langsamer als die andern. Unaufmerksame Beobachter halten solche Kinder in der Regel für schwachbegabt, vielleicht für Halb-Idioten, aber ihr späteres Leben und ihre Leistungen beweisen häufig gerade das Gegentheil. Andere Kinder sind der Art zerstreut und sind so außerordentlich empfänglich für Eindrücke, welche sie aus der Sinnenwelt beziehen, daß sie in den Schulen von dem, was vorgetragen wird, gar nichts zu begreifen scheinen und so den Eindruck hervorrufen, als seien sie, wie die ersteren, um mich vulgär auszudrücken, mit ihrem Verstande zu kurz gekommen. Wieder bei anderen zeigt sich eine eigenthümliche Richtung im Gemüthsleben. Der eine Theil von ihnen schließt sich ab, geht seine eigenen stillen Wege, ist wenig mittheilsam, verschlossen, ernst; ein anderer ist reizbar, jähzornig, leidenschaftlich; ein dritter zeigt schon früh ganz bestimmte Gewohnheiten und Neigungen, aus denen sich später der Sonderling zusammensetzt. Ein großer Bruchtheil unserer Jugend aus den höheren Lehranstalten zeigt endlich einen bedenklichen Mangel an Gleichgewicht der einzelnen geistigen Thätigkeiten. Bei Diesen ist das Gedächtniß hervorragend entwickelt, bei Jenen wieder das Auffassungsvermögen, bei den Dritten das Productionsvermögen, während außer diesem einen die anderen geistigen Factoren, wenn auch nicht lahmgelegt, doch ungleich schwächer arbeiten. Es fehlt an der erforderlichen Harmonie.

Ich sagte vorhin, daß Eltern, welche nervös constituirt sind, immer zu befürchten haben daß das eine oder andere ihrer Kinder, oder mehrere, oder gar alle dem einen oder anderen dieser Leiden zum Opfer fallen. Was von nervösen Eltern gesagt ist, das gilt noch in viel höherem Grade von solchen, welche wirklich geisteskrank waren, oder noch werden, welche epileptisch sind, an Veitstanz leiden u. dergl. m.

Auf diese Weise verbreitet sich die nervöse Constitution in rasender Geschwindigkeit über die besten Kreise der menschlichen Gesellschaft, ganz abgesehen von den Insulten des Lebens, welche erst später selbst kräftige und gesunde Naturen in diesen Strudel des Verderbens hinabzuziehen geeignet sind, ganz abgesehen von den anderen Schädlichkeiten der heutigen Zeit, welche vorzugsweise unser Nervensystem in Mitleidenschaft ziehen.

So kann es denn auch nicht ausbleiben, daß die psychopathische Belastung (das heißt die angeborene Anlage zu Geisteskrankheiten) unserer Jugend, in welcher der vorhin erwähnten Formen sie sich auch zeigen möge, und die dadurch bedingte verminderte Leistungsfähigkeit immer weiter an Ausdehnung gewinnt.

Es wäre wunderschön, könnte man zur Beseitigung dieses Uebels Radicalcuren vornehmen, könnte man die Zeit, wie sie ist, die Verhältnisse, wie sie liegen, neu gestalten; ja, es wäre wirklich wunderschön, könnte man das Spiritustrinken aus der Welt schaffen, den Gaumen für Porter und Ale, Nürnberger Bier und kühle Blonde abstumpfen. Wunderschön wäre es, könnte der Familienvater, anstatt mit acht, zehn oder zwölf Stunden Arbeit am Tage mit deren vier oder sechs fertig werden, – kurz, es wäre herrlich, könnte die Genußsucht und die Eitelkeit der Welt, das Hetzen und Jagen nach Gold und Gütern, nach Aufregung in immer neuer Art und leider immer niedrigerer und gemeinerer Qualität mit einem Schlage beseitigt werden. Ein großes Stück Arbeit, vielleicht das größte, wäre damit für uns gethan. Es wäre wunderschön und herrlich, aber es ist ein Ideal, unerreichbar, wie alle Ideale, und so kann es nicht anders sein, wie es ist: die psychopathische Belastung unserer Jugend befindet sich gleichmäßig mit der Zunahme der nervösen Constitution, speciell der Geistesstörungen, in schnellem Wachsen. So haben wir es in unseren Schulen nicht mehr mit normalen Verhältnissen, sondern mit von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Generation zu Generation steigenden abnormen Zuständen zu thun, welche uns die ernste Pflicht auferlegen, keinen Augenblick zu zögern, der so bedenklichen Gefahr, welche der Blüthe unseres Volkes mit dem Niedergange seiner geistigen Kraft droht, mit Entschlossenheit und mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln entgegen zu treten.

Lassen wir nicht nach in Ermahnungen an die Eltern, Vormünder und Pfleger, welchen die kostbarsten aller Güter, die Kinder, anvertraut sind, daß sie sie hüten und wahren in jeglicher Beziehung, daß sie bemüht sind, in gleichmäßiger Weise nicht nur für ihre sittliche und geistige, sondern auch für ihre körperliche Entwickelung zu sorgen! Dazu gehört, daß sie sich selbst so viel wie möglich mit ihnen beschäftigen und durch gutes Beispiel sittlichend und belehrend auf sie einwirken.

Ein großer Fehler in der Erziehung der Jugend unserer Tage ist das Dulden und Geschehenlassen, daß sie mehr sein will, als ihr zukommt. Eine schwere Versündigung an ihrem geistigen wie körperlichen Wohle ist das thörichte und verwerfliche Bestreben der Eltern, sie, so bald es nur angeht, als Herren und Damen erscheinen und sie an Genüssen Theil nehmen zu lassen, welche sie noch nicht würdigen und verstehen können und die nur geeignet sind, sie aufzuregen.

Ich komme jetzt zu einem Capitel, welches ursprünglich die Veranlassung zu diesem Artikel gegeben hat. Es betrifft die Ueberbürdung unserer Jugend auf den höheren Lehranstalten mit Arbeit in ihrem Zusammenhange mit der Entstehung von Geistesstörungen.

Wer meine obigen Auseinandersetzungen mit Aufmerksamkeit verfolgt hat, dem sollte die Erkenntniß nicht schwer fallen, daß, wo überhaupt Schädlichkeiten auf die geistige Gesundheit einwirken, dieselben, wie sie alle möglichen Nervenleiden zu Folge haben, ebenso gut auch wirklich ausgesprochene Formen von Geistesstörung erzeugen können. Daß dies nicht häufiger beobachtet wird, liegt wesentlich in dem Umstande, daß Geistesstörungen verhältnißmäßig selten Kinder und Halberwachsene befallen und ihre Opfer fast ausschließlich sich unter den in der Entwickelung vollendeten Gehirnen suchen. Wenn nun trotzdem die Erscheinungen beginnender psychischer Affectionen unter der Jugend auf den höheren Lehranstalten sich gemehrt haben, so beweist dies, welche Bösartigkeit in dieser Schädlichkeit liegt.

Mehr, als die Irrenärzte, oder ich will lieber sagen als die Irrenanstaltsärzte, vor denen das Publicum eine gewaltige und heilige Scheu hat, deren Besuch sehr häufig im Wahne des Vorurtheils als eine Verdächtigung der Familienehre angesehen wird, sind die gewöhnlichen praktischen Aerzte in der Lage, über die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_008.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)