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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

standen wohlgeordnet auf dem Brett, und der Schreibtisch war sichtlich mit peinlicher Genauigkeit in dem ungeordneten Zustand erhalten worden, in welchem ihn der Oberforstmeister hinterlassen, als er zur Hofjagd gegangen war, von der er nicht zurückkehren sollte.

Ein seltsames Gefühl beschlich den jungen Mann – war es doch, als müsse er noch andere Tritte, als die seinen, in diesen wohnlichen Räumen hören. Die Verwaiste hatte es verstanden, eine Art von Lebensodem verstorbener Lieben um sich festzuhalten. Da nebenan war das Schlafzimmer. Dicht an dem einen Bette stand ein Kinderbettchen, mit bunter Decke belegt, als sei es eben, nachdem ihm der süße Schläfer entnommen, frisch aufgebettet worden. Aus dem Berichte des Sachwalters wußte Herr Markus, daß ein Erbe im Hirschwinkel geboren worden sei, ein Knabe, der aber in zartem Alter gestorben war. Eine Fülle von Zärtlichkeit und tiefer Sehnsucht mußte das Herz der Einsamen bis zum letzten Schlag bewegt haben, aber sie war auch ein starker, gesunder Geist gewesen, der den Lebensrest nicht in der Hingabe an den Schmerz verträumt hatte. Das bewies die „Bücherstube“, deren ganzen geistigen Inhalt die alte Frau in ihrem Kopfe gehabt haben sollte; davon zeugte die anstoßende Kräuterkammer, an deren Wänden sich große Bündel heilbringender Pflanzen hinreihten, welche die Verstorbene unermüdlich im Walde zusammengesucht hatte, um sie in dem kleinen Laboratorium nebenan in Arzneien und Specereien umzuwandeln.

Nach dem Erkerzimmer zurückkehrend, zog Herr Markus im Vorübergehen einen oberen unverschlossenen Kommodenkasten auf. Ein sauber zusammengefaltetes Kantentuch lag darin, und daneben ein großer, grünatlassener Strickbeutel, aus dessen halbzugezogener Oeffnung dürre Pflanzenstengel hervorstärrten. Das waren wohl die letzten Kräuter gewesen, welche die Heimgegangene im todbringenden Zugwinde auf dem Berggipfel gepflückt hatte. Die zusammengerollten Blätter stoben knisternd zu Boden, als der junge Mann den Beutel ergriff und den Bandverschluß aufzog. Dicht neben dem Kräuterwerke machten ein chirurgisches Besteck, ein Essenzfläschchen und ein vielbenutztes Notizbuch den gesammten Inhalt aus.

Mit etwas zaghaftem Finger öffnete Herr Markus die Schließen des kleinen Buches. Hin und wieder lagen getrocknete Pflanzen zwischen den Blättern, und Notizen in vollkommen correctem Latein waren dahinter geschrieben Recepte, Anmerkungen bezüglich der Oekonomie und des Hauswesens, Reflexionen, auch verschiedene Briefanfänge wechselten auf den Blattseiten mit einander ab. Das Buch war offenbar der stete Begleiter der Frau Oberforstmeisterin auf einsamen Wegen gewesen, in welchen sie Alles niedergelegt hatte, was ihr augenblicklich durch den Kopf gegangen war – ein seltsames Merkbüchlein, aus welchem der abgeschiedene Geist in all seinen Spiegelungen, ungeschminkt und unverfälscht sprach, wie es vielleicht kaum Blick und Stimme im Leben gethan.

Der Strickbeutel wurde pietätvoll an seinen Platz zurückgelegt; mit dem Büchlein aber setzte sich Herr Markus in den Erker hinter das Arbeitstischchen der Verstorbenen, um gespannt weiter zu blättern. Was mochten wohl die letzten Gedanken der seltenen Frau gewesen sein, ehe sie sich auf das Sterbebett gelegt hatte? – Eine mit zierlich winzigen Buchstaben bedeckte Seite – und nach ihr kamen die letzten weißen, unberührten Blätter – Es stand da:

„Nach gewissenhaftem Erwägen habe ich mich doch noch entschlossen, zu testiren; nicht bezüglich der gesammten Hinterlassenschaft meines verstorbenen Mannes – Sie wissen ja, daß ich mir darüber das Recht der freien Verfügung nie selbst zugestanden habe, im Gegentheil mich nur als Verwalterin derselben bis zu meinem Tode ansehe. Anders verhält es sich mit dem Vorwerke. Es war das erste Geburtstagsgeschenk meines Verlobten für mich; ich bezog während meines Ehelebens aus dem Ertrage mein Nadelgeld und die Armenunterstützungen, die ich mir gestatten durfte, und habe auch eine kleine Sparsumme, eine Hypothek auf dem Tillröder Gasthofe erübrigt. Darüber kann und will ich mit gutem Gewissen verfügen. Möglich, daß ich früher sterbe, als meine unglückliche Freundin auf dem Vorwerke – in dem Falle würde sie, ohne eine letztwillige Verfügung meinerseits, der schrecklichsten Noth preisgegeben sein. Freilich mit dem Prasser, dem Amtmann, und seiner unbezwinglichen Neigung zum Vergeuden, will ich nichts zu schaffen haben, aber auch der Frau darf ich das Vorwerk nicht zuschreiben lassen, wenn ich nicht will, daß dieser letzte Nothanker sofort in unnütze Dinge und Schlemmereien umgesetzt werde; sie ist zu schwach ihrem Manne gegenüber – ein Blatt im Winde! – Was meinen Sie dazu, wenn ich Agnes Franz, die Nichte, als Erbin einsetze? – Kommen Sie doch in den nächsten Tagen in den Hirschwinkel, Notabene, nicht ohne die gesetzlichen zwei Zeugen!“

