Seite:Die Gartenlaube (1881) 035.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

an die Sage von den Glocken erinnernd, welche die Hexen rauben und durch die Lüfte entführen.

„Wieder beginnt unten im Thale ein Ton, er schwillt stärker und stärker an, aber er zieht nicht das jenseitige Ufer entlang, nein, das Unerhörte geschieht – er kommt auf uns zu; er zieht in prächtiger Schwellung langsam an uns vorüber und entwickelt sich dabei zu solch eigenartiger Schönheit und Fülle, daß ich kaum zu athmen wage; dann schwächt er sich im Weiterziehen langsam ab und erstirbt verhauchend in der Ferne. Mit der wachsenden Intensivität trat mehr und mehr ein immer lebhafter werdendes Vibriren hervor, und was den unerhörten Vorgang noch wunderbarer machte, war ein anfangs leises, dann immer deutlicher werdendes Mitschwingen der obern Octave des in idealster Reinheit dahinwehenden Tones. Und nun die Klangfarbe! Beginnend und verwehend wie schwacher Orgelklang, nahm der Ton mit der Schwellung immer mehr das unnennbar Reizvolle des Harfentones an, und zwar vollzog und steigerte sich diese fremdartige, nie gehörte Klangwandlung gleichzeitig mit dem Auftreten der Octave, die wie feiner zitternder Geigenstrich hinzutrat und namentlich bei dem Weiterziehen des Tones noch von fern deutlich hörbar blieb. ... Der Gesammteindruck bei der Empfindung: es zieht da etwas durch die Luft, etwas Unsichtbares, Unfaßbares, etwas Wesenloses und dennoch Vorhandenes, ist nicht zu beschreiben ... Ganz unverkennbar hingen die Töne vom Winde ab. ... Es gab kurze Unterbrechungen, in denen sowohl das Tönen im Oberthale etwas nachließ als auch durch den Mittelgrund keine Töne zogen, gerade aber dann empfand man, wie das Thal in seiner ganzen Ausdehnung tonerfüllt, wie allenthalben, auch in der Ferne, die zitternd ersterbenden Töne ausklangen, wahrlich: des Pythagoras wundersamer Gesang der Sphären!“

Wir haben sowohl die Beobachtungen selbst, wie die Gemüthseindrücke mit des Verfassers eigenen Worten wiedergeben wollen, da es das erste Mal ist, daß dieses Phänomen von einem gewissenhaften und vorurtheilsfreien Beobachter genau geschildert wurde. Dennoch scheint es an sich nicht allzu selten zu sein, wie schon der Vers andeutet:

Man höret oft im fernen Wald,
Von oben her ein dumpfes Läuten ...

Aber es wird oftmals überhört, und von allen Jagdgenossen hatte es nur noch ein Einziger vernommen, der beim Aufbruche sich Herrn Reuleaux näherte und ihm zurief. „Aber mein Gott, was war denn das in der Luft?“ Die Anderen hatten es wahrscheinlich im Eifer der Jagd völlig überhört. Und doch war das Phänomen an diesem Tage so beständig, daß unser Beobachter es von Neuem vernahm, als er fünf Stunden später seinen früheren Standort wieder betrat. Außer dem von dem Verfasser zum Vergleiche herangezogenen Sospiro del Moro sind mir in der Literatur nun noch mehrere andere Oertlichkeiten aufgestoßen, von denen ganz dasselbe Phänomen berichtet wird. Die älteste mir bekannte Erwähnung finde ich im neunundsechszigsten Capitel des dritten Abschnittes der um 1211 verfaßten „Otia imperiala“ des Gervasius von Tilbury.

„In Großbritannien,“ heißt es daselbst, „ giebt es einen Wald, reich an mannigfachen Jagdthieren, welcher zum Bezirk der Stadt Carlisle gehört. Etwa in dessen Mitte befindet sich ein von Bergen umwandetes Thal neben der großen Straße. In diesem Thale, sage ich, wird täglich zur ersten Stunde des Tages der süße Klang von Glockengeläute (classicum campanarum dulce resonans) vernommen, wonach die Eingeborenen dem einsamen Orte im gallischen Idiom den Namen Laikibrait beigelegt haben.“[1]

Die zweite mir aufgefallene Stelle findet sich in des alten Scheuchzer’s Beschreibung der Alpen,[2] wo es von der Sandalp beim Tödi heißt: „Von dieser sandigen Alp oder Sandalp berichten die Alpenbewohner, daß daselbst zu gewissen Zeiten in der Luft der angenehmste Wettkampf musikalischer Töne (suavissimus sonorum musicorum concertus) gehört würde.“ Das scheint heute noch der Fall zu sein; wenigstens sagt Berlepsch in seinem Reisebuch (ohne Scheuchzer zu erwähnen): „Die Hirten erzählen von einer Sphärenmusik, die sie hier hören.“

