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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

der Volksvertretung, hier um die Wahl zwischen Selbsthülfe und Staatshülfe. Ein genialer, aber in seinem Ehrgeize vereinsamter Streber, Leo Gutmann, will „die Arbeit gegen das Capital organisiren“, und eine Weile hat es den Anschein, als ob der Staat sich seiner bedienen werde, um den Parlamentarismus mit dem Socialismus todtzuschlagen. Aber Leo Gutmann, will sagen Ferdinand Lassalle, wandelt auf Wegen, auf welche er den Geist der Zeit nicht mit sich reißen kann, und wird schließlich das Opfer eines Duells. Der Conflict zwischen Regierung und Volksvertretung endet mit einem Compromiß, der vorläufig jede Entscheidung bis auf Weiteres versagt. Von da zu dem gewaltigen Athemzuge, welchen im Julimonate 1870 die Geschichte that, ist eine schwüle Pause. Verdrossen, mißmuthig, enttäuscht kehrt der Volksgeist den öffentlichen Dingen den Rücken. Ein Krieg ist geführt worden, und es war ein Bruderkrieg. Räthselhaft ist die Zukunft, beängstigend lastet die Gegenwart auf den Gemüthern. In rastloser Arbeit strebt man zu vergessen was war; „Hammer und Amboss“ heißt die Losung. Und als nun endlich die Entscheidung eintrat, als blutigroth die Einheit aus erbarmungslosen Völkerschlachten hervorgegangen, da lacht zwar dem Poeten das Herz über die Erfüllung, und jubelnd klingt ihm das „Allzeit voran“ von den Lippen, aber bald hat er erkannt, daß der heilige Gedanke vaterländischer Wiedergeburt verzerrt und entweiht, mißbraucht und entheiligt zu werden droht von Glücksjägern und Strebern, von Junkern, die Verwaltungsräthe, und von Speculanten, die Cavaliere werden wollen. Und er läßt die „Sturmfluth“ kommen, brausend und mitleidslos, alle Dämme und Deiche, die Menschenwitz aufgerichtet hat, wie Spielzeug zerreißend. Er hat längst die Freude verloren an dem Anblicke des wechselvollen Kampfes, den das Volk gegen die Bureaukratie, der nationale Geist gegen den Moloch des staatlichen Selbsterhaltungstriebes führt. Er ist auf dem Standpunkte angelangt, den der Held seiner ersten Novelle „Auf der Düne“ als den allein erstrebenswerthen bezeichnet, auf dem Standpunkte der Resignation. Was scheert ihn der Monismus, den die Einen, was der Dualismus der Weltanschauung, den die Anderen aufdringlich als die Erlösung von allen Uebeln verkündigen? Was kümmert ihn der Zank zwischen der Naturwissenschaft, die sich alleinherrschend auf den Thron setzen, und der Philosophie, welche von ihm nicht herabsteigen will? Was ihm einst vorgaukelte als beseligender Zukunftstraum, wofür er in kräftigster Manneszeit „In Reih und Glied“ kämpfte, das hat sich kaum halb, jedenfalls anders erfüllt, als er hoffte. Unveränderlich in ihrer Erhabenheit blieb nur die Kunst und unerschöpft seine Lust zu fabuliren. So wandelt er denn wunschlos abseits, auf „Plattland“ seine Gestalten suchend, nach einem weltentlegenen Paradiese forschend, an dessen Eingange die Worte stehen: Qui si sana – hier gesundet man …

So trat mir das Bild von Spielhagen’s dichterischer Persönlichkeit aus seinen Werken entgegen; ich mustere es noch einmal auf dem Wege zur Hohenzollernstraße, wo das Original meiner wartet.

Und aber ein Weilchen sitze ich in dem gewaltigen Arbeitszimmer des Dichters, das auf den ersten Blick voll genialer Unordnung zu sein scheint, aber sich allmählich vor dem Auge in verschiedene Sitzpartien sondert, dort eine, welche von den Bücherkästen, hier eine, die von dem Schreibtische beherrscht wird. Die Nachmittagssonne leuchtet durch die drei hohen Fenster, und malerisch heben sich die Schatten ab von den Gegenständen in dem weiten Gemach. In schräger Linie auf- und niederwärts steigen die Somnenstäubchen; vom nahen Thiergarten klingt Vogelsang und Kinderlachen herüber. Dann tritt der Dichter herein, rasch, fast ungestüm in seinen Bewegungen, ein mittelgroßer schlanker Mann mit länglichem Gesichte, das eine Denkerstirn krönt. Seine Augen, nicht groß, aber beweglich, haben einen Ausdruck, als seien sie stets auf der Suche, vielleicht nach einem Romanstoffe oder einem Blicke der Anerkennung, vielleicht auch nach echten Menschen, so recht einen problematischen Ausdruck.

Und bald ist die Unterhaltung im Gange. Spielhagen ist beredt wie seine Bücher. Wie sie, so spricht auch er mit Schwung und Feuer, gesucht, ohne daß man ihn suchen sieht. Hört man sein helles Organ, vernimmt man seine Meinungen, die aus einer durch und durch idealistischen Weltanschauung herausquellen, so versteht man, warum er allezeit in erster Linie die Jugend begeistert hat und dann die Frauen.