Dieser Briefentwurf war jedenfalls an den Rechtsbeistand der Verstorbenen gerichtet. Vielleicht war sie auf ihrem letzten botanischen Streifzug zuerst auf dem Vorwerk eingekehrt, und irgend ein Vorkommniß dort hatte sie veranlaßt, noch unterwegs die Zuschrift an den Advocaten zu entwerfen – die Abschrift hatte der Tod verhindert.

Herr Markus klappte das Buch zu und steckte es sorglich in die Brusttasche. … Das war ja eine merkwürdige Entdeckung, eine ungeahnte Wandlung, die ihm eine Mission aufdrang. ….Sein Gesicht verfinsterte sich in ausgesprochenem Widerwillen. Die selige Frau Oberforßmeisterin hatte nichts mit „dem Prasser, dem Amtmann“, zu schaffen haben wolle – nun denn, ihr Erbe fühlte ebensowenig der Trieb, in irgend eine Beziehung zu der Amtmannsnichte, „dem Gouvernantenfräulein“, zu treten.

Er sah sie schon im Geiste, die wohlgepflegten weißen Hände, die so anmuthig vor Männeraugen zu spielen verstanden; er summirte das Bischen Französisch, einige gewagte Bleistiftcontouren, die Mondscheinsonate und ein Duldergesicht mit kokett niedergeschlagenen Augen – lauter Requisiten, aus welchen sich ein solch oberflächliches Gouvernantenpersönchen in seinen Augen zusammenzusetzen pflegte! … Lange nach dem Tode seiner Mutter hatte sich der Vater noch einmal verheirathet. Aus dieser Ehe war ein Töchterchen da, ein reizendes kleines Mädchen, das der „große“ Bruder vergötterte. Seine Stiefmutter, die seinem Hauswesen vorstand, glaubte ohne eine Stütze in der Erziehung des Wildfanges nicht auskommen zu können, und so war der enge Familienkreis seit vier Jahren durch eine Erzieherin erweitert. Aber schon dreimal in dieser Zeit war man gezwungen gewesen, mit den jungen Damen zu wechseln, weil schließlich stets das Bestreben, selbst Herrin in der Markus’schen Villa zu werden, alle anderen Leistungen weit überflügelt hatte.

Ein grimmer Spott zuckte um seine Lippen. Ei ja – das hätte ihm gefehlt, sich um seiner schönen Häuslichkeit willen heirathen zu lassen! – Unwillkürlich suchte sein Blick das Frauenbild an der Wand – das anziehende Wesen dort hatte mit jener Species nichts gemein. Also nur als die Verwalterin im Hirschwinkel hatte sie sich während ihrer Wittwenzeit angesehen? – Sie hatte das Erbe für den Sohn des mißachteten „Schlossers“ in unentwegtem Rechtsgefühl behütet und gemehrt, ob man auch ihre Hand tiefverletzten Stolzes zurückgestoßen? Ein charaktervolles Weib, eine starke Seele war die zarte, schlanke Lilie gewesen, die aus dem Goldrahmen der blonden Locken in bräutlicher Liebesdemuth zu ihm herübersah – das Herz schwoll ihm in einem wunderlichen Sehnsuchtsgefühl. – „Was – sentimental?“ – Er schüttelte die „närrische“ Anwandlung sofort wie einen Krankheitsstoff von sich.

„Sie haben mich wohl gar nicht gehört, Herr Markus?“ ’ fragte Frau Griebel, die eben eingetreten war und das Kaffeebret auf dem Sophatisch niedergesetzt hatte. „Und mein Porcellan hat doch mehr, als sich gehört, geklirrt und geklappert. … Sie guckten ja aber auch so verbissen da ’nüber an die Wand, als hätten De sich, meiner Treu, in die Selige verliebt.“

Er lachte und stand auf.„Bis über beide Ohren, Frau Griebel! Die wär’s gewesen, gleichviel, ob alt oder jung.“

„I machen Sie doch keine Streiche, Herr Markus!“ – Sie hielt im Abwischen der Tischplatte inne, wandte schwerfällig den Kopf nach ihm zurück und sah fast böse aus. – „Solch ein Spittelweibchen! Von der Ferne sah sie wohl manchmal noch roth und weiß aus wie eine Apfelblüthe, aber runzelig war sie doch wie Backobst – der Krauskopf da war schlohweiß geworden, und commandiren that das schmächtige Frauenzimmerchen zuletzt wie ein General.“


4.

Herr Markus hatte seinen Aufenthalt im Hirschwinkel ursprünglich auf höchstens drei Tage festgesetzt. Er wollte nach der unerläßlich gewordenen Inspicirung des neuen Besitzes eine Tour durch den Thüringer Wald bis nach Franken hinein machen. …

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_023.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2016)