Einen dritten ähnlichen Fall berichtet Schleiden in seinem oben erwähnten Aufsatz. Ein Reisender besuchte im Herbst 1828 die Hochpyrenäen und stieg über den wildesten Paß derselben nach Spanien hinüber. „Nachdem wir uns,“ so erzählt der Reisende, dessen Worte ich nicht ohne Grund genau anführe, „durch dichtes Gehölz und Schluchten durchgewunden, gewannen wir morgens gegen zwei Uhr das Hospiz, von wo wir nach kurzer Rast mit dem ersten Tagesgrauen zu dem engen, senkrechten Felsenpaß aufbrachen, der mitten durch das Gestein emporsteigt. Ich will hier nicht die einzigen Züge des herrlichen Schauspiels beschreiben, das sich plötzlich vor unseren Augen aufthat, als wir aus dem mächtigen Portal heraustraten und auf spanischem Boden standen, noch die Empfindungen, welche uns unbeweglich an diesen Fleck fesselten, als wir mit wortloser Bewunderung auf die einsame, öde, wenn ich sagen darf, geisterhafte Gestalt der mit Recht so genannten Maladetta hinüberschauten. Ich führe dieselben blos an, um zu bemerken, daß wir höchst betreten wurden über einen dumpfen, langsamen, klagenden, der Windharfe ähnlichen Ton, der allein durch das todtengleiche Schweigen daherbebte und offenbar von jenen mächtigen Massen ausging, obwohl wir uns vergebens bemühten, irgend einen bestimmten Ort seines Ursprungs oder eine Ursache dieser schauerlichen Töne ausfindig zu machen. Ich will nicht behaupten, daß die Sonnenstrahlen, welche eben in jenem Augenblicke in voller Glorie auf jeden Punkt der schneeigen Höhe sich warfen, irgend einen Antheil gehabt, die Saiten des Berges in Schwingungen zu setzen, muß jedoch bemerken, daß, als ich mich einige Tage später noch einmal allein nach dem Orte begab und zur selben Stunde an demselben Flecke stand, ich vergebens auf die klagenden Töne horchte. Die Luft war ebenso ruhig, aber die Sonne von Wolken bedeckt, und ein dichter Nebelschleier hing über dem größeren Theile des Gebirges.“

Wir sehen, dieser gewissenhafte Beobachter hat an die Memnonssäule gedacht, aber trotz des beim mangelnden Sonnenaufgang ausgebliebenen Tones keinen bestimmten Schluß in dieser Richtung gewagt. Wir haben also nun drei bis vier gleiches Zutrauen verdienende Berichte über analoge Beobachtungen, aus denen wir vielleicht allgemeinere Schlüsse über die Entstehungsweise des merkwürdigen Phänomens ziehen können, als es Herr Reuleaux aus seiner, übrigens mit echt wissenschaftlichem Geist angestellten Einzel-Untersuchung vermochte. Da ähnliche Tonbildungen im Röderbachthal wiederholt beobachtet worden sind, so muß diese Terrainfalte, sagte er sich, eine Bildungseigenthümlichkeit aufweisen, welche die Entstehung solcher Töne begünstigt. Wie ein genaueres Studium ergab, hat nun diese Thalfurche die Gestalt einer sanft gehöhlten Mulde oder Muschel, die sich gegen das niedrigere Land zu einer engen, fast einen Kilometer langen gradlinigen, von ziemlich steilen Wänden begrenzten Schlucht zusammenzieht, durch welche der Röderbach abwärts fließt. Von dem Punkte, an welchem sich diese enge Schlucht plötzlich zu der weitgeöffneten Thalfurche erweitert, kamen, wie Reuleaux deutlich wahrnahm, sämmtliche Töne her; die Schlucht, durch welche der Wind heraufblies, war das stets tonerfüllte Mundstück des singenden Thales.

Wir wollen nun hier zunächst darauf aufmerksam machen, wie genau die Form dieses singenden Thales im Hochwald mit derjenigen der musikalischen Sandalp und des eben geschilderten Pyrenäenpasses übereinstimmt. In allen drei Fällen öffnet sich ein langer Engpaß plötzlich in einem weiten Raum, und die Beschreibung, welche Washington Irving von seinem Ritt zum Sospiro del Moro giebt, läßt eine ähnliche Terrainbildung vermuthen. Noch unmittelbarer schließt sich eine Mittheilung an, die sich in der oben angedeuteten kritiklosen Sammlung ähnlicher Erscheinungen erwähnt findet, die ich aber nicht mit dem Originalbericht vergleichen konnte.

„Eine Abhandlung von Kolb über das Großherzogthum Badens,“ heißt es daselbst, „erzählt, daß gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts mehrere Soldaten, welche im Schwarzwalde, in der Nähe des Städtchen Triberg im Breisgau, lagerten, entzückende Klänge in den Wipfeln der Tannenbäume vernahmen, begleitet von der rauschenden Bewegung des Windes, der durch die enge Thalschlucht gedrängt wurde.“ Wir wissen nun wohl, daß in engen Thalschluchten heulende, seufzende und stöhnende Windtöne ebenso wohl wie in unsern Schornsteinen erzeugt werden, aber wodurch könnten dieselben in so reine, wohllautende Töne verwandelt werden?

In einem Nachworte seiner Schrift sagt Herr Reuleaux,

  1. Ausgabe von Liebrecht. S. 34.
  2. Itinera per Helvetiae alpinas regiones. Lugd. Batav. 1723. T. II., p. 186.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_035.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)