Ich bringe auf sein letztes Buch, aus „Quisisana“, das Gespräch, bemerke, daß zu dem armen Helden desselben, dem Reichstagsabgeordneten Bertram, vielleicht ein bekannter jüngstverstorbener Parlamentarier Modell gesessen habe, bekenne schüchtern, daß dieser jüngste seiner Romane einige todte Stellen enthalte und zwar dort, wo der Dichter allzu umständlich die rein literarischen Anregungen aufdecke, aus welchen anscheinend der Gedanke des ganzen Romans sich entwickelt habe. Daneben betone ich den politischen Zug, der alle seine Bücher charakterisire.

Er hörte mich eine Weile lächelnd an; dann sagte er:

„Todte Stellen, ja, ja. Das haben schon mehrere meiner Freunde eingewendet. Und auch jene Aehnnlichkeit ist ihnen aufgefallen. Berthold Auerbach, dem ich die Arbeit vorlas, fand sie heraus. Was thut’s? Es ist eine lebenswahre Gestalt, und wenn dem hier oder dort widersprochen wird, so ist mir eben dies, daß sie als eine bestimmte Persönlichkeit erkannt wird, der Beweis, daß ich nicht fehlgegriffen. Sie bezeugen es mit den Anderen, daß Sie diesen Bertram schon irgendwo gesehen haben, daß er gelebt hat, leben konnte, und dies ist mir genug.“

Diese Wendung wird fortgesponnen. Der Dichter entwickelt in raschen Sätzen, welche einander fast überstürzen, die Tendenzen die ihn leiten, die Ziele, welche er verfolgt, die Gesetze, die er anerkennt. Er geräth dabei in ein schönes Feuer; ich habe das seltene Schauspiel, die Werkstatt eines Poeten zu sehen, den anmuthigen Genuß, von ihm selbst in ihr herumgeführt zu werden; es ist mir, als beobachtete ich ihn unnmittelbar bei seinem Schaffen. Oswald Stein, Leo Gutmann und all ihr übrigen Gestalten der Spielhagen’schen Muse, ihr schönen Frauen, Melitta und Helene von Granwitz, Sylvia und Eva, Paula, Hedwig und Erna, ich habe euch alle belauscht von eurem erste Athemzuge bis zur Vollendung eures Schicksals; ich weiß nun, wie ihr geworden und warum ihr just so geworden. Und ihr wurdet mir theurer, seitdem ich euer Wachsthum kenne und in eure Seelen hineinschaute mit den Augen eures Schöpfers.

Doch nicht das allein verdanke ich jener Stunde in dem Arbeitszimmer Spielhagen’s. Mir geht auf allen Wegen die Politik nach, und sie verfolgte mich auch bis in die Hohenzollern-Straße am Thiergarten zu Berlin. Ich wollte erfahre, wo in dem Wesen des Dichters jene starken politische Impulse wurzeln, die auf allen Blättern seiner Werke, wenige ausgenommen, so gewaltig zu Tage treten. Und Spielhagen hüllte sich nicht in Schweigen. Seine Bewegungen wurden hastiger, das Spiel der Hände, welches die Rede charakteristisch begleitete, sprach bedeutsam mit, als er den Satz ausführte, daß er durchaus bewußt inmitten seiner Zeit stehe und aus ihr seine Nahrung schöpfe. Ja, es glitt ein Schatten von Wehmuth über sein reges Antlitz, da er im Rückblicke auf die große Romane früherer Jahre ausrief:

„Ich suche und suche, nun schon lange, nach einem entscheidenden Punkte, bei dem ich wiederum diese Zeit zu fassen vermöchte, um von ihr ein breites, umfassendes Gemälde zu entwerfen.“

Dabei fuhr er mit den Armen durch die Luft, als ob er nach Etwas griffe.

„Und ich werde es finden,“ fuhr er zuversichtlich fort, „jetzt, bald, vielleicht später – ich finde es gewiß.“

Ist der Punkt nicht vorhanden? Gleicht der Dichter dem Archimedes, der selbstbewußt sagte: Gebt mir einen Punkt außerhalb der Erde, und ich will sie euch vom Flecke rühren? O nein, der Punkt ist nur verhüllt, und wenn Einer ihn zu erhaschen vermag, so ist es Spielhagen, der eine wundersame Witterung besitzt für die Räthselfragen der Zeit. Heute ist das nationale Leben in Deutschland getrübt, zerrissen; es wird wieder gesunden, und dann, wenn das Kranke sich abscheidet von dem Bestehenswerthen, wird auch der Moment wieder gekommen sein, wo Spielhagen Stoff und Nahrung zu einem großen Zeitbilde findet. Er ist der Mann dazu; denn er war der Erste, welcher die Politik zu einem poetischen Elemente gemacht hat, und vielleicht der Einzige, der es mit unfehlbarer Geschicklichkeit gethan.

Die Schatten wurden länger in dem weiten Gemache. Ich erhob mich, um mich von dem Dichter zu verabschieden. Er streckte mir die Hand entgegen, zog sie aber, wie sich auf Etwas besinnend, zurück.

„Ein Andenken an diese Stunde!“ murmelte er und griff aus einem der Bücherkästen ein zierliches Bändchen heraus, auf dessen Titelseite er mit fliegender Feder ein paar freundliche Worte schrieb.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_068.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)